Zitate

"Aber, so legen es meine Erfahrungen und die Beobachtung der Gegenwart nahe, die Deutschen haben weithin die Chancen des Neuen noch nicht begriffen. Die Versorgungs- Mentalität in Ost und West ist die gleiche, nur die Erwartungen an den Staat sind im Westen auf einem höheren Niveau. Die Welt ist nicht mehr wie vor dem Kalten Krieg. Gott sei Dank! Aber die neue Situation hat ihren Preis. Mehr Freiheit, mehr Selbstverantwortung, mehr Grenzenlosigkeit, mehr Risiken.

Wir müssen uns selbst befreien, um befreit zu werden aus unserem tiefen Schlaf, von unseren falschen Hoffnungen, unseren überzogenen Erwartungen. Wir müssen erfüllt sein von Ungeduld und dem Verlangen nach einem Leben in der Realität, einer Neugier auf sie, dem Glauben und dem Wunsch, dass wir ihre Herausforderungen bewältigen."

Bärbel Bohley
Vision Deutschland


Durchstarten mit mehr Bildung
Schluss mit dem Reformwahn
Der Traum von der Gesellschaft der Hochgebildeten
"Hier muss es Gleichheit geben"
Die Gesellschaft des Weniger

Vision Deutschland - 2005

Wer Visionen hat, soll ja laut Altbundeskanzler Schmidt zum Arzt gehen. Wenn ich mich meinen Phantasien überlasse, sieht die Zukunft oft so schwarz aus, dass mir wahrscheinlich ein Arzt kaum helfen könnte.

Warum diese Schwarzseherei? Eigentlich hat sich eine Vision schon 1989/1990 erfüllt, wurde doch mehr möglich, als wir uns in Ost und West vorstellen konnten. Deutschland ist ein demokratisches Land in einem friedlich verbundenen Europa geworden. Die noch bestehenden Probleme am Rande des Kontinents, in Nordirland oder in Süd- und Osteuropa, machen fast vergessen, welche Gefahren die Teilung Europas in sich barg und wie schlecht die Aussichten auf einen Wandel zum Guten waren.

Die Chancen des Neuen
Aber, so legen es meine Erfahrungen und die Beobachtung der Gegenwart nahe, die Deutschen haben weithin die Chancen des Neuen noch nicht begriffen. Die Wiedervereinigung war eine Chance, Veränderungen in beiden Teilen Deutschlands in Gang zu setzen. Der hoffnungsvolle Aufbruch und der Wille zur Veränderung der Gesellschaft im Osten nach jahrelang auferlegter Stagnation und erzwungener Passivität sind versandet.

Nun erscheinen 40 triste Jahre "Sozialstaat DDR" im nostalgischen Glanz. Vergessen sind die eintönige Grundverpflegung, die Pflicht zur ungeliebten und zugeteilten Arbeit, die Minimalrenten und niedrigen Löhne, die durch Umleitung verordneten Studienplätze, die mühselig ergatterten Zelturlaube am verschmutzten Ostseestrand, die Intensivhaltung in Einheitswohnblöcken und die niedrigen Preise in den Verkehrsmitteln mit begrenzter Reichweite.

Kein Umdenken eingesetzt

Aber auch im Westen hat kein Umdenken eingesetzt. Dort war man offenbar vor 1989 für die sozialen Entwicklungen blind. Unter Sozialstaat wurde die Subventionierung von Arbeitsunwilligen oder von Aussteigern verstanden und als soziale Leistung das Anwachsen einer Armee von Sozialhilfeempfänger gepriesen. Die Versorgungsmentalität in Ost und West ist die gleiche, nur die Erwartungen an den Staat sind im Westen auf einem höheren Niveau.

Diese Art von Versorgungsmentalität habe ich nicht auf den Straßen in New York oder in Sarajewo erlebt. Dafür eine andere Art von Solidarität. Vielleicht ist diese das Ergebnis des plötzlichen Sturzes aus einem tiefen Schlaf in einen heißen Krieg wie in Sarajewo oder die Reaktion auf die bittere Erfahrung, dass der Mensch sich zuerst einmal selbst helfen muss wie in New York.

