Vortrag in der Universität Augsburg - 21.11.2006
"Über das Ende der DDR -
aus der Perspektive einer Zeitzeugin"
Also guten Tag, liebe Studentinnen und Studenten,
meine Damen und Herren,
so fängt man glaube ich an. Also ich bin etwas müde, ich bin um 4.00 Uhr aufgestanden. Ehe Sie zum Schluss enttäuscht sind, möchte ich Sie gleich enttäuschen, ich habe nämlich keinen Vortrag mit. Bin heute früh aus Bosnien hergekommen und ich dachte, Sie haben so viele in-teressante Vorträge zu dem Thema, dass ich nicht auch noch einen Vortrag mitbringen muss. Ich erzähle einfach was, - ich denke, das können sich Zeitzeugen leisten. Also ich leiste mir das einfach. Ich erzähle Ihnen was von 1989 und der Zeit davor.
Aber ich habe natürlich im Flugzeug gedacht, weil man so gerne ein paar Thesen von mir wollte, mein Gott noch ein paar Thesen, vielleicht findest du noch irgendwas hier schnell für deinen Zettel, - nun ich habe nichts gefunden. Darum habe ich vier Sätze aufgeschrieben, die für mich wichtig waren.
Sie haben sehr viel mit meinem Leben in der DDR zu tun, sie haben auch mit dem Ende der DDR zu tun, sie haben mit der Bürgerbewegung und mit der Zeit danach.
Einer der Sätze, den sicher alle kennen, ist: ›Der Weg ist das Ziel‹. Und dann ein sehr schö-ner Satz von Karl Marx , den ich immer sehr liebte, diesen Satz zumindest, - ich habe nicht allzu viel von Karl Marx gelesen, muss ich sagen, - aber dieser Gedanke ist sehr schön: Man muss die Verhältnisse zum Tanzen bringen. Und ich glaube, das haben wir auch zum Ende der DDR gemacht, wir haben die Verhältnisse in der DDR zum Tanzen gebracht. Und nur weil wir sie zum Tanzen gebracht haben ohne Gewalt ist eigentlich auf wirklich wundersame Weise dieses Wunder geschehen. Was nicht so sehr für mich mit Apokalyptik zu tun hat, das betraf sicher mehr ein paar alte Genossen. Vielleicht haben Sie dann wirklich die Falsche da-zu eingeladen? Für mich beginnt mit 1989 ein wirklicher Aufbruch in die Geschichte. Denn bis '89 haben wir als DDR-Bürger Geschichte kaum mitgestalten können. Wir sind gelebt worden, alles war vorgeschrieben und der Einzelne wurde verplant. Man konnte nur auf den Plan reagieren. Erst nach '89 hatte ich die Freiheit mein Leben selbst zu gestalten und Ent-scheidungen zu treffen. Ich habe mir ausgesucht, wohin ich gehe, was ich mache: Wo will ich politisch aktiv sein? In Bonn oder an der Basis oder in einem anderen Land? Will ich mit Po-litik mein Geld verdienen, mit der Malerei oder was will ich machen? Wo will ich leben? Wie will ich leben? Wo liegen heute die Schwerpunkte für politische Arbeit? Terrorismus, Pazi-fismus, Umwelt? Soziale Gerechtigkeit? Viele dieser Fragen hätte ich sehr gern mit meiner Freundin Petra Kelly diskutiert, deren Stimme ich in der Politik vermisse. Ich weiß nicht ob die jungen Leute sie noch kennen. Für mich ist es schon erstaunlich, wenn ich plötzlich höre, dass die Studenten, die diese Veranstaltung vorbereitet haben, alle '89 erst 9 Jahre alt waren. Dann gibt es eigentlich viel zu erzählen und viel zu reden miteinander. Ich beantworte auch gerne nachher Fragen, weil mir das jetzt wichtiger erscheint als einen seitenlangen Vortrag zu halten.
Ein anderer Gedanke, der für mich besonders wichtig war in Bezug auf die Geschichte der Bürgerbewegung, stammt von Hegel , sehr frei von mir interpretiert: ›Eine Bewegung erweist sich als erfolgreich, indem sie zerfällt‹. Diese Erkenntnis war besonders deshalb tröstend, weil dass das Neue Forum nach 1989 keine bedeutende Rolle mehr in der Politik gespielt hat. Das Neue Forum hat aber den Weg frei gemacht für die Politik und wichtige Zeichen gesetzt. Es ist nicht gestorben, sondern lebt in den Menschen fort, die 1989 seinem Aufruf gefolgt sind. Etliche von ihnen haben ihren Platz in den Parteien oder anderen Orten des gesellschaft-lichen Lebens gefunden. Viele aber sind durch die Alltagsprobleme, die die Auflösung des DDR-Systems und die Wiedervereinigung mit sich brachten vor ganz neue existenzielle Auf-gaben gestellt worden, die sie oft kaum meisterten. Die Zeit in der Bürgerbewegung aber ist unvergessen. Es war die Zeit des Aufbruchs, der Selbstfindung, Selbstbestimmung und der Selbstorganisation. Die Begeisterung und die wunderbare Stimmung werden vermisst.
Wenn man bedenkt, dass viele Träume und Hoffnungen nicht in Erfüllung gingen, sondern später sogar von der Politik als Utopie abgetan wurden - ich möchte an den Satz erinnern, wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat -, dann kann man eigentlich auch noch diesen Satz anfügen: ›Unsere Revolution ist noch nicht zu Ende‹ . Und damit meine ich kei-ne Revolution, die die Machtverhältnisse stürzen will, sondern ich meine eine Revolution, die in uns selbst stattfinden muss. Ihr Ziel muss sein, dass wir als selbst bestimmte Menschen handeln und keine Manipulationsobjekte sind. Das wir nachdenken und uns zutrauen die Welt zu verändern, auch wenn es so aussieht als wären Veränderungen unmöglich.
Bis 1989 hat sich in der DDR eigentlich niemand aus den vielen Frieden- und Menschen-rechtsgruppen Oppositioneller genannt. Das wäre gefährlich gewesen, denn Oppositionelle waren für das DDR-System immer Feinde. Wir wollten die DDR von innen verändern und blieben auch unter DDR-Verhältnissen gesprächsbereit, selbst wenn wir nicht an schnelle Veränderungen des Systems glaubten. Die Gesprächsbereitschaft war einerseits taktisch be-gründet, denn wir fühlten uns nicht als Feinde und wollten auch nicht wie Feinde behandelt werden, andererseits bot sie auch die Möglichkeit unseren Willen zur Gewaltlosigkeit zu demonstrieren.
Ohne die Gewaltlosigkeit - letzten Endes auf beiden Seiten- hätte es den Herbst 1989 so auch nicht gegeben. Trotzdem hat eine Revolution stattgefunden. Für mich sind die Veränderun-gen, die in jedem einzelnen stattgefunden haben genauso wichtig wie die gesellschaftlichen Veränderungen. Vielleicht sogar noch wichtiger. Die Leute sind aus ihrer Erstarrung erwacht und haben angefangen zu sprechen und zu handeln. Viele sind leider wieder in die alte Erstar-rung zurückgefallen, z. T. sogar in Nostalgie versunken oder haben ihre Aktivitäten auf das Gebiet des Geldverdienens verlagert, was ich sehr bedaure. Der betrifft Ost und West glei-chermaßen. Aber das heißt nicht, dass das alles so bleiben wird, wir werden da auch wieder rauskommen, sei es mit einer jüngeren Generation.
Das sind also ein paar Gedanken zu vier Sätzen, die für mich wichtig waren und wichtig sind.
