Mai 2006
 

Vortrag in German Historical Institute
Washington, 03. Oktober 2007

"Unter freiem Himmel"
Reflexionen zur Vergangenheit und Gegenwart



Guten Tag, meine sehr verehrte Damen und Herren!

Heute ist der 3. Oktober.

Der Tag der politischen Wiedervereinigung Deutschlands jährt sich zum siebzehnten Mal. Sie haben mich gebeten, anlässlich dieses bedeutenden Tages zu sprechen. Vor mir haben schon andere hier referiert, ich erinnere an Jens Reich und Joachim Gauck, die beide wie ich aus der Bürgerbewegung des Herbstes 1989 kommen. Jens Reich und ich, wir gehörten zu den dreißig Gründungsmitgliedern des Neuen Forum, dessen Aufruf "Die Zeit ist reif" im Herbst 1989 zu einem entscheidenden Faktor des Aufbruchs wurde. Innerhalb kurzer Zeit unterschrieben mehr als 200 000 Menschen diesen Aufruf. Das Neue Forum war damals die größte Sammlungsbewegung in der DDR. Beide haben grundsätzliche Dinge gesagt und ich möchte sie nicht wiederholen. Trotzdem beurteilen wir wahrscheinlich die vergangenen Jahre unterschiedlich, weil wir sie an unterschiedlichen Orten verbracht haben. Ich erlaube mir heute auch ein paar kritische Töne anklingen zu lassen. Das Feiern allein bringt uns nicht weiter.

Vielleicht bin ich für Sie nur ein Geist aus der Vergangenheit oder wie es heute heißt: eine Zeitzeugin. Ich habe mich gefragt, warum Sie mich eingeladen haben, denn ich gehöre keiner Partei an, ich habe kein politisches Amt und bin seit Jahren in der deutschen politischen Öffentlichkeit kaum präsent. Für mich war immer die Arbeit an der Basis wichtig. Dort arbeite ich auch heute und mache meine politischen Erfahrungen, über einige alte und neue möchte ich heute sprechen. An der Basis sind die Menschen zögernder - vielleicht deshalb genauer in ihren Beobachtungen- und halten mehr an ihren Ansichten fest als in den Chefetagen.

Für die Einladung möchte ich mich herzlich bedanken, denn ich bin sehr gern in Amerika. Hier hat für mich die Freiheit handfestere Konturen bekommen als in Deutschland nach der Wiedervereinigung.

1945 wurde ich in Berlin geboren und bin dort aufgewachsen. Das Leben in der zerstörten, geteilten Stadt hat mich geprägt. Den Arbeiteraufstand am 17.Juni 1953 erlebte ich als Achtjährige, den Bau der Mauer 1961 als Sechzehnjährige. Ich bin in Ostberlin aufgewachsen, habe dort studiert, gearbeitet und gelebt. Die Mauer fiel als ich 44 Jahre alt war. Ich hatte also genug Zeit und Gelegenheit, um ausgiebig Erfahrungen in einem autoritären und auf Willkür basierendem System zu sammeln.

Die wichtigste Zeit meines Lebens aber wird der Herbst 89 bleiben.

Seitdem sind fast zwei Jahrzehnte vergangen. Es wird in zwei Jahren viele Festveranstaltungen und Feiern geben. Das erfordert einen Blick zurück.

Die politischen Bewegungen des Herbstes 1989 in Ostdeutschland sind schon vielfach dargestellt worden und sind noch zahlreichen Sichtweisen ausgesetzt. Die meisten Darstellungen bewegen sich zwischen zwei Polen: Entweder wird die Geschichte aus dem Blickwinkel der politischen Opposition in der DDR erzählt, weil diese den Anfang machte, oder aus der Perspektive der staatlichen Resultate gedeutet, die am Ende des "tollen Jahres" standen.

Für mich ist es eine Geschichte, die auf der Straße unter freiem Himmel begann und darin liegt ihre besondere Ausstrahlungskraft.

Ich werde die Begeisterung nicht vergessen, die nicht nur die Ostdeutschen erfasst hatte. Die ganze Welt schien mitgerissen zu werden. Tschechen, Polen, Ungarn, Westdeutsche, Amerikaner, ja selbst Japaner, um nur einige zu nennen, waren erfüllt von der Begeisterung, dass endlich die "Verhältnisse zum Tanzen" gebracht wurden. Das Unglaubliche geschah: die Blöcke brachen auf, der Eiserne Vorhang wurde beiseite geschoben und die Menschen fielen sich in die Arme.

