20 Jahre NEUES FORUM
»Eine
Bewegung erweist sich als
erfolgreich, wenn sie zerfällt«
Bärbel
Bohley, September 2009
Es ist schwer, selbst einen
Abstand zu dem Geschehen im
Herbst 1989 zu gewinnen,
vielleicht gerade deshalb, weil
ich den Aufbruch der
Gesellschaft lange ersehnt hatte
und nicht ganz unbeteiligt daran
war. Ein Satz von Hegel, der
mich seit Langem beschäftigt,
hilft mir dabei. Deshalb ist er
zur Überschrift dieses Textes
geworden.
An einer Berliner
Eisenbahnbrücke steht eine noch
gut sichtbare Losung: »Wir
wollten nicht ein Stück vom
Kuchen, wir wollten die ganze
Bäckerei«. Ja, das wollten wir.
Wir wollten mitbestimmen, welche
Zutaten in den Brotteig kommen,
denn wir haben lange genug
altbackenes oder verschimmeltes
Brot vorgesetzt bekommen. Es
wird uns noch heute serviert.
Darum wollen wir noch immer die
ganze Bäckerei und mitbestimmen,
was und wie gebacken wird.
Entweder erzählt man die
Geschichte aus dem Blickwinkel
der politischen Opposition in
der DDR oder von dem Ergebnis
her, mit dem das »tolle Jahr«
endete. Sie hat aber noch eine
dritte Dimension, die meistens
nicht gesehen wird. Für mich ist
es eine Geschichte, die auf der
Straße, unter freiem Himmel,
begann, und darin liegt ihre
besondere Ausstrahlungskraft.
Der Herbst 1989 in der DDR ist
die Geschichte der
Selbstorganisation der
aufgestauten demokratischen
Potentiale in fast allen
Schichten der Bevölkerung. Für
mich ist nicht der Zusammenbruch
des verdorrten Staatsgerippes
der Diktatur der maßgebliche
Vorgang, sondern der großartige
Aufbruch der Bürger, der ihn
bewirkte.
Der ursprüngliche Impuls ihrer
Suche nach der neuen Gestalt des
Gemeinwesens und seine
dynamische Ausbreitung werden
bis heute nicht hinreichend
verstanden. Je mehr die
Geschehnisse des Herbstes 89
Geschichte werden, desto weniger
finden sie einen Platz als
kollektives Erleben im
gesellschaftlichen Gedächtnis.
Jeder hat wieder nur seine
eigene Geschichte, die er oft
selbst nicht versteht, weil sie
fundamentale Brüche aufweist.
Im Herbst 1989, der eigentlich
vom September 1989 bis in den
März 1990 reichte, fand ein
unausgesetzter, landesweit fast
gleichzeitiger Aufbruch statt,
an dem sich aktiv mindestens
zwei Millionen Menschen
beteiligten – in sämtlichen
großen Städten, in allen
mittleren Städten, in vielen
Kleinstädten, ja bis in die
Dörfer hinab. Es war die größte
Demokratiebewegung der deutschen
Geschichte bisher.
Die Politik fand plötzlich unter
freiem Himmel statt – auf der
Straße entfaltete sich jene
Dynamik und konnte sich nur dort
entfalten. Es charakterisiert
diese sechs Monate gerade, dass
die politischen Prioritäten von
demonstrierenden Mehrheiten
gesetzt wurden. Die »große
Politik« dagegen musste jeweils
nachfolgen und konnte erst auf
dem Terrain, das die
Bürgerbewegungen abgesteckt
hatten, wieder ihre tradierten
Gebäude errichten.
Ich werde die Begeisterung nicht
vergessen, die nicht nur die
Ostdeutschen erfasst hatte. Die
ganze Welt schien mitgerissen zu
werden und teilte die
Begeisterung an unserem
lebendigen, lustvollen Protest.
Den Traum, dass eine andere
Gesellschaft möglich ist,
träumte ich schon lange. Aber
dann wurde der Traum
Wirklichkeit und gewann Gestalt,
und dies in einer
Geschwindigkeit, dass man von
der Realität mitgerissen wurde,
beinah überrollt wurde von dem
Geschehen und Mühe hatte, den
Kopf oben zu behalten.
Für mich war die Vorgeschichte
des Herbstes nicht eben ruhig
und betulich, sie fängt mit
meiner Wiedereinreise in die DDR
im August 1988 an. Ich war aus
der Haft in Hohenschönhausen
wegen »staatsfeindlicher
Aktivitäten« direkt in den
Westen ausgewiesen worden und
hatte wenig Hoffnung, dass man
mich wieder in die DDR einreisen
lassen würde. Meine
Wiedereinreise empfand ich als
Sieg all derer, die sich wie ich
jahrelang bemüht hatten, in der
DDR ein Zeichen von
eigenständigem Denken und
Handeln zu setzen.
