FAZ: 04.04.2009
Ortstermin: Wiederbegegnung
mit einer Bürgerrechtlerin
Die Gedankenlosigkeit dieses
Landes
Bärbel Bohley war ein
Aushängeschild der
friedlichen Revolution in
der DDR. Jetzt ist sie nach
Berlin zurückgekehrt, in
ihre alte Wohnung, aber
nicht in ihr altes Leben.
Von Ingolf Kern
Es war eine schwere
Heimkehr. Als Bärbel Bohley
nach zwölf Jahren wieder
durch ihr Viertel rund um
die Fehrbelliner Straße in
Berlin-Mitte ging, suchte
sie den Eisenwarenhändler an
der Ecke Veteranenstraße, wo
man bis vor kurzem noch
einzelne Nägel kaufen
konnte, und sie fand ihren
alten Klempner und den
verkramten Tante-Emma-Laden
nicht mehr. Auch die Leute,
die wie sie einst das Leben
als Kunstform beherrschten,
waren fort. Und wo war der
vertraute Umgangston mit den
Nachbarn und dieses
faszinierende Gefühl von
Entschleunigung, das der
Gegend früher den Takt
vorgab? Stattdessen sah sie,
wie die einst kranken
Fassaden inzwischen Pastell
tragen und entdeckte
Geschäfte, in denen mit
Retromöbelträumen gehandelt
wird. Sie hörte viel
Englisch und stieß immer
wieder auf Zitate, die
suggerierten, dass die DDR
das coolste Land der Welt
war.
Die Frau, die die
Wohnungstür im Parterre
öffnet, gehört zu dieser
Straße und wirkt doch
verloren in ihr. Auf ihrer
Fensterbank wachsen immer
noch Kakteen, und man hat
den Eindruck, als wünschte
sie sich, dass daraus eine
Hecke würde, die sie vor der
Zudringlichkeit der
Öffentlichkeit beschützt.
Seit Mai vergangenen Jahres
weiß Bärbel Bohley, dass sie
Lungenkrebs hat. Sie hat in
Bosnien alles stehen und
liegen lassen, um sich zum
ersten Mal um sich selbst zu
kümmern, und ist nach Hause
gefahren. Dorthin, wo sie
ein Leben gelebt hat, "das
für zehn gereicht hätte".
Sie kehrte zurück an den
Ort, wo sie Bürgerrechtlerin
genannt wurde und man immer
noch ihren Mut bewundert.
Dorthin, wo sie sich aber
Mitte der neunziger Jahre
nicht mehr gebraucht fühlte,
weil sie glaubte, dass "in
Deutschland die Weichen
gestellt sind", weshalb sie
auf den Balkan gegangen war.
In den vergangenen Jahren
war dieses Deutschland weit
weg, und das war für sie gut
so. Sie hatte in Bosnien
buchstäblich dafür gesorgt,
dass die Menschen in einem
kriegszerstörten Land wieder
ein Dach über den Kopf
bekommen, fließendes Wasser
und auch Strom. Viertausend
Dächer in anderthalb Jahren!
Sie hat Spenden gesammelt,
damit Schulen wieder
aufgebaut und Vertriebene in
ihrer alten Heimat wieder
wurzeln können. Die Arbeit
hat sie glücklich gemacht,
doch irgendwann spürte sie,
dass ihre Kräfte schwanden.
Bei ihr kam der Protest
unter
Sie sitzt an ihrem
Wohnzimmertisch, zeigt
Berlin-Mitte den Rücken und
sagt: "Mich regt hier dieser
Umgangston auf. In Amerika
sind sie auch schnell, aber
sie schauen nach rechts und
links. Hier ist nur
Geschwindigkeit. Man darf
nicht sagen, dass es einem
nicht gutgeht." Man hört
diese schnodderige Berliner
Stimme, die hinter jeden
Satz sehr dicke Punkte setzt
und Gedanken transportiert,
die oft genug einem Gefühl
entspringen. Manchmal klingt
es einleuchtend, manchmal
kryptisch. Aber es sind
Sätze einer Frau, für die
das Wort Bürgerrechtlerin
wie erfunden wirkt. Und zwar
ohne die Zusätze "frühere"
und "DDR". Man nimmt ihr ab,
dass ihr der kleine Mann
etwas bedeutet. Damals in
Ostdeutschland, später in
Bosnien.
Wir sitzen in ihrer Wohnung,
die vor zwanzig Jahren eine
Art Speakers' Corner der
Protestbewegung war, die
Vielstimmigkeit mit
Wir-Gefühl verband und
keinen ausschloss, der
bereit war, die Dinge
endlich beim Namen zu
nennen. Auf dem Bohleyschen
Fußboden türmten sich die
Papiere von wirklich jedem
Verein, der für das kranke
Land eine Therapie hatte.