Der große Umbruch von 1989 hat inzwischen die ganze Weltpolitik, alle Kräfteverhältnisse, verändert, und ein Ende der Veränderungen ist nicht abzusehen. Sehen wir einmal von seiner jahrzehntelangen Vorgeschichte ab, dann hat der eigentliche politische Durchbruch zur Selbstbestimmung von unten in Deutschland begonnen - genauer - in Ostdeutschland, in der damaligen DDR.

Wie im historischen Minutentakt folgten die Umschwünge in Prag, in Warschau, Budapest, Bukarest, Sofia usw. Doch das sind nur die Hauptstädte des eigentlichen Osteuropa und tatsächlich beschränkten sich die politischen Bewegungen und großen Demonstrationen dort auf die Hauptstädte und einige wenige Großstädte. - Nicht so in Ostdeutschland.

Hier fand im Herbst 1989, vom September bis Dezember, ein unausgesetzter, landesweiter fast gleichzeitiger Aufbruch statt, an dem sich aktiv zwei Millionen Menschen beteiligten - in sämtlichen großen Städten, in allen mittleren Städten, in vielen Kleinstädten, ja bis in die Dörfer hinab. Es war die größte Demokratiebewegung der deutschen Geschichte bisher, der Breite nach vielleicht mit der Revolution von 1848 zu vergleichen, doch der Kraft der Selbstorganisation und dem Niveau der politischen Moral nach weit über jener agierend.

Der Herbst 1989 in der DDR ist wesentlich die Geschichte von Selbstorganisation der lange aufgestauten demokratischen Potentiale fast aller Schichten der Bevölkerung gegenüber der staatlich verfügten und verbissen festgehaltenen Stagnation. Für mich ist nicht der Zusammenbruch des ausgedorrten Staatsgerippes der Diktatur im Herbst 1989 der maßgebliche Vorgang, sondern der praktische Aufbruch der Bürger, der ihn bewirkte.

Ihre zentralen und entscheidenden Handlungsformen waren
Selbstorganisation,
inhaltliche Selbstbestimmung,
wechselseitige Gewaltlosigkeit,
sachpolitische Konsensfähigkeit,
sozialer Orientierungssinn,
soziale Grundsolidarität.

Die innere Abfolge und die dynamische Ausbreitung ihrer Suche nach der neuen Gestalt des Gemeinwesens werden oft nicht genügend gewürdigt. Die Ereignisse im Herbst 1989 fanden "unter freiem Himmel" statt - auf der Straße, entfaltete sich jene Dynamik und konnte sich nur dort entfalten. Es charakterisiert diese sechs Monate gerade, dass die politischen Prioritäten von demonstrierenden Mehrheiten gesetzt wurden, die "große Politik" dagegen jeweils nachfolgen musste und erst auf dem Terrain, das die Bürgerbewegungen abgesteckt hatten, anschließend wieder ihre tradierten Gebäude errichten konnte.

Der "Herbst 1989" dauerte in diesem Sinn von Anfang September 1989 bis zum 18. März 1990 an, wenngleich bereits im November 1989 neben dem Ruf "Wir sind das Volk" der Ruf "Wir sind ein Volk" erschallte. Die offenen Grenzen, das wirtschaftliche Gefälle und die zerfallenen Machtstrukturen in der DDR und dem realsozialistischen Lager ließen bei vielen den Wunsch nach einer schnellen deutschen Einheit wachsen.

Die Selbstorganisation der ostdeutschen Gesellschaft wurde ungefähr ab Januar 1990 durch die Implementierung (!) der westdeutschen Parteien in die sich gerade neu formierende politische Landschaft Ostdeutschlands beeinträchtigt. Die neuen politischen Strömungen waren noch dabei sich zu organisieren, da wurden sie bereits von den westdeutschen Parteien vereinnahmt. Während des ganzen Jahres 1990 mussten die demokratischen und sozialen Ziele mehr und mehr so umformuliert werden, dass sie dem politischen System und Sprachgebrauch der alten Bundesrepublik entsprachen. Mit dem Verlust der eigenen Sprache und bald darauf des sozialen Instrumentariums ging natürlich auch die demokratische Selbstsicherheit und Selbstbestimmung verloren. So entstand Anfang der 90er Jahre der Zustand, mit dem wir es grundsätzlich auch heute noch zu tun haben.