Die enormen Probleme in allen
gesellschaftlichen Bereichen
waren längst allen bewusst, aber
in der Öffentlichkeit wurden sie
von der Politik unter den Tisch
gekehrt. Diejenigen, die sie
benennen oder verändern wollten,
mussten mit Repressionen bis hin
zur Verhaftung rechnen. Kaum ihr
eigenes Leben konnten die
Menschen in die Hand nehmen,
schon gar nicht das
gesellschaftliche. Unzählige
waren als Einzelkämpfer gegen
den Staat angetreten. Ihre
Geschichte war oft entmutigend
und deprimierend, denn sie
endete meist im Gefängnis. Bis
heute haben viele ihre Traumata
nicht überwunden. Ich hatte das
Glück, immer wieder durch viele
Freunde und Gleichgesinnte
unterstützt zu werden.
Wie aber konnte, musste der Raum
beschaffen sein, in dem die
DDR-Bürger Mut fanden, zu
sprechen, zu handeln und sich zu
solidarisieren?
Bisher hatten fast alle
oppositionellen Gruppen nur
unter dem Dach der Kirche agiert
und sich damit zugleich
isoliert. In der Isolierung
wurden die Auseinandersetzungen
besonders kleinkariert, wenn
auch heißblütig geführt. Die
Zersetzungsmaßnahmen der Stasi
wirkten durchaus und schürten
das Misstrauen der Gruppen
untereinander. Für den
Außenstehenden, für den
durchschnittlichen DDR-Bürger,
sah das alles wie eine
Ansammlung von Aussteigern,
Gescheiterten, Halbgebildeten
und Kirchenvertretern aus, die
wenig Anziehungskraft besaß.
Das Kirchendach bot zwar den
Gruppen einen gewissen Schutz,
aber es war nicht der Ort, unter
dem sich die Menschen zu Hause
fühlten und aktiv werden
wollten, denn der größte Teil
der Bevölkerung war atheistisch.
Selbst Sympathisanten gingen
nicht in die Kirche, auch nicht,
um ein paar Oppositionellen und
Friedensbewegten zuzuhören.
Nach meiner Rückkehr aus dem
Westen in die DDR kamen die
unterschiedlichsten Menschen zu
mir. Sie wollten sich
außerkirchlich organisieren und
verschiedene
Handlungsmöglichkeiten
diskutieren. Rudolf Tschäpe und
Reiner Meinel aus Potsdam
wollten bereits im Herbst 1988
die SPD gründen
Aber eine Partei mit fünf
Mitgliedern zu gründen erschien
mir als der zweite Schritt vor
dem ersten. Ich war überzeugt,
wichtiger sei es, die Menschen
zu bestärken, sich überhaupt
öffentlich zu artikulieren und
zu organisieren – ganz egal wo,
in eigenen Gruppen, neuen
Parteien oder in der
allgegenwärtigen SED. In der
Gesellschaft herrschte Atemnot,
sie brauchte Luft, und die
konnte ihr nur ein breit
angelegter Dialog verschaffen.
Der Diskurs im öffentlichen Raum
war die Voraussetzung jeder
Veränderung.
Viele Menschen sahen keine
Chance mehr, in der maroden DDR
die Gegebenheiten zu verändern.
Sie hatten das Gefühl: Ich bin
am Ende, der Staat ist nur noch
eine leere Hülse, und ich habe
keine Kraft mehr, mich weiter
durch dieses Niemandsland und
seine Fallgruben zu schleppen.
Es entstand die Idee, eine
Gruppe ins Leben zu rufen, deren
Mitglieder nicht nur dem
kirchlichen Umfeld angehörten.
Es sollten Menschen aus allen
gesellschaftlichen und sozialen
Bereichen sein. Die
Vorbereitungen begannen im
Sommer 1988 und dauerten bis zum
Herbst 1989. Um die
Einflussmöglichkeiten der Stasi
möglichst auszuschalten, wurde
zunächst nur mit Einzelnen
mündlich über das Vorhaben
beraten. Jeder Angesprochene war
bereit mitzumachen. Trotzdem war
es eine Überraschung, dass wir
bei unserem ersten gemeinsamen
Treffen am 9. und 10. September
1989 im Haus von Robert Havemann
in Grünheide den Aufruf »Die Zeit
ist reif« tatsächlich
übereinstimmend verfassen und
beschließen konnten. Jens Reich
und Rolf Henrich hatten jeweils
einen Entwurf im Gepäck. Beide
wurden diskutiert, es wurde an
jedem Satz herumgefeilt. Der
eine Gedanke rein, der andere
raus. Aber ohne die üblichen
Haarspaltereien waren
schließlich alle einverstanden,
den Aufruf zu unterschreiben.