Wenn ich hier etwas zum Ende der DDR etwas sagen soll, ist es natürlich wichtig darauf hin-zuweisen, dass das Ende der DDR nicht erst 1989 angefangen hat. Das fing ja viel, viel früher an. Also ich würde sagen, dass es eigentlich schon 1953 anfing, da war ich 8 Jahre alt. Da gab es den Aufstand am 17. Juni, der ja jahrzehntelang in der Bundesrepublik als Feiertag began-gen wurde, nun leider nicht mehr, seitdem wir wiedervereinigt sind.
Nicht der Aufstand hat das Ende eingeläutet, sondern die Reaktion der Staatsmacht auf dieje-nigen, die auf der Straße protestierten. Viele kamen ins Gefängnis. Tausende verließen das Land, weil sie in der DDR keine Möglichkeit für ein selbst bestimmtes Leben sahen. Nicht nur das bessere Leben im Westen lockte, sondern vor allem die Aussicht auf ein freies Leben.
Also die DDR bewegte sich schon sehr lange auf ihr Ende zu und ganz deutlich wurde das 1987. '87 ist deshalb so ein bedeutsames Jahr, weil damals unser Staatsratsvorsitzender Erich Honecker nach Saarbrücken eingeladen worden ist und auf dem roten Teppich sich mit dem Bundeskanzler getroffen hat und sozusagen eine gewisse Anerkennung der DDR stattgefun-den hat von Seiten der alten Bundesrepublik. In diesem Jahr gab es in der Zionskirche , das war also ein Ort an dem junge Leute eine kleine Untergrundzeitung herausbrachten, an dem es viele Treffen gab und Arbeitskreise zu den verschiedensten Fragen, Umwelt, Familie, Schule, Frieden, Menschenrechte, also zu allem gab es einen kleinen Kreis, und aus dieser Gemeinde sind ein paar Jugendliche verhaftet worden und die Kirche ist sozusagen besetzt worden von den Jugendlichen, die dafür demonstriert haben, dass die verhafteten Jugendlichen freigelas-sen werden.
Zu dieser Zeit wurde besonders deutlich, dass die DDR auf ihr Ende zugeht. Und das war ein-fach ganz was Eigenartiges, das wird für Sie gar nicht erstaunlich sein, aber in der DDR hat man sich rausgehalten aus öffentlicher Solidarität, weil man Angst hatte sozusagen als staats-feindlich eingeordnet zu werden. Und 1987 ist das zum ersten Mal durchbrochen worden: Die Jugendlichen saßen in der Kirche, da kam von nebenan der Bäcker, brachte Brötchen vorbei. Das war früher undenkbar. Da gab es jemand der hatte heißen Tee gebracht, Getränke. Die haben einen kleinen Kanonenofen in die eiskalte Kirche gestellt und ein kleines Feuerchen gemacht für die Jugendlichen. Es gab einfach viel Solidarität von außen. Und wer wie ich in der DDR 40 Jahre bis dahin gelebt hat und dort groß geworden ist wusste, dass sich jetzt et-was ganz Entscheidendes geändert hat. Die Leute begannen ihr Gesicht zu zeigen und damit fängt eigentlich der Untergang von etwas an, was man nicht mehr will, wenn man sein Ge-sicht zeigt. Und das hat sich ja fortgesetzt im Grunde genommen bis '89. Und '89 gab es die-sen Höhepunkt. Und ich glaube, '89 hat schon auch etwas natürlich mit dem Gefühl von Apo-kalyptik zu tun. Die DDR bestand 40 Jahre. Alle hatten das Gefühl mein Gott, wenn das jetzt ewig noch so weitergeht, ist mein Leben vorbei. 40 Jahre ist eine lange Zeit in einem Men-schenleben. Sie erinnern sich, im Sommer '89 sind ja sehr viele Menschen schon über die un-garische Grenze nach dem Westen gegangen und das waren vor allen Dingen die jungen Leu-te. Die Älteren sind in der DDR geblieben, also die Eltern, und die haben sich gesagt, wir werden unsere Kinder auf absehbare Zeit nicht mehr wieder sehen, wenn sich hier nicht etwas ändert. Wir haben im Sommer '89 mit verschiedenen Freunden eine kleine Untergrundzeit-schrift herausgegeben, die nannte sich ›Die Bürger melden sich zu Wort‹ . Sie sollte zum 40. Jahrestag erscheinen und wir haben in diesem Rahmen mit vielen Leuten Interviews geführt und das Interessante war, dass noch im Juni / Juli die Menschen nicht ihren Namen genannt haben. Sie waren bereit solche Interviews zu geben und haben eigentlich die DDR sehr gut analysiert, die Probleme gesehen und wussten, was geändert werden musste. Sie wussten wo's hingehen musste, sie wussten was falsch ist, sie hatten richtige Forderungen, aber sie haben nicht mit ihrer Person dahintergestanden. Das Erstaunliche war, dass durch den Aufruf vom Neuen Forum ›Die Zeit ist reif‹ , in dem eigentlich nur zum Dialog aufgefordert wurde, wir hatten ja kein politisches Programm, soviel in Gang gesetzt wurde. Unser Programm war ja, wir müssten ein Programm entwickeln. Das ist natürlich, wie ich heute weiß, nach ein paar Jahren im vereinten Deutschland doch eine Illusion gewesen. Die Strukturen sind natürlich stärker als der Einzelne und da können wirklich die Leute wunderbare Ideen haben, aber die Strukturen sind doch stärker, leider. Man kann überlegen wie man sie heute zum Tanzen bringt, wäre ja eine neue Aufgabe. Unserem Aufruf damals haben sich innerhalb ganz kurzer Zeit 200.000 Menschen angeschlossen. Und es war eine so verrückte Zeit und ich kann ein-fach nur für mich sagen: In meinem Leben werde ich das nie wieder erleben. Das war einzig-artig. Ich hatte ein bisschen das Gefühl, ist bin von den Musen geküsst worden. Es sprach so-zusagen aus mir. Ich hatte das Gefühl, ich kann eigentlich gar nichts Falsches sagen, Hauptsa-che man sagt das, was man wirklich im Innersten fühlt. Was man lange schon in sich gefühlt hat und was niemand hören wollte, bis auf ein paar Freunde am Küchentisch, in diesen klei-nen Oppositionsgruppen. Die Bevölkerung hat bis zum Herbst 1989 um uns einen ziemlich großen Bogen gemacht. Wir waren eine Provokation. Es bedeutete auch eine Gefährdung für jeden Einzelnen, wenn er sich uns angeschlossen hat. Das konnte bedeuten, dass man in sei-nem Beruf Schwierigkeiten bekam, dass man nicht studieren konnte, dass die Kinder nicht zur Oberschule gehen konnten, und und und. Also gab es doch eher Berührungsängste und die sind '89 in diesem wunderbaren Zusammenspiel von dem, dass viele Jugendliche gesagt ha-ben, wir wollen dieses Land verlassen und weggegangen sind und denen die es eigentlich aufgebaut haben und die dableiben wollten, verschwunden. Auch die haben plötzlich begrif-fen, das ist doch nicht das was wir mal wollten und sie haben das dann auch wirklich laut ge-sagt. Also von Parteigenossen bis zu Leuten, die sich nie öffentlich geäußert haben oder nie-mals einen Mucks von sich gegeben hatten: Plötzlich hatten alle das Gefühl, wir müssen es laut sagen, dass wir so nicht weiterleben wollen. Und ich glaube, dass es eigentlich gar keinen stärkeren Impuls gibt als den, wenn man sagt, so will ich nicht weiterleben. Plötzlich finden sich in diesem Gedanken viele Menschen, die ähnlich denken, die das auch nicht wollen. Dann