Das Ergebnis und die Kernbestimmung dieses innerdeutschen Zustands ist: Der Umbau der ostdeutschen Gesellschaft wird nicht von den Ostdeutschen durchgeführt. Die parlamentarischen Spielregeln, die Parteien, die Gesetze, die politische, die wirtschaftliche, die akademische Elite, sämtliche großen Medien - so gut wie alles, was in der Gesellschaft "von oben" kommt, befindet sich seit 1992, 1993 in ehemals westdeutschen Händen oder Institutionen.

Versuchen Sie, sich vorzustellen - oder, wichtiger noch - versuchen Sie zu verstehen: Die jahrzehntelang zögernden, sich duckenden, verzweifelten oder hoffenden Mehrheiten eines diktatorisch regierten Landes erheben sich endlich gemeinsam, sie besiegen sich selbst und gewinnen ihr ganzes Land - und 12 oder 24 Monate später existiert kein Fernsehsender, kein Radio, keine große Zeitung mehr, wo noch ihre Sprache gesprochen wird und ihre Erfahrungen gelten.

2 Millionen Menschen sind auf der Straße und demonstrieren, sie besetzen staatliche Einrichtungen wie Ministerien, Rathäuser, Kasernen und Staatssicherheitseinrichtungen. Sie öffnen und durchsuchen Archive. Betriebsdirektoren werden abgesetzt und neue eingesetzt. Es wird begonnen, die städtische wie die staatliche Ordnung an so genannten Runden Tischen neu zu regeln - und drei Jahre später existiert keine Fabrik, keine Mietwohnung, keine Behörde mehr, wo ihr bisheriger Status noch anerkannt wäre. 2 Millionen von 17 Millionen, das wären auf die Bevölkerung der Vereinigten Staaten umgerechnet gut 30 Millionen politisch aktiv eingreifende Bürger. - Verstehen Sie, wie tief hier die Verwirrung der Handlungsfähigkeit in die ehemals ostdeutsche (und reaktiv auch in die ehemals westdeutsche) Gesellschaft eingegriffen hat?

Nach den Wahlen am 18. März 1990 bekamen die Ereignisse eine besondere Dynamik, der der normale Bürger kaum noch folgen konnte. Am 18.05.1990 wurde der Staatsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR vereinbart. Wie wir heute wissen, im Wesentlichen von den Mächtigen des damaligen Westdeutschlands und den Vertretern der Mächtigen der ehemaligen DDR. In ihm wurden die Grundzüge der Vereinigung beider Staaten festgelegt und die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion vereinbart. Am 01.07.90 wurde die D-Mark Zahlungsmittel in der DDR. Damit verschärfte sich die ökonomische Situation deutlich. Die ersten Fabriken wurden geschlossen, die ersten Menschen wurden arbeitslos. Die Ereignisse und Nachrichten überschlugen sich. Verträge, Verhandlungen, Verträge.

So sehr der Tag der Wiedervereinigung von vielen Menschen herbeigesehnt wurde, so sehr war er doch auch ein Tag, an dem etlichen deutlich wurde, dass der Herbst 89 mit seiner Verheißung von gesellschaftlicher Selbstbestimmung endgültig beendet war.

Jetzt begann eine Zeit, die den Menschen in Ostdeutschland viel abverlangte. Anpassung an die neuen Verhältnisse war am meisten gefordert, wer dazu unfähig war oder sie nicht leisten wollte, blieb abseits stehen. Die Reaktion der Menschen war oft Politik- und Demokratieverdrossenheit und die Verweigerung der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Seit Jahren stehen Meckern und Kritisieren ganz oben auf der Tagesordnung. Und das sowohl in Ost- wie in Westdeutschland, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.

Es ist sicher, dass es die blühenden Landschaften, die Bundeskanzler Helmut Kohl versprochen hat, in den neuen Bundesländern gibt. Immer wieder ist es eine Freude die ehemals maroden Städte heute zu sehen. Die Probleme der zerfallenden historischen Innenstädte, z.B. von Görlitz, Halberstadt, Leipzig, Halle und viele andere, wollte die DDR mit der Abrissbirne lösen. Heute strahlen sie in neuem Glanz, aber sanierte Innenstädte, neue Straßen, moderne Telefonleitungen, schnittige Einbahnzüge sind noch keine selbstbestimmte Lebenswelt.

Neulich habe ich ein Dorf in Mecklenburg nach Jahren wieder besucht. Früher wurde das Leben der Menschen von der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft bestimmt. Alle arbeiteten dort. Es gab eine Schweinezuchtanlage, unendliche Rapsfelder, einen kleinen Konsumladen , eine Dorfkneipe, keine Straßenbeleuchtung und heruntergekommene Häuser. Jeder hatte Hühner und hinterm Haus sein Privatschwein.

