Wer Visionen hat, soll ja laut
Altbundeskanzler Schmidt zum Arzt gehen. Wenn ich mich meinen Phantasien
überlasse, sieht die Zukunft oft so schwarz aus, dass mir wahrscheinlich
ein Arzt kaum helfen könnte.
Warum diese Schwarzseherei? Eigentlich
hat sich eine Vision schon 1989/1990 erfüllt, wurde doch mehr möglich,
als wir uns in Ost und West vorstellen konnten. Deutschland ist ein
demokratisches Land in einem friedlich verbundenen Europa geworden. Die
noch bestehenden Probleme am Rande des Kontinents, in Nordirland oder in
Süd- und Osteuropa, machen fast vergessen, welche Gefahren die Teilung
Europas in sich barg und wie schlecht die Aussichten auf einen Wandel
zum Guten waren.
Die Chancen des Neuen
Aber, so legen es meine Erfahrungen und die Beobachtung der Gegenwart
nahe, die Deutschen haben weithin die Chancen des Neuen noch nicht
begriffen. Die Wiedervereinigung war eine Chance, Veränderungen in
beiden Teilen Deutschlands in Gang zu setzen. Der hoffnungsvolle
Aufbruch und der Wille zur Veränderung der Gesellschaft im Osten nach
jahrelang auferlegter Stagnation und erzwungener Passivität sind
versandet.
Nun erscheinen 40 triste Jahre
"Sozialstaat DDR" im nostalgischen Glanz. Vergessen sind die eintönige
Grundverpflegung, die Pflicht zur ungeliebten und zugeteilten Arbeit,
die Minimalrenten und niedrigen Löhne, die durch Umleitung verordneten
Studienplätze, die mühselig ergatterten Zelturlaube am verschmutzten
Ostseestrand, die Intensivhaltung in Einheitswohnblöcken und die
niedrigen Preise in den Verkehrsmitteln mit begrenzter Reichweite.
Kein Umdenken eingesetzt
Aber auch im Westen hat kein Umdenken
eingesetzt. Dort war man offenbar vor 1989 für die sozialen
Entwicklungen blind. Unter Sozialstaat wurde die Subventionierung von
Arbeitsunwilligen oder von Aussteigern verstanden und als soziale
Leistung das Anwachsen einer Armee von Sozialhilfeempfänger gepriesen.
Die Versorgungsmentalität in Ost und West ist die gleiche, nur die
Erwartungen an den Staat sind im Westen auf einem höheren Niveau.
Diese Art von Versorgungsmentalität habe
ich nicht auf den Straßen in New York oder in Sarajewo erlebt. Dafür
eine andere Art von Solidarität. Vielleicht ist diese das Ergebnis des
plötzlichen Sturzes aus einem tiefen Schlaf in einen heißen Krieg wie in
Sarajewo oder die Reaktion auf die bittere Erfahrung, dass der Mensch
sich zuerst einmal selbst helfen muss wie in New York.
Situation hat ihren Preis
Beides möge uns erspart bleiben, aber aus
unserem Schlaf müssen wir aufwachen. Die Welt ist nicht mehr wie vor dem
Kalten Krieg. Gott sei Dank! Aber die neue Situation hat ihren Preis.
Mehr Freiheit, mehr Selbstverantwortung, mehr Grenzenlosigkeit, mehr
Risiken.
In Deutschland fehlen nach der
politischen von 1989 eine mentale Revolution, das bürgerschaftliche
Engagement und das zivilgesellschaftliche Selbstbewusstsein. Die
Vorteile und Möglichkeiten der Freiheit werden verschlafen. Darum geht
meine Hoffnung für die nächsten Jahre dahin, dass sich in Deutschland
Einsicht in die Realität einstellt.
Soziale Verantwortung
Die Hartz-Reformen sind sicherlich ein
Schritt in die richtige Richtung. Ein erstes Klopfen an die Tür der
Schläfer. Das freilich bedeutet nicht, dass wir unsere soziale
Verantwortung preisgeben.
Ich habe die Befürchtung, dass bei
unserer deutschen Gründlichkeit die ersten, die in der bitteren Realität
landen, gerade jene sind, die wirklich Hilfe brauchen. Und dass diese
Menschen zu einem Spielball der Politik werden, um die Veränderungen
hinauszuschieben, die im Zeitalter der Globalisierung notwendig sind.
Blindlings gestrichen
Es kann nicht darum gehen, dass die
Blinden ihre Blindenhunde finanzieren müssen, dass die chronisch Kranken
für ihre Medikamente selbst aufkommen müssen, dass in den Altersheimen
das Pflegepersonal blindlings gestrichen wird.
Unser solidarischer Blick auf die Welt,
auf unsere Mitmenschen, auf unsere Nachbarn muss mit dem kritischen
Blick auf uns selbst und mit unserer Bereitschaft zu Veränderungen
verbunden bleiben. Mich erinnert die Situation an 1989. Wir müssen uns
selbst befreien, um befreit zu werden aus unserem tiefen Schlaf, von
unseren falschen Hoffnungen, unseren überzogenen Erwartungen. Wir müssen
erfüllt sein von Ungeduld und dem Verlangen nach einem Leben in der
Realität, einer Neugier auf sie, dem Glauben und dem Wunsch, dass wir
ihre Herausforderungen bewältigen.
"Einen schönen ebenen Weg"
Der Philosoph Ludwig Wittgenstein schrieb
1945: Es ist, als hätte ich mich verirrt und fragte jemand nach dem Weg
nach Hause. Er sagt, er wird mich führen und geht mit mir einen schönen
ebenen Weg. Der kommt plötzlich zu einem Ende. Und da sagt mein Freund:
"Alles, was Du zu tun hast, ist jetzt noch von hier aus den Weg nach
Hause zu finden".
Diesen Weg zu finden ist unsere größte
Herausforderung, denn zu Hause fühlen sich viele Menschen nicht. Die
Politik wird dieses "zu Hause" nicht für uns schaffen, denn sie ist
selbst entwurzelt und muss ihre Aufgaben neu definieren. Nein, wir
müssen diesen Weg allein finden, das wird mit und ohne Hartz-Reformen
nicht leicht sein, weil er mit der Veränderung unseres eigenen
Verhaltens zu tun hat.
Hoffen auf eine Nation
Kann ich mir, um auf Helmut Schmidts
Ratschlag zurückzukommen, noch eine Vision von Deutschland zutrauen?
Ja, ich hoffe auf eine Nation, in der es
einen Andrang der Bürger für Mitarbeit in den Parteien, den
Gewerkschaften, den Kirchen, den Bürgerinitiativen, den Kommunen, den
Medien, den Hilfsorganisationen und in vielen neu zu findenden
Arbeitsbereichen gibt. Weil dieses Land unsere Angelegenheit ist.