ist erstmal völlig offen, wohin jeder leben will, in welche Richtung er gehen will. Die Solidarität entwickelt sich in der Ablehnung, wir wollen so nicht weiterleben. Und das machte sehr stark. Das macht wirklich stark und erfüllt dann eigentlich mit großer Hoffnung, dass der Aufbruch geschafft wird, der Aufbruch aus dieser versteinerten und kalten, ja verkleisterten Welt, - also aus allem, was man nicht möchte als Mensch. Wenn man frei sein möchte und sich bewegen möchte, dann war die DDR einfach eine Kette am Bein von jedem Einzelnen. Es gab natürlich viele Leute, die auch ihr Leben in der DDR gelebt haben und Karriere ge-macht haben und für die war vielleicht das Ende der DDR wirklich tragisch. Ich muss sagen, für mich war das überhaupt nicht tragisch und obwohl viele auch meiner Freunde nicht ganz glücklich heute sind, auch nicht mit der Geschichte nach '89, wie schnell alles ging und wie schnell sozusagen diese aufbrechende Bewegung auch wieder erstickt wurde, in neuen Geset-zen, in neuen Strukturen, ohne dass man darüber überhaupt diskutieren konnte, wie wollen wir denn leben, war eigentlich das Ende des Aufbruchs schon wieder da. Und trotzdem - je-denfalls denke ich für die Meisten - ist es einfach so, dass sie die Zeit nicht zurückdrehen wollen. Selbst wenn sie rumjammern, selbst wenn sie unzufrieden sind: Sie wollen einfach diese Zeit nicht zurück haben. Und darin sehe ich eigentlich eine Chance für uns alle jetzt. Was mich immer ein bisschen traurig gemacht hat, das ist dass in dem Wiedervereinigungs-prozess nach '89 dieses Gefühl, was den Osten wirklich so bewegt hat und was soviel Ener-gie auch in sich hatte, dass das eigentlich in dem vereinten Deutschland sehr schnell verges-sen worden ist, sehr schnell untergegangen ist und eigentlich wenig zurückgelassen hat. Viel-leicht sehe ich das auch falsch aus der Entfernung, aber ein bisschen bin ich auch '96 wegge-gangen , weil ich das damals schon sehr schwer ausgehalten habe, dass es sehr viel interes-santer war, Markus Wolf , der uns nun auch leider verlassen hat, auf der Frankfurter Buch-messe zu sehen, wie er seine Kochbücher vorstellt, als sich wirklich mit dem zu beschäftigen, was hinter den Ereignissen von '89 eigentlich stand. Bei mir ist dadurch - glaube ich - eine Hoffnung zurückgeblieben, die ich für mein ganzes Leben behalten werde, dass es keine so erstarrten Verhältnisse gibt, dass daraus nicht auch wieder etwas Neues entstehen kann, dass sich Verhältnisse sehr schnell ändern können: Also für mich ist Nordkorea sicher genauso schrecklich wie für viele andere hier, es ist aber doch nicht etwas, wovor wir Angst haben müssen. Ich glaube, dass in Nordkorea soviel unter dieser kalten Oberfläche nach Mensch-lichkeit ruft, dass die Gegebenheiten plötzlich unerwartet durchbrochen werden können und wir werden uns vielleicht wundern, was sich daraus entwickelt. Das muss nicht mit einer A-tombombe enden, sondern ich denke, man sollte die Hoffnung suchen in den geschichtlichen Ereignissen, die da sind und eigentlich mehr gucken, wo und wie wir selber vielleicht in uns die Apokalypse tragen. Ich habe mich vorhin gerade mit jemand unterhalten über eine Sen-dung, einige von Ihnen werden sie gestern gesehen haben, im Reportbericht, wie in Lörrach Jugendliche auf der Straße einem Mädchen zugerufen haben, das aus dem 21. Stock runter-springen wollte, weil es Selbstmord begehen wollte. Die Jugendlichen standen unten und ha-ben gerufen: spring, spring doch. Und ich muss sagen, das ist für mich mehr Apokalypse. Weil ich da irgendwie Menschen sehe, von denen ich gar nicht mehr glaube oder wo es mir schwerfällt zu glauben, dass sie diesen Funken aufnehmen, der in allen geschichtlichen Ab-läufen steckt. Ob sie jetzt 40 Jahre dauern, wie sie das in der DDR gedauert haben oder ob sie so lange dauern, wie Nordkorea besteht, oder die Sowjetunion bestanden hat. Solange ir-gendwo Menschlichkeit unterdrückt wird, gibt's diese Hoffnung. Aber wenn es Menschlich-keit gar nicht mehr gibt, dann muss man wirklich Angst haben.
Für mich war es 1989 so, dass ich sehr deutlich gesehen habe, dass diese Menschlichkeit bei vielen Menschen einfach noch da war, die waren nicht so kaputt, das waren nicht alle Miel-kes. Und selbst Mielke hat ja noch gerufen: "ich liebe euch alle". Wahrscheinlich hat er es auch ernst gemeint, er hat uns alle geliebt, aber nicht jede Liebe ist eine Liebe. Aber sie war da und deshalb war auch 1989 möglich mit diesen gewaltfreien Veränderungen. Und ich hab' irgendwann mal gesagt, auch die Stasi wollte erlöst sein und das glaube ich ganz sicher. Ich war zweimal in Untersuchungshaft und habe dort in Hohenschönhausen gesessen und ich wusste einfach, wer hier in diesen Räumen arbeitet und noch einen menschlichen Funken in sich hat und sei es nur, dass er seiner Frau zum Hochzeitstag Blumen mit nach Hause bringt, der will hier irgendwann raus: hinter diesen Gitterstäben, in dieser sinnlosen Unterdrü-ckungsmaschine ist alles so unmenschlich, dass selbst die Unterdrücker befreit werden wol-len. Und ich glaube, die Geschichte hat mir eigentlich auch Recht gegeben, es gab ja eine große Demonstration in der Hauptverwaltung der Staatssicherheit in der Normannenstraße hinter verschlossenen Türen am 21. November war die, glaube ich. Ja, heute vielleicht, ja heu-te am 21. November 1989, da liefen die Stasimitarbeiter hinter den verschlossenen Türen der Hauptverwaltung in der Normannenstraße rum und forderten ihre Oberen auf, doch irgendwie eine andere Politik einzuschlagen, so könnte es doch nicht weitergehen. Und ich finde, das ist einfach ein gutes Beispiel dafür, dass es überall immer Leute gibt, die die Unmenschlichkeit eigentlich auch nicht aushalten. Und wenn man sozusagen sich nicht den Weg verbaut in dem man Barrikaden errichtet, sondern sich mit denen verbündet, dann kann man schon eine ganze Menge erreichen. Und das haben wir '89 erreicht. Und jetzt beantworte ich gerne ein paar Fragen, wenn Sie möchten.
Scheule: Ja, Frau Bohley, vielen herzlichen Dank, wir sind natürlich der Meinung, dass wir genau die Richtige eingeladen haben und es wäre sicher nicht so spannend gewesen, hier ei-nen alten Genossen stehen zu haben, der uns sozusagen ...
Bohley: das sagen Sie mal nicht, wenn die aus dem Nähkästchen plaudern, dass hätte ich manchmal gerne ...
Scheule: ... so gesehen, aber es ist uns natürlich lieber, wenn Sie uns Auskunft hier geben über Ihre Perspektive, über diese Apokalypse der Erstarrung, die ja dann wohl in der zweiten Hälf-te der 80er Jahre dort stattgefunden hat und diese zauberhafte Wende der Monate 1989.