Heute gibt es Straßenbeleuchtung, neue Bürgersteige, alle haben ihre Häuser renoviert und Garagen gebaut in denen glänzende Autos stehen. Aber es gibt keinen Laden mehr und keine Kneipe. Es gibt auch keine LPG mehr. Das Land ist von einem holländischen Landwirtschaftsbetrieb gekauft worden, der mit riesigen Maschinen und einer handvoll Leute das gleiche und mehr schafft als vorher die LPG.

Fast alle sind arbeitslos und Hartz-IV-Empfänger , das ist die unterste Sockelstufe der deutschen Sozialhilfe. Sie haben die Jahre nach der Wiedervereinigung in den verschiedensten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen verbracht. Dies bedeutete zwar, dass sie eine gut bezahlte Tätigkeit hatten, die aber oft sinnlos erschien, weil sie mit der jeweiligen Qualifikation wenig zu tun hatte. Unbewusst wurden die Gefühle aus der Arbeitswelt in der DDR am Leben gehalten. Auch dort bekam man Geld für eine Tätigkeit, die den meisten sinnlos vorkam. Man wurde beschäftigt, konnte sich aber mit der Arbeit nur selten identifizieren.

Die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen muten manchmal ebenso absurd an wie die verordnete Arbeit in der DDR. So wurde in einem nahe gelegenem Wäldchen des mecklenburgischen Dorfes ein Lehrpfad für Schüler angelegt. Fast jeder Baum und Strauch wurde mit einem Schild versehen auf dem zu lesen ist, welcher Baum das ist - Eiche, Buche, Birke -. So etwas kann bei Berlin sinnvoll sein, aber in dieser Einöde, gibt es keine Jugend mehr, die ist schon längst nach dem Westen weggezogen, denn dort gibt es Arbeit. Und die alten Bauern kennen jeden Baum.

Die Menschen haben seit der Wiedervereinigung keinen Hunger gelitten, sie haben sogar noch ihre Häuser aufmöbeln können und sich schicke Autos gekauft. Aber sind sie nicht eigentlich auf der Strecke geblieben? Diesen Eindruck bekommt man jedenfalls, wenn man beobachtet, wie sie auf ihren kleinen Rasenmähern herumfahren und verzweifelt nach einem Grashalm Ausschau halten. In Wahrheit suchen sie eine sinnvolle Aufgabe, aber sie finden keine. Es lohnt sich nicht einmal mehr, sich ein paar Hühner zu halten. Die Eier kosten beim Supermarkt Aldi in der nächsten Kleinstadt weniger als das Futter im Winter. Darum gibt es auch keine Hühner mehr in diesem Dorf.

Ich habe Ihnen diese Geschichte erzählt, weil sie vielleicht deutlich macht, dass viele Menschen nach fast zwei Jahrzehnten noch nicht im wiedervereinigten Deutschland angekommen sind. Auch sie haben im Herbst 1989 von Selbstbestimmung und Mitgestaltung geträumt. Geblieben ist ein schales Gefühl. Soll das alles gewesen sein? Wird das Leben für mich noch etwas bereit haben?

In dieser Region hat die NPD, eine rechtsextremistische Partei in Deutschland, eines ihrer besten Wahlergebnisse erzielt.

Keiner will die Zeit zurückdrehen, aber mit der Gegenwart kommt man nicht klar. Viele Menschen fühlen sich erneut fremdbestimmt. Sie suchen nach einem Halt, nach Sicherheit, nichts ist mehr wie früher. Und sie haben das Gefühl, dass sie weniger beeinflussen können als früher. Im ganzen Ostblock war z.B. die Bummelei eine beliebte Widerstandshaltung, um seine Unzufriedenheit mit dem gesamten System, insbesondere mit den Bedingungen in der Arbeitswelt auszudrücken. Während im Ostblock eine laut ausgesprochene Wahrheit noch das ganze System erschüttern konnte - ich erinnere an Havels "Versuch in der Wahrheit zu leben", versackt sie jetzt meist ungehört im Sumpf von Partikularinteressen.

Auch die Westdeutschen sind verunsichert und haben Zukunftsängste. Der Umbau des Sozialstaates ist in vollem Gang. Was wird, wenn ich arbeitslos oder krank werde, wenn ich alt bin, wenn mein Kind keinen Ausbildungsplatz bekommt? Diese Fragen bestimmen den Alltag. Das ist neu, denn über Jahrzehnte war soziale Sicherheit, wenn auch auf unterschiedlich hohem Niveau, in Ost und West vorhanden.