Situation hat ihren Preis

Beides möge uns erspart bleiben, aber aus unserem Schlaf müssen wir aufwachen. Die Welt ist nicht mehr wie vor dem Kalten Krieg. Gott sei Dank! Aber die neue Situation hat ihren Preis. Mehr Freiheit, mehr Selbstverantwortung, mehr Grenzenlosigkeit, mehr Risiken.

In Deutschland fehlen nach der politischen von 1989 eine mentale Revolution, das bürgerschaftliche Engagement und das zivilgesellschaftliche Selbstbewusstsein. Die Vorteile und Möglichkeiten der Freiheit werden verschlafen. Darum geht meine Hoffnung für die nächsten Jahre dahin, dass sich in Deutschland Einsicht in die Realität einstellt.

Soziale Verantwortung

Die Hartz-Reformen sind sicherlich ein Schritt in die richtige Richtung. Ein erstes Klopfen an die Tür der Schläfer. Das freilich bedeutet nicht, dass wir unsere soziale Verantwortung preisgeben.

Ich habe die Befürchtung, dass bei unserer deutschen Gründlichkeit die ersten, die in der bitteren Realität landen, gerade jene sind, die wirklich Hilfe brauchen. Und dass diese Menschen zu einem Spielball der Politik werden, um die Veränderungen hinauszuschieben, die im Zeitalter der Globalisierung notwendig sind.

Blindlings gestrichen

Es kann nicht darum gehen, dass die Blinden ihre Blindenhunde finanzieren müssen, dass die chronisch Kranken für ihre Medikamente selbst aufkommen müssen, dass in den Altersheimen das Pflegepersonal blindlings gestrichen wird.

Unser solidarischer Blick auf die Welt, auf unsere Mitmenschen, auf unsere Nachbarn muss mit dem kritischen Blick auf uns selbst und mit unserer Bereitschaft zu Veränderungen verbunden bleiben. Mich erinnert die Situation an 1989. Wir müssen uns selbst befreien, um befreit zu werden aus unserem tiefen Schlaf, von unseren falschen Hoffnungen, unseren überzogenen Erwartungen. Wir müssen erfüllt sein von Ungeduld und dem Verlangen nach einem Leben in der Realität, einer Neugier auf sie, dem Glauben und dem Wunsch, dass wir ihre Herausforderungen bewältigen.

"Einen schönen ebenen Weg"

Der Philosoph Ludwig Wittgenstein schrieb 1945: Es ist, als hätte ich mich verirrt und fragte jemand nach dem Weg nach Hause. Er sagt, er wird mich führen und geht mit mir einen schönen ebenen Weg. Der kommt plötzlich zu einem Ende. Und da sagt mein Freund: "Alles, was Du zu tun hast, ist jetzt noch von hier aus den Weg nach Hause zu finden".

Diesen Weg zu finden ist unsere größte Herausforderung, denn zu Hause fühlen sich viele Menschen nicht. Die Politik wird dieses "zu Hause" nicht für uns schaffen, denn sie ist selbst entwurzelt und muss ihre Aufgaben neu definieren. Nein, wir müssen diesen Weg allein finden, das wird mit und ohne Hartz-Reformen nicht leicht sein, weil er mit der Veränderung unseres eigenen Verhaltens zu tun hat.

Hoffen auf eine Nation

Kann ich mir, um auf Helmut Schmidts Ratschlag zurückzukommen, noch eine Vision von Deutschland zutrauen?

Ja, ich hoffe auf eine Nation, in der es einen Andrang der Bürger für Mitarbeit in den Parteien, den Gewerkschaften, den Kirchen, den Bürgerinitiativen, den Kommunen, den Medien, den Hilfsorganisationen und in vielen neu zu findenden Arbeitsbereichen gibt. Weil dieses Land unsere Angelegenheit ist.

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