Ich würde Sie jetzt einfach um Ihre Fragen, um Ihre Statements bitten, dem guten alten IDT-Brauch folgend students first würde zunächst einmal die jugendlichen Hörerinnen und Hörer unter Ihnen, die Studenten, um Ihre Fragen und Bemerkungen bitten, bevor dann die Ple-numsdiskussion ganz geöffnet wird.
Bohley: Ich wollte vielleicht noch mal sagen, damit ich Ihnen ein bisschen Mut mache, Sie können ruhig fragen, wie Sie wollen und was Sie wollen, aber diese Zeit '89, die war ja eine total heitere Zeit. Wir haben ja soviel gelacht, wirklich, Jens Reich , der sicher auch von vie-len gekannt wird, hat sich immer so glücklich die Hände gerieben. Wenn wir abends bei mir im Atelier immer gesessen haben, Pläne geschmiedet haben, was machen wir morgen, wie geht's weiter, was machen wir ... ha, ha, ha. Alle haben sich gefreut, dass irgendwas losgeht und wir haben wirklich gelacht und waren total glücklich. Und ich muss sagen, wir hatten alle das Gefühl glaube ich, das ist sozusagen die letzte Minute, wenn es uns jetzt nicht gelingt, hier etwas in Bewegung zu setzen, dann dauert es noch viele Jahre so, dann geht es so weiter. Und dass wir es sozusagen geschafft haben, diesen letzten Tropfen zu setzen mit Spaß, mit Freude, ohne Hass und gewaltfrei, das ist eigentlich ein großes Verdienst von uns, dass uns das gelungen ist. Aber wir haben uns nicht drum bemüht, es war einfach da. Es war so was, wie ein göttlicher Funke, der hat uns irgendwie begleitet.
Student: Sie hatten ja gesagt, sie waren zweimal im Gefängnis. Könnten Sie sagen warum und was für ein Gefühl dabei war, ob das nicht auch so eine Art Weltuntergang für Sie war?
Bohley: Ja, also ich war zweimal im Gefängnis, einmal 1983 sechs Wochen. Das war als der Nato-Doppelbeschluss in der Bundesrepublik verabschiedet wurde. Wir hatten eine Frauen-gruppe gegründet, Frauen für den Frieden, weil es ein neues Wehrdienstgesetz in der DDR geben sollte, wonach Frauen auch zum Wehrdienst einberufen werden konnten. Und ich war Pazifistin, ich wusste einfach, dass ich da nicht hingehen würde. Seitdem ich in Bosnien und Kroatien bin, denke ich ein bisschen anders über Pazifismus, das muss ich sagen, - aber das ist ein anderes Thema. Aber damals, ich war totale Pazifistin, und ich war also der Meinung, ich würde das nie mitmachen und es gab andere Frauen, die der gleichen Meinung waren und wir haben deshalb eine Frauengruppe gegründet. In dieser Zeit habe ich auch Kontakt gefun-den zu Petra Kelly, sie war ja Mitbegründerin der Grünen und saß als Abgeordnete im Bun-destag. In Westberlin fand damals eine Konferenz der Grünen statt. Ein paar Grüne, unter ih-nen auch Petra Kelly hatten sich auf dem Alex angekettet mit der Forderung nach Einhal-tung von Menschenrechten in der DDR, und daraufhin hatte Erich Honecker sie eingeladen und ich habe ihr über einen Journalisten einen Brief zukommen lassen, wenn sie Erich Hone-cker besucht, kann sie auch unsere Frauengruppe besuchen. Und das hat auch diese grüne De-legation gemacht. Und von da ab war ich mit Petra schon sehr befreundet und sie hat sehr, sehr viel für uns getan, wirklich. Und dann gab's den Nato-Doppelbeschluss und das hieß für die DDR, so jetzt können wir alle Freundschaftsfäden kappen und jetzt soll mal die Kelly da bleiben und die Frauengruppe bleibt im Osten und jetzt werden wir mal zeigen, was hier los ist. Und da wurden Ulrike Poppe und ich, wir waren zwei Frauen aus dieser Gruppe, verhaf-tet. Ich muss sagen, das war eigentlich irgendwie nicht so dramatisch für mich, - es war schon, ich will es nicht runterspielen, es war schon auch dramatisch, aber nicht so dramatisch - weil ich irgendwie schon das Gefühl hatte, da muss man jetzt auch durch, das gehört dazu. Also ich habe diese Frauengruppe mitgegründet und Kontakte zu den Grünen, westlichen Journalisten und Politikern gehabt. Für solche Kontakte konnte man nach DDR-Gesetzen bis zu 12 Jahren Haft verurteilt werden, wenn die Kontakte von der Staatssicherheit negativ, das hieß "staatsfeindlich" ausgelegt wurden, - also ich war von meiner Verhaftung nicht über-rascht, weil ich die Konsequenzen vorher kannte. Und ich bin dann nach 6 Wochen raus ge-kommen aufgrund internationaler Proteste, wo also Petra Kelly wirklich sehr, sehr viel für uns getan und organisiert hat.
Und dann bin ich noch mal 1988 verhaftet worden im Zusammenhang mit dieser Rosa-Luxemburg-Demonstration. Diese Demonstration fand jedes Jahr in der DDR statt zu Ehren von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, die ja beide ermordet wurden, und es war eine staatliche Demonstration. 1988 beteiligten sich an dieser Demonstration viele Ausreisean-tragsteller, also Leute die die DDR verlassen wollten, unter einem Zitat Rosa Luxemburgs, " die Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden". Aber ich habe an dieser Demonst-ration nicht teilgenommen, allerdings sind auf dieser Demonstration 120 Ausreiseantragsteller verhaftet worden und zu mir sind dann Angehörige gekommen und haben gesagt, wir vermis-sen die und was können wir machen, wir wissen überhaupt nicht, was los ist. Ich habe dann mit dem Konsistorium, mit Herrn Stolpe , abgesprochen, dass ich bei mir so eine Art Kon-takttelefon einrichte zu Hause und die Leute mich anrufen können und ich die Namen derje-nigen, die ihre Verwandten vermissen, an den anderen IM , nämlich den Herrn Schnur , weitergebe, der Rechtsanwalt war, der sollte sich dann um diese Menschen bemühen. Außer-dem habe ich diese Information auch an Westkorrespondenten weitergegeben. Nach 10 Tagen bin ich dann selbst verhaftet worden, nicht weil ich daran teilgenommen habe, sondern weil ich mich für die Leute eingesetzt habe. Ich war nicht bei der Demonstration. Und da muss ich sagen, habe ich ein bisschen Todesangst gehabt, weil ich dachte, das passiert nicht noch ein-mal, dass die mich einfach wie beim ersten Mal hier rauslassen. Es war mir klar, dass die DDR keinen politischen Prozess zu dieser Zeit wollte. Mir war auch klar, dass es irgendwel-che Auseinandersetzung geben musste zwischen zwei Gruppierungen, innerhalb der Stasi und innerhalb der Partei. Die einen wollten uns los sein und in den Westen abschieben und die an-deren hielten unsere Verhaftung für einen Fehler. Und keiner wusste so richtig, wie er mit uns umgehen sollte. Und deshalb habe ich dann auch diesen Reisepass erhalten: Ich bin ja mit dem DDR-Pass ausgereist, also das war ja das Absurde. Wir saßen in Hohenschönhausen, kein Mensch in der DDR bekam so leicht einen DDR-Reisepass und wir haben dann in Ho-henschönhausen, im Stasi-Knast, einen DDR-Reisepass bekommen und sind mit einem Stasi-auto nach Magdeburg gefahren worden. Um Mitternacht, also Werner Fischer und mein Sohn, der mich begleitet hat dann, wir waren die letzten, alle anderen waren schon weg, die richtige Ausreiseanträge gestellt hatten - das war eine ganze Gruppe von Leuten -, aber wir, Werner Fischer und ich, wir hatten keinen Ausreiseantrag gestellt: Wir haben gesagt, wir fah-ren nur in den Westen, wenn wir einen Pass bekommen und nach einem halben Jahr zurück-kehren können, und den haben sie uns tatsächlich gegeben. Das bedeutete, dass wir immer noch DDR-Bürger waren. Aber damals da hatte ich allerdings Angst: Das muss man sich vor-stellen, - ich weiß nicht, ob mal jemand von ihnen in Hohenschönhausen war, ob mal jemand diese Haftanstalt besucht hat, die ist ja jetzt eine Gedenkstätte Hohenschönhausen. Da gibt es auch Führungen, man kann da also hin und kann sich das ansehen. Ich saß dort in einer Ein-zelzelle und man war isoliert, man sah ja niemanden, ich bin aber immer zu den Gesprächen mit den Rechtsanwälten gebracht worden. Ich hatte zwei "wunderbare" Rechtsanwälte, das war Herr Gysi und es war Herr Schnur, also ich war bestens abgesichert nach allen Seiten. Und zu diesen Rechtsanwälten wurde man in die Magdalenenstraße gefahren, das ist eine an-dere Haftanstalt in der Nähe der Frankfurter Allee und von Weißensee bis dorthin saß man in so einem Kastenauto: Das war also wie eine kleine winzige Telefonzelle, aber viel kleiner, man konnte sich nicht bewegen im Dunkeln. Und dann hielt dieser Wagen manchmal irgend-wo eine Viertelstunde oder vielleicht waren es auch nur Minuten, mir kam es unendlich vor. Und da habe ich gedacht, vielleicht schubsen sie dich in den Weißenseer See, ein kleiner Au-tounfall oder irgendetwas passiert. Ja, diese Gefühle hatte ich und die haben mich letzten En-des auch dazu bewogen, diesen Reisepass anzunehmen und damit nach dem Westen zu fah-ren. Angst, wirkliche Angst! Aber ich wollte wieder zurück, und ich bin auch zurückgekom-men.