Es macht Angst, wenn seit der Gesundheitsreform, welche dieses Jahr in Kraft getreten ist, 50 000 Pflegekräfte eingespart werden mussten, d.h. dass 700 Millionen Euro weniger im Gesundheitssystem vorhanden sind.

Wenn betriebwirtschaftliches Denken in Quartalszahlen zum alles bestimmenden Faktor wird, wird das gesellschaftliche Klima eisig.

Auf dem bei der Wiedervereinigung eingeschlagenen Weg sind die Ostdeutschen durch ihren späten Einstieg in das "westdeutsche" Leben benachteiligt. Der Unterschied liegt zwischen den Ost- und den Westdeutschen nicht nur in der wirtschaftlichen Entwicklung und den Ersparnissen, sondern vor allem in der verschieden geprägten Mentalität, dem Bewusstsein, der Psyche und den eigenen - jetzt im Osten brachliegenden - Erfahrungen.

Für den seit 1990 geforderten sozialen Wandel der Ostdeutschen in Westdeutsche ist mehr als eine Generation notwendig. Sicher wäre die innere Einheit Deutschlands mit weniger Geld und mehr Spielraum für die Gestaltung eigener Wirtschafts-, Sozial-, Landwirtschaft-, Umwelt- Gesundheits-, und Bildungspolitik lebendiger und schneller zu erreichen gewesen. Momentan sind wir dabei ein Klotz an den Beinen der westdeutschen Länder zu werden. Immer mehr Menschen verlassen Ostdeutschland. Die aus der Entsiedelung entstehenden Probleme, wie z.B. die Aufrechterhaltung der Infrastruktur, werden unbezahlbar und unlösbar.

Es gibt natürlich auch viele, die in den letzten Jahren Geld verdient haben, manchmal sogar sehr viel Geld. Sie glauben, sie seien angekommen. Aber Geld schlägt auch auf die sozialen Beziehungen durch. Alte Freundschaften leiden darunter. Der eine kauft sich das fünfte neue Auto und fährt auf die Bahamas in Urlaub, während der mittellose Hartz-IV-Empfänger sich mit einem riesigen bürokratischen Apparat herumschlagen muss, um seine sozialen Ansprüche durchzusetzen.

Wahrscheinlich ist das nicht sehr interessant für Sie, denn Amerika hat schon längst gelernt, mit diesen Problemen zu leben, und die Menschen sind flexibler, wenn es gilt diese Probleme zu bewältigen. Aus der Ferne sieht es allerdings so aus, als würde es immer schwerer sie zu bewältigen.

Insofern kann man nur begrüßen, dass die Deutschen jetzt auch in der Welt angekommen sind. Leider wird das von ihnen selbst oft noch nicht wahrgenommen, ansonsten würden sie die vielen gesellschaftlichen Veränderungen konstruktiver und kritischer verfolgen, das betrifft den Sozialstaat wie den Rechtsstaat gleichermaßen.

Die Menschen, die in der DDR verfolgt oder benachteiligt worden sind, wollten nach der Widervereinigung Gerechtigkeit. Sie lebten zwar jetzt in einem Rechtsstaat, was aber nicht bedeutete, dass sie dadurch auch Gerechtigkeit bekommen hätten. Gerechtigkeit und Rechtsstaat sind zwei sehr verschiedene Sachen. Das wurde besonders deutlich, wenn alte DDR-Kader oder inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit es bis zu Ministerämtern oder Parteivorsitzenden gebracht hatten. Die halbherzige Aufarbeitung des DDR-Unrechts und viele Urteile, die im Zusammenhang mit der DDR-Problematik gesprochen wurden, sind aber ein ganz eigenes Thema. Ich erwähne es nur, weil es auch zur schlechten Befindlichkeit der Deutschen und zur Voreingenommenheit gegenüber dem Rechtsstaat beigetragen hat..

Die Entfremdung der Menschen von der deutschen Justiz ist gewachsen. Der gesunde Menschenverstand, die neuen Technologien (z.B. das Internet), die Erfahrungen der Menschen widersprechen vehement und zunehmend den Urteilen deutscher Gerichte, wie das auch in der DDR der Fall war.