Und im Hinterhof haben sie
Pressekonferenzen für das
West-Fernsehen gegeben.
Heute ist diese Wohnung
aufgeräumt und still. Mit
Stuhl und Tisch und Bett und
Bücherregal. Ein Computer
ist hinzugekommen. Über der
Garderobe hängt ihr alter
DDR-Personalausweis wie ein
abgelegter Mantel für die
Altkleidersammlung. Sie
spricht von Freunden, die
jetzt für sie da sind, aber
es sind wohl wenige, die sie
an sich heranlässt. Bärbel
Bohley lässt nicht erkennen,
wie es wirklich um sie
steht. Man sieht ihr an, was
sie hinter sich hat, aber
sie will nur über ihre Rolle
in der Geschichte sprechen.
Dass ihre ganze komische,
weltfremde Sicht auf die
Dinge doch letztlich richtig
war, dass sie immer gesagt
hätte, was sie fühlte.
"Jetzt stellen Sie mal Ihre
Fragen. Es geht Ihnen doch
wohl nicht nur um meine
Gesundheit", befiehlt sie.
Nebenbei gießt sie schwarzen
Tee in kleine braune
Schälchen und stellt
abgepellte Mandeln auf den
Tisch. Vielleicht ist Bärbel
Bohley ohne diese Wohnung
nicht denkbar, weil sie in
ihr das größte Hochgefühl
und tiefste
Niedergeschlagenheit
erlebte. Weil dieses
Künstlerhaus eben eine feste
Adresse für die Unbotmäßigen
war und 1995 sogar
Bundeskanzler Helmut Kohl
sah, der irgendwie
versuchte, die
widerspenstigen
Außerparlamentarier
einzufangen. Es war ihr
Rückzugsraum, als sie
politisch heimatlos wurde,
weil es im Jahr der
Wiedervereinigung nicht mehr
um Emotionen, sondern vor
allem um Listenplätze ging.
Hierher kam sie zurück, als
die Parteien ihre
aufgefüllten Reihen wieder
fest geschlossen hatten und
sie nur noch als Zierrat für
Jahrestage gut war. Sie
weigerte sich, das ABC der
Realpolitik zu lernen, und
zwar aus einem einfachen
Grund: "Weil ich
Ausschussarbeit total
langweilig finde und lieber
mit Menschen arbeite."
Vielleicht aber auch, weil
sie die Frage, welche Partei
es für sie sein sollte,
nicht beantworten konnte.
Wenn sie es recht bedenkt,
wurde sie auch nie gefragt.
Weggehen, Wiederkommen
Ihr Traum war nie,
Politikerin zu werden.
Bärbel Bohley wollte immer
kreativ sein. Als Malerin
hat sie gelernt, Vernunft
abzulegen, um arbeiten zu
können. Angst, sagt sie,
habe sie gehabt. Jens Reich,
der Molekularbiologe, der
mit ihr zusammen das Neue
Forum gründete, aber
erinnert sich: "Bärbel war
damals von einer
wundervollen Gelöstheit,
voll ironischer Distanz
gegen sich selbst und gegen
uns Laienspieler. Wir haben
uns in den politischen
Sitzungen des Neuen Forums
herrlich amüsiert, über uns
selbst und über all die
zahlreichen Wichtigtuer, mit
denen wir zu tun hatten. Es
war sehr, sehr ernst,
zuweilen auch bedrohlich.
Aber es war auch ein
gelöstes Karnevalsfest -
diese Freiheit und
Spontanität, die nur in den
kurzen Wochen der Anarchie
möglich war."
Eine spontane Frau, die
Probleme löst, eines nach
dem anderen. Die DDR
revolutionsreif zu basteln,
das hat ihr Spaß gemacht,
die Arbeit in Bosnien auch,
aber immer, wenn es um
Strategien und Perspektiven
geht, zieht sie sich zurück.
Jens Reich hält sie nicht
für "geeignet für das
politische Tagesgeschäft,
den zähflüssigen Kleinkram,
die dicken Bretter zu
bohren. Wenn sie politisch
einsteigt, dann mit
hundertprozentigem Einsatz
und hohem Anspruch. So ist
sie im rechten Augenblick zu
einer Jeanne d'Arc der
friedlichen Revolution
geworden, hat gerade sehr
viele Frauen angesprochen,
die mitmachen wollten, aber
den Sitzungsalltag
politischer Kleinarbeit
verabscheuten."
Draußen dämmert es, sie
zündet eine Kerze an. Wir
sprechen über Weggehen und
Wiederkommen, über das, was
für sie Heimat ist. Nein,
sagt sie, sie habe mit
dieser Bundesrepublik keinen
Krieg gehabt. Sie hat die
Wahlergebnisse akzeptiert,
auch wenn sie die Tränen
darüber nicht vergessen hat.