Studentin: Wie stark sind Ost und West seit '89 zusammengewachsen und gibt es ein ent-scheidendes Kriterium das vielleicht noch fehlt, dass man sagen könnte, jetzt ist das Zusam-menwachsen wirklich fest oder gut.
Bohley: Oh mein Gott, ich bin ja nicht so biologisch veranlagt, mit dem Zusammenwachsen, - ich weiß nicht.
Scheule: Falsche Metapher?
Bohley: Ja, ich denke. Ja, ich glaube wir werden uns wirklich Eins fühlen, wenn wir vielmehr gemeinsame Probleme haben. Bis jetzt werden die Probleme immer so auseinander dividiert. Ja, also Ostprobleme, Westprobleme, - das machen ja auch gerne die Politiker und ich finde wir, die Bürger, die Menschen müssen jetzt erstmal die gemeinsamen Probleme definieren, die wir haben in Deutschland. Das macht keiner für uns. Es lässt sich immer besser regieren, wenn man auseinanderdividiert. Aber wir müssen die eigentlichen Probleme definieren und die gibt's ja auch schon: Da wäre z.B. diese Kälte, von der ich vorhin erzählt habe, die ich da gestern im Fernsehen gesehen habe. Dass sind nicht nur irgendwelche Rechten aus Berlin Hohenschönhausen, Marzahn oder so, sondern die gibt's in Lörrach, wo die Arbeitslosenzahl gar nicht so hoch ist. Also auf die sozialen Probleme alleine kann man es nicht schieben oder wie sehen womöglich die sozialen Probleme aus: Es müssen ja nicht immer Geldprobleme sein. Also wenn man diese gemeinsame Sicht mehr entwickeln würde, so weit sind wir noch gar nicht. Es herrscht immer ein getrenntes Denken vor. Ja ich bin weit weg, aber ich sehe die Verhältnisse vielleicht irgendwie ein bisschen wie durch die Lupe: Z.B. der Rechtsstaat jetzt, ich bin ja immer dafür gerügt worden, dass ich Gerechtigkeit wollte und mit dem Rechtsstaat ein bisschen unzufrieden war, aber ich muss sagen, ich halte daran fest, Gerechtigkeit und Rechtsstaat ist was völlig unterschiedliches. Aber ich glaube wir müssen nach Gerechtigkeit streben und können uns nicht damit zufrieden geben, dass wir den Rechtsstaat haben. Ich fin-de so viele Ungerechtigkeiten auf Grundlage des Rechtsstaates und das ist für mich auch ein gemeinsames Problem. Man muss diesen Rechtsstaat verteidigen, aber vielleicht auch in eine andere Richtung entwickeln. Jetzt sehe ich manchmal Sachen, wo ich einfach sagen muss, mein Gott, verdammt noch mal, das erinnert mich ganz schön an die DDR. Z. B. bestimmte Urteile, die gerade auf dem Gebiet der Meinungsfreiheit gefällt werden. Da denke ich dann wirklich, man kann auch die Leute anders zum Schweigen als mit der Stasi bringen. Einfach indem man ihnen extrem hohe Geldstrafen aufbrummt.
Ich meine, Sie sind alle junge Leute, ich bin wirklich ziemlich blöd, was Technik anbelangt, aber da ich Internet brauche in Kroatien, habe ich mich da so ein bisschen reingefummelt und krieg natürlich auch die Probleme mit, die jetzt gerade in Bezug auf neue Rechtssprechung mit Internetaufträgen virulent werden: Jugendliche laden sich ein Bild runter und kriegen dann plötzlich eine Aufforderung da ein paar tausend Euro zu bezahlen an irgendeinen Notar, an irgendwelche Hinterbliebenen oder an irgendjemand, der sich hat abfotografieren lassen und dann ins Internet gestellt wird. Also ich finde das schamlos und ich kann einfach nur sa-gen, das müssen die Jungen machen. Ich kapier vom Internet nicht viel, aber dass es eine Schweinerei ist, das kapier ich. Und das sind doch gemeinsame Probleme, das betrifft Ost- und Westjugendliche gleich, die ganze junge Generation gleichermaßen. Das Internet ist eine Möglichkeit, sich demokratisch zu verhalten, etwas zu entwickeln, zu diskutieren und sich zu äußern, und wenn die Leute plötzlich Angst bekommen, auf so einem wichtigen Gebiet, dann ist das ...
Scheule: Nun ja, aber das Eigentumsrecht, Urheberrecht, wo sie ja als Künstlerin ...
Bohley: ... ich gehe nicht ins Internet, wenn jemand mich nicht abkupfern darf. Ich finde es eine Sauerei, wenn sich Leute nur Anwälte nehmen, weil sie abzocken wollen wenn sich je-mand ein Bild oder einen Text runtergeladen hat. Das muss man bestrafen. Das Internet ist ein demokratisches Medium für mich und die Meinungsfreiheit muss einfach geschützt werden. Es gibt viele solcher Beispiele: Ich habe mich z.B. sehr aufgeregt über das Urteil in Bezug auf Schröder und Westerwelle. Westerwelle darf nicht mehr wiederholen, dass Schröder im Rah-men seiner Amtszeit nicht diese Verträge hätte abschließen dürfen. Insbesondere darf die Aussage deshalb nicht wiederholt werden, weil Westerwelle das in der Burda-Zeitung gesagt hat, und der Burda-Leser einfach nicht gebildet genug ist, um die komplizierten Zusammen-hänge zu begreifen - meinen Vertreter des Rechtsstaates. Dann bekomme ich das Gefühl, es wird schon wieder irgendwo eine Institution eingerichtet - der vormundschaftliche Staat lässt grüßen -, die entscheidet, wer gebildet ist und wer nicht. Außerdem regt es mich auf, dass Westerwelle als Jurist nicht bis zum Schluss kämpft, sondern Halt macht und sagt, ›ich hab ja eigentlich recht, aber ich höre auf bis ans Ende zu gehen und werde nicht auf mein Recht be-stehen.‹. Juristen haben meiner Meinung nach und die Politiker erst recht, die Pflicht solche Konflikte wirklich auszutragen im Sinne von Meinungsfreiheit, im Sinne von Gerechtigkeit, im Sinne von Rechtsstaatlichkeit. Und das sind gemeinsame Probleme, die wir in Deutschland jetzt haben. Da gibt es noch viele, viele andere. Ich meine Gammelfleisch war ja auch in Ost und West gleichermaßen ein Problem.