Als ehemalige DDR-Bürgerin bin ich wahrscheinlich besonders wachsam, wenn ich sehe wie die Meinungsfreiheit immer mehr eingeschränkt wird. Wesentlich hat dazu Herr Stolpe beigetragen - in der DDR war er Konsistorialpräsident der evangelischen Kirche und wurde von der Staatsicherheit als Inoffizieller Mitarbeiter geführt - im wiedervereinigten Deutschland war er dann Minister in der SPD-Regierung. 2005 erreichte Herr Stolpe gerichtlich, dass "doppelsinnige Äußerungen" - und jede Äußerung ist doppelsinnig - verboten werden können, wenn ein möglicher Sinn dem Betroffenen nicht gefällt. Das bedeutet, dass jeder, dem eine über ihn öffentlich geäußerte Meinung missfällt, sie blockieren kann. Zum Glück bei Ihnen in Amerika undenkbar! Diese neue Rechtsprechung hat inzwischen breite Anwendung gefunden. Und mit ihr kann die Geschichtsschreibung über Gerichte verfälscht werden. Dies ist besonders verhängnisvoll, weil die Menschen gerade gelernt haben zu sprechen und Fragen zu stellen, da müssen sie schon wieder lernen, nur das "Richtige" zu sagen. Also Selbstzensur bevor der öffentliche Diskurs richtig begann.

Internet-Archive müssen von den Betreibern auf früher zulässige, heute nicht mehr zulässige Äußerungen durchforstet werden, um nicht über Abmahnungen hohe Kosten an die Anwälte zu zahlen. Das betrifft Universitäts-Archive, Zeitungsarchive und andere. Die Geschichte wird damit auch im Internet umgeschrieben. Ein heutiger Wirtschaftszweig - das Abmahnwesen im Äußerungsrecht hat sich etabliert.

Die Kosten der Gerichtsverfahren sind Existenz bedrohend. Wer sie nicht bezahlen kann, muss die Strafe im Gefängnis absitzen. Und wieder sitzen Menschen wegen Meinungsäußerungen in Gefängnissen.

Wenn ich meinen heutigen Vortrag unter das Thema "Unter freiem Himmel" gestellt habe, hat das nicht nur mit dem freien Himmel von 1989 zu tun, sondern auch mit dem Himmel von New York, der mir immer besonders klar, weit und bewegt erschien.

Als ich das erste Mal nach New York flog, war ich sehr unsicher. Was würde mich erwarten? Tatsächlich eine herzlose, egoistische Ausbeutergesellschaft in der sich jeder selbst der Nächste ist? So ist uns in der DDR Amerika geschildert worden. Es gab auch viele Westdeutsche - nicht nur Linke -, die Amerika ebenso sahen, obwohl sie noch nie dort gewesen waren. Die Ostdeutschen konnten nicht, aber viele Westdeutsche wollten nicht.

Ich war 1992 das erste Mal in New York, lief durch die Straßenschluchten und über mir dieser wunderbare Himmel. Es war im November. In Deutschland hatte ich nach dem Mauerfall viele Morddrohungen erhalten und ich kann nicht sagen, dass sie keinen Eindruck auf mich gemacht hätten. Ich habe damals sogar eine Lebensversicherung abgeschlossen. Hier hatte ich keine Angst, lernte die wunderbarsten Menschen kennen in den absonderlichsten Situationen. Tausend neue Eindrücke und Fragen.

Welchen Wert hat Freiheit ohne soziale Sicherheit? Wie funktioniert Demokratie ohne tausend Gesetze und bürokratische Regelungen. Wie organisiert sich eine so gemischte Gesellschaft, die kaum mehr miteinander gemeinsam hat als eine Flagge und Mac Donalds? Das waren Fragen, die mich sehr beschäftigten. Am meisten aber hat mich das Zusammenleben von Menschen verschiedener Nationalitäten und Religionen beeindruckt. Sicher gibt es mehr als genug Probleme, aber es beeindruckt mich immer wieder, dass das Zusammenleben trotz allem funktioniert und es Selbstregulierungsmechanismen zu geben scheint, die in entscheidenden Augenblicken funktionieren. Ob man sich in Zukunft auf sie verlassen kann, ist eine andere Frage.

Seit 1996 lebe und arbeite ich auf dem Balkan.