Wir fühlten, die Zeit drängt.
Die dreißig Erstunterzeichner
des Aufrufes waren mit ihren
Namen und Adressen die ersten
Kontaktstellen für Menschen, die
bereit waren, sich dem Aufruf
anzuschließen. Den Appell
schickten wir an alle wichtigen
DDR-Medien, einige Westmedien
und alle uns bekannten
Sympathisanten und Freunde. Die
DDR-Medien schwiegen ihn tot,
aber über die bundesdeutschen
Radio- und Fernsehsender wurde
er in der DDR sofort bekannt.
Eine überraschende Welle der
Zustimmung setzte ein. Innerhalb
von wenigen Tagen unterschrieben
Tausende den Aufruf. Tag und
Nacht standen bei mir die Türen
offen und Menschen kamen, um
sich Informationsmaterial zu
holen. Der Aufruf wurde
verteilt, abgeschrieben,
gelesen, diskutiert und
unterschrieben. Tag und Nacht
waren wir im Einsatz. Ich
erinnere mich an zwei Fahrer
eines Rettungswagens, die weit
nach Mitternacht auf dem Weg zur
Charité bei mir Halt machten und
den Aufruf unterzeichnen
wollten. Der Ansturm der
Interessierten war
überwältigend.
Die Gesellschaft begann
aufzubrechen – in mehrfachem
Sinn. Die einen flüchteten über
Ungarn, Polen und die
Tschechoslowakei in den Westen,
die anderen wollten endlich in
der DDR ihre Lebenswelt ihren
Bedürfnissen anpassen. Was auch
immer man forderte, wo immer man
anfing – eine Forderung ergab
die nächste. Es war eine Kette
ohne Ende. Wollte man z. B. die
Umweltproblematik auf die
Tagesordnung der Gesellschaft
heben, musste man vorher gegen
die Lüge der staatlichen Organe
aufstehen, dass bei uns alles in
Ordnung sei, obwohl jeder die
Umweltprobleme vor seiner
Haustür kannte, vielleicht sogar
selbst ein krankes Kind hatte
oder eine Krankheit, die in
kausalem Zusammenhang mit der
entsetzlichen Ausbeutung der
Natur stand.
Die Bevölkerung hatte
jahrzehntelang wider besseres
Wissen mitgelogen und fühlte
sich mitschuldig an dem
katastrophalen Zustand der
Gesellschaft. Damit sollte jetzt
Schluss sein. Um der Wahrheit
straffrei zu ihrem Recht zu
verhelfen, brauchte man jedoch
die Menschenrechte, wie Presse-,
Meinungs-, Versammlungs- und
Reisefreiheit. Und um die
wiederum durchzusetzen, musste
die SED letztendlich ihren
Allmachtsanspruch aufgeben. Den
größten Druck auf die
Staatsmacht übten die täglichen
und überall stattfindenden
Massendemonstrationen aus.
Dies alles geschah unter den
Augen der entgeisterten
Staatsmacht, die bis dahin auf
Biegen und Brechen jede
Veränderung verhindert hatte. Am
Rande der Feiern zum 40.
Jahrestag der DDR protestierten
überall Tausende, damals noch
für die demokratische Erneuerung
des Sozialismus. In Ostberlin
wurden sie von der Polizei
niedergeknüppelt und verhaftet.
Die Montagsdemonstration am 9.
Oktober in Leipzig war der
Durchbruch. Sie hatte bereits
70.000 Teilnehmer. Hier erklang
zuerst der Ruf »Wir sind das
Volk«. Er verwies die Staatmacht
auf den ihr gebührenden Platz,
die Bürger reklamierten jetzt
die Macht für sich und sprachen
sie damit den Herrschenden ab.
Am 11. Oktober 1989 bot die
SED-Führung zum ersten Mal seit
Bestehen der DDR dem Volk einen
»Dialog« an.
Die Verhältnisse hatten zu
tanzen begonnen, aber es war
eine Polka, bei der jedem
schwindlig wurde. Nicht nur uns,
sondern allen Zuschauern, auch
den Politikern im Ausland. Und
wer von ihnen heute sagt, er
habe den Takt angegeben, der
lügt.
Dass von Seiten der Sowjetunion
keine militärische Intervention
stattfand, ist vor allem der
Perestroikapolitik Gorbatschows
zu verdanken und dem bis ins
Innerste geschwächten
sowjetischen Imperium. Auch dort
liefen in allen Bereichen die
Verhältnisse aus dem Ruder. Im
Sommer hatten bereits 250.000
Bergarbeiter gestreikt, die
neben der Schaffung von
politischen Rechten vor allem
eine Verbesserung der konkreten
Lebensumstände forderten.