Scheule: Gemeinsamer Problemdruck als Einheitsgenerator sozusagen?
Bohley: Nicht nur Problemdruck, auch das was wir wollen muss uns - im Dialog oder im Handeln -verbinden, Aber in diesem Fall ist die Meinungsfreiheit bedroht, und ich denke dann müssen wir uns gemeinsam dagegen wehren.
Student: Frau Bohley, wie kamen Sie in Ihrer Lebensgeschichte dazu initiativ zu werden und sich für Bürger- und Menschenrechte in der DDR stark zu machen und was hat Ihnen über die Jahre hinweg die Kraft gegeben?
Bohley: Ja, weiß ich auch nicht, vielleicht weil ich so ein Kind von 1945 bin, in Berlin groß geworden, weil ich zwischen den Fronten groß geworden bin, ich hab schon grade gesagt, mein Vater war Katholik, meine Mutter Protestantin - vielleicht in Augsburg gerade ein inte-ressanter Aspekt -, am meisten hat mich schon beeindruckt, was ich alles gehört habe als Kind von der Zeit vor 45. Ja, das war glaube ich sehr, sehr wichtig für mein Leben und dann, weiß nicht ... Ich hatte eigentlich immer, - aber das trifft eigentlich auf viele zu, die 1989 auf die Veränderung mitgewirkt haben, das finde ich eigentlich sehr interessant - also der Wunsch nach Freiheit war größer, viel größer als der Wunsch nach Macht. Also ich wollte nie Frau Honecker werden, niemals, niemals wollte ich in so einem Staatsratsgremium drinsitzen, ich wollte gerne so leben, wie ich wollte und ich wollte gerne, dass mein Sohn so leben kann und meine Freunde und dass alle Menschen so leben können, das war eigentlich mein An-trieb. Und es hat vielleicht auch mit der Kunst zu tun, es gibt viele Argumente oder Gründe.
Student: Frau Bohley, wie schaut denn vor 1989, vor der Wiedervereinigung Ihre Vorstellung von der Zukunft aus, was war denn die Neugierde und der Impetus für Sie?
Bohley: Ich hatte eigentlich nur einen Wunsch, dass die Menschen wirklich selbst entscheiden was sie wollen. Und diese Entscheidung haben sie eigentlich 1989 nicht richtig treffen kön-nen. Sie haben sich für etwas entschieden, was sie nicht kannten. Und ich glaube, das ist eini-gen schon auf die Füße gefallen. Und ich muss noch mal sagen, das Neue Forum hat ja weder die Abschaffung der DDR, noch die Wiedervereinigung gefordert, das stand gar nicht auf dem Tapet. Also, ich kann mich erinnern in meinem Atelier z. B., ich hatte einen riesig langen Tisch, da standen die Papiere vom Neuen Forum, denn kam die SPD - es waren drei Hansel, die die SPD damals gegründet haben -, da kam einer, ›kannst Du nicht einmal unser Papier verteilen‹, - ›ja leg mal dahin‹. Dann kamen die Grünen, das waren auch nur ganz wenige, al-so alle Gruppen und Parteien, die entstanden sind gerade im Herbst 1989 kamen mit ihren Pa-pieren. Für mich, nicht nur für mich, für viele Leute aus dem Neuen Forum, gerade unseren Gründungskreis war wichtig, dass die Leute sich entscheiden, dass die Leute sagen ich gehe in die SPD; die sollten nicht alle ins Neue Forum, um Gottes Willen, es waren schon eh' so viele. Mein Himmel wäre gewesen, wenn diese Zeit etwas länger gedauert hätte, um das raus-zufinden, was man wirklich will. Und das war doch eine kurze Zeit, wir haben auch große Fehler gemacht, die Bürgerbewegung auch. Das sieht man aber auch natürlich erst viel später. Ich meine, wir hätten ehrlich gesagt, nach Bonn fahren sollen und hätten zu Helmut Kohl sagen sollen: Jetzt reden Sie mal mit uns und nicht mit Herrn Diestel und nicht mit Herrn Modrow und nicht mit Herrn Krause, wer sind denn die? Aber auch wir waren irgendwie eng im Kopf, wie man sehen kann.
Frage aus dem Publikum: Ich möchte im Zusammenhang mit dem sog. Mauerfall, in Wirk-lichkeit war das wohl Herr Schabowski , hier etwas besprechen, - der Name ist hier ja sicher bekannt. Das war wohl der Mann, der im Fernsehen gesagt hat, jetzt ist die Mauer auf. Ich ha-be ihn dann nach diesen Begebenheiten etwas gefragt: Ich habe in diesem Zusammenhang erwähnt, dass eigentlich gewisse Leute aus der damaligen Regierung der DDR bereit waren, ein Blutbad zu machen, aber wortwörtlich ›die Promis‹ - ich vermute da in Moskau - wollten da nicht mitmachen. Und da wir ja nun gerade hier ein bisschen was mit Apokalypse zu tun haben, habe ich ihn dann gefragt, ob er irgendwie wüsste, dass z. B. in der Offenbarung etwas geschrieben steht im Kap. 21 über das Reich Gottes und ob das vielleicht als Lösung für ihn denkbar wäre, nämlich als Lösung der Probleme, die er vielleicht als Kommunist gesehen hat, oder die man auch im sog. Kapitalismus sehen kann? Die Lösung wäre dieses Reich Gottes, von dem Christen im Vaterunser sagen ›Dein Reich komme‹. Dazu hatte er keine besondere Meinung, schließlich wurde er dann, wie soll ich sagen, fast aggressiv. Und nun würde ich gerne von Ihnen wissen, wie die Beziehung dieser Menschen, die da im politischen Bereich tätig waren und ja Kommunisten waren, zu den Menschen war, die eine gewisse Kenntnis hat-ten über die Bibel und die darin stehenden Dinge?
Bohley: Ich habe Ihre Frage nicht verstanden, Entschuldigung.
Sprecher aus dem Publikum: Wie war konkret die Beziehung der Regierenden zu Leuten, die Kenntnis der Bibel hatten und die Vater-unser-Bitte ›Dein Reich komme‹ möglicherweise auch politisch verstanden haben?
Bohley: Ja, das kann ich Ihnen nicht sagen, ich habe mit den Regierenden fast nie, eigentlich nie etwas zu tun gehabt. Gar nichts habe ich mit denen zu tun gehabt bis '89 und danach ha-ben die ja alles gesagt. Also das weiß ich nicht, was die für eine Beziehung zur Bibel hatten oder ob die Leute kannten, die zur Bibel ein Verhältnis hatten, das weiß ich nicht.
Scheule: Wenn man es vielleicht so umformuliert: Können Sie sich vorstellen, dass die Ge-nossen irritiert waren von diesen vielen Christen, die auf einmal - ja kurzzeitig zumindest - an das Licht der Öffentlichkeit traten und politische Verantwortung für sich reklamiert haben. War das eine Spezies, die vorher schon bekannt war?