Ich habe fast drei Jahre - bis 1999 - im Office des High Representative in Bosnien gearbeitet. Der Hohe Repräsentant repräsentiert die internationale Gemeinschaft durch die Vereinten Nationen in Bosnien und Herzegowina. Der "Hohe Repräsentant" wird nicht von der Bevölkerung gewählt. Er besitzt weitgehende autoritäre Vollmachten, so kann er demokratisch gewählte Minister, Richter und Bürgermeister entlassen, Gesetze erlassen und neue Behörden schaffen. Leider ist diese Möglichkeit zu selten genutzt worden, um sich verantwortungsloser Politiker zu entledigen. Das Büro ist verantwortlich für die Implementierung des Daytoner Friedensabkommens, ich selbst war im Bereich humanitäre Angelegenheiten tätig. Später habe ich verschiedene Projekte in Bosnien und Kroatien organisiert, zuletzt ein Zisternenprojekt in der Nähe von Mostar.

Das Leben in einem durch Krieg und Hass zerstörten Land ist hart und es verändert einen auch selbst. Ich bin als überzeugte Pazifistin nach Bosnien gekommen und habe aber schnell begriffen, dass nur die Präsenz ausländischer Soldaten dem Land Ruhe bringen. Viele Einheimische sagen noch heute, wenn alle Soldaten abgezogen werden, gehen wir auch. Heute ist mir klar, dass die Welt niemals diesem Krieg vier Jahre tatenlos hätte zusehen dürfen. Jetzt bezahlen wir die Rechnung dafür. Kein Land auf dem Balkan ist so zerrissen und unregierbar wie Bosnien und Herzegowina.

Der Krieg ist seit 12 Jahren beendet und endlich sollte ein Licht am Ende des Tunnels zu sehen sein. Die Politiker und Diplomaten behaupten es zu sehen, die Menschen auf der Straße allerdings tappen im Dunkeln.

So lange die Vergangenheit die Gegenwart und Zukunft bestimmt, findet in Bosnien keine tatsächliche Entwicklung statt. Noch immer laufen Kriegsverbrecher frei herum. Ich erinnere an Karadzic und Mladic. Aber ich denke dabei nicht nur an sie, sondern vor allem an die noch herrschende Finsternis in den Köpfen. Viele Menschen sind durch den Krieg und ihre Erlebnisse traumatisiert. Zusätzlich wirkt das alte politische und gesellschaftliche System nach. Die Menschen haben niemals gelernt, sich mit den politischen Verhältnissen wirklich auseinanderzusetzen, sie haben nur gelernt, sich zu fügen. Deshalb sind sie unfähig, auf die Forderungen der Gegenwart zu reagieren, und auf ihre Politiker konstruktiven Druck auszuüben.

Es gibt keine soziale Grundsolidarität - höchstens in der Familie - fast nie darüber hinaus. Es gibt keinen Willen zur Selbstorganisation, kaum organisierte Selbsthilfe, keine wirkungsvollen Alternativen zum alltäglichen Staatschaos, keinen Mut, um für die eigenen Probleme eine Öffentlichkeit herzustellen, es gibt keine Gestaltungsidee für die Gesellschaft.

Es gibt - wie in der DDR - nur Küchentische und daran wird über die heuchlerischen und korrupten Politiker, die schlechte Politik, die miese Gegenwart und die fehlenden Zukunftsaussichten lamentiert.

Was ist zu tun? Wer sind die Partner der Internationalen Gemeinschaft in solch zerrütteten Ländern? Wie und welchen Einfluss kann sie überhaupt auf die Politiker nehmen, die alles andere im Kopf haben, nur nicht das Wohl ihrer Völker? Oder müssen wir warten bis sich eine starke zivile Gesellschaft herausgebildet hat, die ihre Probleme selbst löst? Wann aber wird das ein? Sind die Menschen überhaupt ohne Unterstützung dazu fähig?

Antworten zu finden ist besonders wichtig, wenn wir an die vielen Krisengebiete denken, die auf Hilfe warten. Afghanistan und der Irak sind ja nur zwei von ihnen.

Auf den Balkan, insbesondere nach Bosnien, sind gewaltige Geldmengen und enorm viele Hilfsgüter geflossen. Oft haben sie ihren Bestimmungsort nicht erreicht und sind in schwarze Kanäle verschwunden. Dreieinhalb Millionen Menschen in Bosnien und Herzegowina sind nicht viel, trotzdem ist es der Internationalen Gemeinschaft nicht tatsächlich gelungen ihnen eine dauerhafte Perspektive zu bieten und ihre Probleme zu lösen.

Noch gibt es keine einheitlich agierende Polizei und keine Verfassung. Dies aber sind die Voraussetzungen, damit sich Bosnien auf den Weg nach Europa machen kann.

Die ethnischen und religiösen Konflikte dienen den Politikern zur Manipulation der Bevölkerung und bestimmen die Tagespolitik.