"Dass ich mit Skepsis auf
etwas schaue, das wird sich
nicht ändern. Dazu habe ich
zu viel erlebt: erst in der
DDR, dann nach 1989 und
später in Bosnien. Man muss
sich einen Rahmen schaffen.
Für mich ist die zivile
Gesellschaft immer noch ein
hohes Gut, und ich kann
nicht sehen, dass sie in
Deutschland gestärkt wird.
Ich glaube, dass wir daran
arbeiten müssen, oder wir
gehen in Verteilungskämpfen
unter."
Unpolitisch nach westlichem
Maßstab
1945 wurde sie in den
Trümmern von Berlin geboren,
sie hörte dem Vater zu, wenn
der von seinen traumatischen
Kriegserlebnissen erzählte,
sie erlebte, wie der
Kommunismus seine Untertanen
zu ihrem Glück zwingen
wollte. Als die Mauer gebaut
wurde, war sie sechzehn
Jahre alt. Ihr Elternhaus
beschreibt sie als weder
antikommunistisch noch
pro-amerikanisch. Die Devise
lautete: "Gute und schlechte
Menschen gibt es überall, du
musst deinen Weg finden."
Flucht war in der Familie
ein ständiges Thema, aber
Bärbel Bohley blieb.
Stasi-Haft, Überwachung,
Einschüchterungsversuche
konnten ihr nichts anhaben,
getroffen wurde sie erst,
als man sie 1988 für ein
halbes Jahr in den Westen
abschob - "die schlimmste
Zeit meines Lebens", sagt
sie.
Jetzt fühlt sie sich
heimatlos, und zwar vor
allem politisch. Sie wohnt
bei Lukas Beckmann, einem
Urgestein der Grünen, der
sich schon früh für die
ostdeutsche Opposition
interessierte und eine Frau
kennenlernte, "die sehr
politisch denkt, aber eine
sehr unpolitische Sprache
spricht, jedenfalls nach
westlichen Maßstäben". Als
sie mit Beckmann und ihrer
Freundin Petra Kelly eine
Fraktionssitzung der Grünen
besuchte, verließ die Hälfte
der Abgeordneten den Saal.
Bohley & Co. galten hier als
Revisionisten, die das
Geschäft der Rechten
betrieben und sich von denen
missbrauchen ließen. "In den
Aufrufen der
Friedensbewegung war
Solidarität mit Nicaragua,
Kurdistan, Anti-Apartheid
kein Problem. Aber
Solidarnosc, Charta 77 und
Bürgerrechtsbewegung in der
DDR galten in den Augen
vieler Linker als Verräter",
erinnert sich Lukas
Beckmann. Es gelang nicht,
einen Aufruf zu
verabschieden, der die
Unteilbarkeit von Friedens-
und Menschenrechtspolitik
betonte.
Bärbel Bohley wird das nie
vergessen: "Die haben nicht
daran geglaubt, dass sich
die Welt noch mal ändert.
Und wenn ich mir anschaue,
was Frau Künast damals in
ihrer Alternativen Liste in
West-Berlin so abgesondert
hat, da denkt man doch
heute, das sei eine
Untergruppe der SED
gewesen." Dann reibt sie die
Hände aneinander und sagt
nach einem Schweigen: "Wenn
mir in diesem Land etwas auf
den Wecker geht, dann ist es
diese Gedankenlosigkeit,
dieses Vergessen." Ganz hart
sagt sie das, ganz spitz. Es
fehlt noch, dass sie dabei
auf ihren Wohnzimmertisch
haut.
Das Leben hat ihr zu wenig
Zeit gelassen, auch ein
wenig an sich selbst zu
denken. Auf die Frage, ob
sie etwas verpasst habe,
sagt sie: "Klar, ich sitze
hier immer noch im Parterre
ohne Balkon." Doch das ist
das Einzige. Ansonsten sei
sie froh, dass sie immer auf
Menschen gesetzt habe und
nie auf Systeme. Und wenn
jetzt, im Jubiläumsjahr, die
Puppen der Vergangenheit
alle wieder aus der Kiste
geholt werden, ist sie nicht
mit dabei. Sie findet das
alles ziemlich schamlos. Als
neulich Lea Rosh anrief und
sie bat, in ihrem Stück
"Staats-Sicherheiten" in
Potsdam eine
Bürgerrechtlerin zu spielen,
sagte Bärbel Bohley dankend
ab. Das hätte sie auch, wenn
sie nicht krank gewesen
wäre. Jetzt soll sie
spielen, was mal Realität
war? So weit kommt es noch. |