Bohley: Also ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen, das ist natürlich ein Irrtum, zu glauben, dass es alles Christen waren '89.
Scheule: Ja, das ist vollkommen richtig, aber es waren doch auch Christen. Wenn man an Markus Meckel denkt und an andere Pfarrer, die sozusagen dann von einem Tag auf den an-deren in politische Verantwortung geraten.
Bohley: Ja, also im Grunde genommen bestand das Handicap der DDR-Opposition darin, dass sie viel zu lange unter dem Dach der Kirche agiert hat und nicht viel früher gesagt hat, wir gehen jetzt hier raus, die Kirche ist ein Schutzraum, aber die DDR-Gesellschaft war viel zu atheistisch, als dass die Leute in die Kirche gegangen wären, um mit der Opposition was zu tun gehabt zu haben. Die Opposition oder besser die Bürgerbewegung im Herbst '89 war kun-terbunt. Da gab es Genossen dabei, gerade Junge, die irgendwie noch die DDR noch retten wollten, da gab es Alte, die enttäuscht waren von ihrem Leben, da gab es alte Leute, welche noch aus der SPD waren, da gab es Parteilose, da gab es Christen, da gab es alle möglichen. Eins muss man allerdings sagen, Leute, die mit der Kirche mehr zu tun hatten oder auch die Pfarrer, die hatten natürlich auch das Sprechen gelernt während ihres Studiums, was der Rest der DDR-Bevölkerung ziemlich mühsam erst lernen musste. Die konnten das sehr schnell ab-passen und rüberbringen, was gemeint war. Aber sonst war das eine ganz, ganz bunte Gesell-schaft.
Scheule: Ein bunter Haufen?
Bohley: Es war das Volk. Das muss man einfach so sagen, dazu gehörte alles: Männer, Frau-en, Junge, Alte, Intellektuelle, Arbeiter, alle.
Studentin: Also, sie haben vorhin davon gesprochen, dass die Leute anders leben wollten. Jetzt wollte ich fragen, ob die Leute jetzt auch wirklich anders leben. Ich meine, wenn man in die DDR fährt, hört man oft, dass es früher viel schöner war ... Und als zweites wollte ich the-senhaft formuliert fragen, kam der Mauerfall zu früh?
Bohley: Also ich fang mal mit dem Letzten an: Ich glaube, er ist zu früh gekommen, er hätte erkämpft werden müssen. Ja, das Ergebnis ist total in Ordnung, aber ein bisschen hätten die Leute richtig schieben müssen. Und nicht dass plötzlich die Mauer fällt und alles steht platt da. Ja, das ist das eine. Dieses apokalyptische Gefühl, das war schon da, aber das war in je-dem Einzelnen da. Es hat wirklich keiner geglaubt, dass die Mauer fällt. Es hat nur jeder ge-wusst, so geht das eigentlich nicht weiter. Es ist erstarrt, es ist Bewegungsunlust, es gibt keine Perspektive, es gibt keinen Sinn, es wird langsam sinnentleert, vor allem dadurch, dass so vie-le junge Leute über Ungarn weggegangen sind, es war die junge Generation. Sehr viele Men-schen hatten für sich das Gefühl, ich bin am Ende. Ja, dieser Staat existiert wahrscheinlich noch wie eine Hülle, aber ich persönlich habe nicht mehr die Kraft noch weiter in ihm zu le-ben. Entweder der Staat ändert sich oder ich gehe kaputt. Und aus diesem Gefühl und aus die-ser Erkenntnis ist dann auch die Kraft gewachsen, über sich hinaus zu gehen und ganz egal, ob die jetzt schießen oder nicht, wir laufen hier mit unseren Kerzen rum und signalisieren keine Gewalt, aber wir wollen auch so nicht weitermachen. Also, es war schon großartig!
Studentin: Es ist ja immer davon die Rede, dass die Bürger der DDR sich eingesperrt gefühlt hätten. Ging es da nur um die Reisemöglichkeiten oder was meinen Sie, wenn sie vom Gefühl des Eingesperrtseins sprechen?
Bohley: Das eingesperrt sein in die politischen Verhältnisse und in sich selber eigentlich. Der Mensch ist nur ein Mensch, wenn er redet und wenn er sich öffnet und wenn er in den Dialog treten kann. Wenn er immer Schweigen muss, dann verliert er auch sein Menschsein mit der Zeit und das war bei uns so.
Frage aus dem Publikum: Die DDR war hoch verschuldet und da kann schon eine apokalypti-sche Stimmung aufkommen. Ich habe zweimal den Wiederaufbau miterlebt. Einmal nach 1945 und dann nach 1990. Und dass das alles so glimpflich abgegangen ist, ist sehr erstaun-lich.
Scheule: Ich würde Ihr Statement gerne zu einer Frage zuspitzen: Sie sagten die DDR war hoch verschuldet im Ausland, die DDR war - denke ich - volkswirtschaftlich kurz vor der Implosion gestanden. Meine Frage, Frau Bohley, waren Sie überhaupt nötig fürs Ende der DDR? Wäre dies sowieso gekommen?
Bohley: Ja, vielleicht wäre es gekommen, aber die Frage ist wie. Niemand hat doch geglaubt, dass man an dem Status quo rütteln konnte. Deshalb gab es ja diese Straußkredite, deshalb gab's ja auch die offizielle Einladung Erich Honeckers nach Saarbrücken mit rotem Tep-pich, weil man geglaubt hat nur mit dem Status quo diesen Frieden in Europa aufrecht zu er-halten, den Weltfrieden vielleicht sogar. Und an diesem Status quo zu rütteln, ich glaube, da-zu sind wir gebraucht worden. Das hätte nicht von oben passieren können. Irgendjemand hätte sich schon gefunden, der Geld in die DDR gepumpt hätte, um den Status quo aufrecht zu er-halten.
Scheule: Also, das was uns hier so beschäftigt, Apokalypse als verhängtes Ende, das war ge-nau nicht das Ende der DDR, es war ein Ende das stark von den Akteurinnen und Akteuren der Wendezeit abhängig war, so verstehe ich Sie jetzt, obwohl die DDR hoch verschuldet war, obwohl sie vor der Implosion stand, es brauchte dann doch noch welche, die dieses Ende tat-sächlich mit ihrem Angesicht und ihrer Tat herbeiführen.
Bohley: Ich glaube, ohne Menschen ist nichts zu machen.
(Applaus)
Student: Ja, wir haben es schon ansatzweise gehört, was danach passiert ist, ich sage jetzt mal die Übernahme der DDR durch die Bundesrepublik, - das wurde ja auch schon als Vergewal-tigung bezeichnet. Was hätten Sie sich eigentlich gewünscht, dass hier im Gebiet der DDR ein Sozialismus mit menschlichem Antlitz entsteht wie ihn ja einige von den ehemaligen Ost-blockstaaten, die wir als Oppositionelle bezeichnet haben, vertreten haben?
Bohley: Ich sage Ihnen ganz ehrlich, was ich mir gewünscht hätte: Ich hätte mir gewünscht, dass natürlich auch der Westen mehr aus dem Osten gelernt hätte oder sozusagen diese Situa-tion '89 auch als eine Stunde Null für sich begriffen hätte. Nicht nur wir sind zusammen-gebrochen worden, nein zusammengebrochen, sondern es war auch eine Stunde Null für Deutschland eigentlich, wo man gemeinsam etwas hätte machen können. Vielleicht eben doch eine richtige Verfassung, nach Gemeinsamkeiten suchen und das ist irgendwie zu kurz ge-kommen. Das müssen wir jetzt irgendwie ziemlich spät nachholen. Aber ich glaube, ohne das geht es nicht.