Die Arbeitslosigkeit beträgt 50 Prozent, jeder dritte Jugendliche möchte das Land verlassen, weil er für sich in dem demoralisierten Land keine Zukunft sieht.

Die Landwirtschaft ist unorganisiert. Es gibt kaum Arbeitnehmer, die auch sozial versichert sind. Die meisten arbeiten schwarz, sind Selbstversorger und leben von der Hand in den Mund.

Alles in allem auch ein guter Nährboden für Terrorismus. Außerdem leben noch viele Mudschaheddine, die auf der Seite der bosnischen Muslime im Krieg kämpften, im Land. Vierhundert von ihnen werden als gewaltbereit eingestuft. Inzwischen haben sie Familien gegründet und bosnische Pässe, man wird sie also auch nicht ohne weiteres los.

Jahrelang wurde das Thema von den lokalen Politikern und der Internationalen Gemeinschaft geleugnet, denn man wollte nicht noch weitere Probleme. Alle waren auf Fortschritte in Bosnien angewiesen, denn nur so waren die Geberländer zu weiteren Transferleistungen bereit.

Meine Erfahrungen nach der Wiedervereinigung und auch in Bosnien sagen mir, dass wir als Demokratien scheitern müssen, wenn wir unsere Demokratie- und Rechtsvorstellungen einfach nur exportieren und nicht genug die Geschichte anderer Länder, deren Tradition und die Mentalität der Menschen berücksichtigen. Wir müssen uns aber auch selbst unter die Lupe nehmen und bereit sein uns ebenfalls zu verändern.

"Und das soll Demokratie sein?" Wie oft habe ich diesen Satz gehört in Ostdeutschland, Polen, Ungarn und auch in Bosnien. Manchmal klang er höhnisch, manchmal traurig, aber immer so, als hätten die Menschen eigentlich mit dieser Demokratie nichts zu tun. Sie haben sie geliefert bekommen oder geschenkt.

Und die die sie gebracht haben - der Westen -, glaubt, sich auf diese Weise die eigene Welt zu sichern und sie vor Veränderungen zu schützen.

Das aber ist eine Milchmädchenrechnung, denn um so mehr Millionen Menschen und Kulturen von Veränderungen ergriffen werden, umso mehr sind andere Demokratisierungskonzepte gefragt.

Menschen brauchen Zeit, um sich selbst und ihren Weg zu finden, ansonsten fühlen sie sich unfrei und fremdbestimmt. Verantwortungsnahme über die hinweg, von denen wir doch eigentlich erwarten, dass sie ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen, ist keine Lösung. Es geht also nicht nur um Implementierung von westlichen Werten und Vorstellungen, wie es auf dem Balkan, in Afghanistan und im Irak geschieht, genau genommen auch seit 1989 im gesamten Ostblock. Das Ergebnis kann nur unvollkommen und halbherzig sein. Es geht um den Aufbau der Gesellschaften von unten. Dazu müssen wir andere Konzepte entwickeln, die tatsächlich die Menschen mitnehmen, so dass sich überhaupt erst einmal der Humus bilden kann auf dem Demokratie wächst. Meine Damen und Herren, es gilt den ganzen Himmel zu gewinnen.

Ich möchte gern zum Schluss - in dieser Stadt - an Gerd Wagner erinnern. Er hat in Washington an der Deutschen Botschaft gearbeitet. 1997 kam er nach Bosnien als einer der beiden Stellvertreter des damaligen Hohen Repräsentanten Carlos Westendorp. Bei einem Helikopterabsturz kam Gerd Wagner im September 1997 ums Leben. Unter den zwölf, die damals tödlich verunglückten, waren auch fünf Amerikaner.

Es war nicht nur eine Tragödie für seine Familie und unser Büro. Es war auch eine Tragödie für Bosnien.

Er liebte und verteidigte die Wertvorstellungen des Westens. Er liebte und kannte aber auch die Menschen im ehemaligen Jugoslawien. Er sprach fließend serbokroatisch. Kaum ein anderer hat so schnell Zugang zu den einfachen Menschen gefunden wie er. Er hörte ihnen zu. Das schaffte Vertrauen. Gleichzeitig war er offen für unbürokratische und schnelle Lösungen. Ich bin davon überzeugt, Bosnien würde heute anders dastehen, wenn er noch länger sein Amt hätte ausüben können. Die Welt braucht Menschen, die sich Zeit lassen und voraus denken, die ahnen, welche Folgen ihre heutigen Entscheidungen für die Zukunft haben.

Bärbel Bohley, 03.10.2007
* in Bearbeitung
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