Also ich kann nicht sagen, dass ich die Meinung teile, dass wir überrollt worden sind. Wir ha-ben uns doch damit auch einverstanden erklärt. Wir haben doch gewählt: Wir haben einmal die letzten beiden Wahlen gehabt in der DDR, da ist ja auch nicht die Bürgerbewegung ge-wählt worden. Und da ist frei gewählt worden. Und dann ist auch bei den gemeinsamen deut-schen Wahlen gewählt worden. Eher mache ich den Grünen einen Vorwurf, dass sie eigent-lich nur die Bürgerbewegung vereinnahmen wollten mit dem Bündnis 90 und dass sie nicht den Impuls begriffen haben, der in der Bürgerbewegung gesteckt hat und den man irgendwie hätte nutzen können für die Zeit nach '89 und für die Zeit des wirklich Eins-Werdens. Die Machtfragen waren wichtiger als die Inhaltsfragen. Aber daran sind immer alle schuld, wenn sie sich dem beugen.
Frage aus dem Publikum: Ja, dass wir so kurz vor der Pause vielleicht den Blick noch über Deutschland hinaus dehnen. Da Sie ja im Augenblick wieder an Brennpunkten arbeiten, wäre es für uns hilfreich, wenn Sie noch einige Sätze über ihre aktuelle Arbeit sagen könnten, ins-besondere vielleicht auch im Hinblick auf Fehler, die man nicht wiederholen sollte.
Bohley: Ja, ich glaube, dass man viel mehr schauen muss auf die Geschichte des anderen. Man kann einfach nicht unseren Rechtsstaat ohne weiteres in die Balkanländer oder nach Af-ghanistan transportieren. Das kann nur schief gehen. Man muss einfach auch sehen, wie die Menschen leben, ihre Geschichte sehen und man muss dann andere Lösungen für die Leute suchen. Und man muss sie sich auch selber Lösungen suchen lassen. Es ist nur eine Kleinig-keit, aber das mit dem nicht mehr Schnaps brennen oder ähnliches wird nie klappen auf dem Balkan: Die brennen da ihren Schnaps, die bauen ihren Tabak an. Diese Kurzsichtigkeit im Handeln, die auch bei der Wiedervereinigung in Deutschland eine tragende Rolle gespielt hat, was kommt denn dabei raus, irgendwann in ein paar Jahren? Das ist jetzt genauso bei der Os-terweiterung. Wenn man die Leute nicht ernst nimmt, sondern nur glaubt seinen eigenen Senf weitergeben zu können, dann fällt man auf die Nase. Nicht nur die, sondern wir mit. Das kann keiner finanzieren, die DDR konnte ja eigentlich auch keiner finanzieren, die Wiedervereini-gung ist ja viel zu teuer geworden. Man hätte das alles billiger machen können, wenn man ein bisschen besser hingesehen, gerechnet und geplant hätte. Davon bin ich hundertprozentig ü-berzeugt. Und das betrifft die Ostererweiterung genauso. Es ist ein Fass ohne Boden und da wird die EU drin versickern. Ich bin für die Osterweiterung, weil es für die Länder wirklich Frieden bedeutet, das bedeutet wirklich Sicherheit. Die müssen in die EU. Aber man muss die Geschichte dieser Länder kennen, ihre Probleme sehen und darf ihre Traditionen und Mentali-täten nicht vergessen. Und dann kann man nicht mit so lächerlichen Dingen kommen, wie z. B. im Fall Gotovina , das war dieser kroatische General, der bei der großen Verteidigungsof-fensive Kroatiens eine entscheidende Rolle gespielt hat. Ihm wird vorgeworfen, von Kriegs-verbrechen gewusst zu haben. Plötzlich heißt es, wir, die EU, führen jetzt keine Gespräche mit euch, mit Kroatien, bis ihr den nicht verhaftet habt. Die Kroaten sind ja angegriffen wor-den von den Serben, sie waren nicht die Angreifer. Für die Kroaten ist das ein ganz anderer Mann, einer der ihr Land verteidigt hat. Sie sagen schon, ja wenn er Kriegsverbrechen began-gen hat, muss er nach Haag , aber warum führt man mit Kroatien keine Gespräche, wir wis-sen auch nicht wo er steckt, in Kroatien jedenfalls nicht. Diese Ultimaten, so was kennen wir doch nur von den Russen, das wollen wir nicht mehr. Und das geht auch nicht. Die Ge-sprächsbereitschaft muss weitergehen, muss tiefgründiger werden.
Frage aus dem Publikum: Wo sehen Sie Perspektiven, gemeinsame Probleme von Ost und West - und ich meine jetzt nicht Probleme materieller Art - in den Griff zu bekommen?
Bohley: Ja ich weiß nicht, das sehe ich jetzt vielleicht mehr aus meiner Erfahrung vom Balkan her. Ich denke dass Deutschland eine sehr, sehr wichtige Bedeutung hat für Europa, zumin-dest für Osteuropa. Hundertprozentig. Die Leute sind fixiert auf Deutschland. Sie haben hier oft gearbeitet, jahrzehntelang als Gastarbeiter, sie haben sich damit ihren bisschen Wohlstand geschaffen, er ist ihnen dann zerschlagen worden im Krieg, dann kam von Deutschland die humanitäre Hilfe, sie haben sich wieder was aufgebaut, sie glauben immer noch - auch wenn es mittlerweile etwas bröckelt -, dass wir irgendwo die Welt wunderbar eingerichtet haben und möchten gerne alles so haben, wie wir das haben. An materiellen Dingen und an Absiche-rungen, was auch Demokratie bedeutet und Rechtsstaatlichkeit. Und ich glaube, wir haben ei-ne ganz große Verantwortung diesen Ländern gegenüber und darin sehe ich eigentlich auch etwas, was uns verbindet in Ost und West, wenn wir diese Aufgabe zusammen wahrnehmen. Dass wir - gerade die Ostdeutschen haben ja natürlich auch eine ganz eigene Beziehung nach Osteuropa, denn wenn sie irgendwo hinreisen konnten, konnten sie nach Polen fahren oder nach Ungarn oder ein anderes Ostblockland - wirklich auch so ein Mittler werden zwischen Westeuropa und Osteuropa, wäre eine gute und sinnvolle Aufgabe, nicht nur materiell, son-dern auch geistig und kulturell.
Studentin: Was kann man für den Bereich in Ostdeutschland jetzt Gutes tun? Braucht es da eine Aufarbeitung der Jahre, die passiert sind, damit man die eigene Identität herausschälen kann und mit der deutschen Identität in Verbindung bringen?
Bohley: Ja, ich glaube das schon. Das zeigt sich ja auch immer wieder. Sie sehen ja, jetzt soll-te eine Änderung eintreten bei dem Akteneinsichtsgesetz . Da kriegen die Leute sofort Panik, da werde etwas zugedeckt. Das wollen wir nicht, wir wollen die Akten offen halten, wir wol-len sehen, wir wollen wissen, wer was getan und wen verraten hat. Und diese Fragen werden noch lange eine Rolle spielen und das sollte man ernst nehmen, denn vierzig Jahre sind eine lange Zeit und die Menschen haben ihre Erfahrungen gemacht und man sollte sie viel öfter nach ihren Erfahrungen fragen. Die materiellen Dinge sind genug geflossen. Also ich sage Ih-nen, es gibt genug super Bushaltestellen im Osten und super Straßen etc. Vieles bestimmt ›superer‹ als im Rheinland oder im Ruhrgebiet usw. Diese materiellen Dinge kann man jetzt einfach mal beiseite lassen, man muss einen anderen Zugang zueinander finden.
Augsburg 21.November