Wir versuchten, dem Neuen Forum
eine Struktur zu geben.
Landesweit bildeten sich bis in
die kleinsten Gemeinden hinein
Kontaktstellen und
Arbeitsgruppen zu allen
drängenden Themen: Wirtschaft,
Politik, Justiz,
Menschenrechtsproblematik,
Staatssicherheit, Bildungs- und
Gesundheitswesen, Umwelt,
Kultur, Medien usw. In Weimar
hatten sich bereits Anfang
Oktober Hunderte organisiert. An
einem einzigen Tag nahmen elf
Arbeitsgruppen zu den
verschiedensten Themen ihre
Arbeit auf. Menschen, die sich
bis dahin überhaupt nicht
kannten, diskutierten
miteinander, analysierten die
Situation, verabredeten sich zu
Aktionen, suchten nach Auswegen
aus dem Niedergang des Systems.
Sie vergaßen ihre Angst vor der
Stasi, dem Gefängnis und all
ihre schlechten Erfahrungen.
Keiner wollte mehr passiv sein.
Während bis dahin kaum jemand
den Mut hatte, sich mit seinem
Namen zu seinen Gedanken zu
bekennen, wollte jetzt niemand
mehr namenlos sein. Die Menschen
wollten die Veränderungen
mitbestimmen und mitgestalten.
Und das war im ganzen Land so.
Nichts war uns zu groß, als dass
wir es nicht angepackt, nichts
war uns zu klein, als dass wir
uns nicht darum gekümmert
hätten. Ich denke an die
Auflösung der Armee, an die
Aufdeckung der Schweinereien in
Rossendorf ... Ich denke auch an
die Roma und Sinti, die aus
Hamburg ausgewiesen werden
sollten, um deren Aufnahme in
die DDR wir uns bemühten, oder
an das ungewisse Schicksal der
Vietnamesen, die in der DDR wie
Arbeitssklaven gearbeitet hatten
und jetzt, wo sie nicht mehr
gebraucht wurden, wieder nach
Vietnam zurückgeschickt werden
sollten.
Am 7. Dezember 1989 nahm der
Zentrale Runde Tisch seine
Arbeit auf. Im ganzen Land, auf
allen Ebenen, entstanden in den
nächsten Wochen nach seinem
Vorbild und zu allen Themen
ebenfalls Runde Tische. Die
Runden Tische und die neu
entstandenen Arbeitsgruppen
handelten unabgesprochen und
selbständig nach den gleichen
Prinzipien. Ihre spontane
Arbeitsgrundlage war immer
Selbstorganisation, inhaltliche
Selbstbestimmung, wechselseitige
Gewaltlosigkeit, sachpolitische
Konsensfähigkeit, sozialer
Orientierungssinn und soziale
Grundsolidarität.
Die Arbeit war nicht einfach nur
fruchtbar, sondern oft
nervenaufreibend, denn wer saß
da nicht alles an diesen Tischen
und in den Arbeitsgruppen! Neben
dem Kompetenten der gut meinende
Spinner oder Blockierer, der
Ängstliche neben dem
Ungeduldigen, der frühere
Verantwortungsträger neben dem
bislang Ausgegrenzten. Trotzdem
barg die Arbeit in den neuen
Gruppen, Parteien,
Organisationen und an den Runden
Tischen ein riesiges
Gestaltungspotenzial. Es war
eine demokratische Praxis.
Und immer wieder
Bürgerversammlungen,
Demonstrationen, Proteste.
Tausende gingen auf die Straße
und demonstrierten, sie
besetzten staatliche
Einrichtungen wie Ministerien,
Rathäuser, Kasernen und
Staatssicherheitseinrichtungen.
Sie öffneten und durchsuchten
geheime Archive.
Betriebsdirektoren wurden
abgesetzt und neue eingesetzt.
Es wurde begonnen, an den Runden
Tischen die städtische wie die
staatliche Ordnung neu zu regeln
– und niemand glaubte, dass drei
Jahre später keine Fabrik, keine
Mietwohnung, keine Behörde mehr
existieren würde, deren
damaliger Status noch anerkannt
wäre.
Nach den Wahlen am 18. März 1990
bekamen die Ereignisse eine
besondere Dynamik, welcher der
normale Bürger kaum noch folgen
konnte. Acht Wochen später wurde
der Staatsvertrag zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und
der DDR vereinbart – wie wir
heute wissen, im Wesentlichen
ausgehandelt von den Mächtigen
des damaligen Westdeutschlands
und halbseidenen Vertretern der
DDR. In ihm wurden die Grundzüge
der Vereinigung beider Staaten
festgelegt und die Währungs-,
Wirtschafts- und Sozialunion
vereinbart, die am 1. Juli 1990
in Kraft trat. Die D-Mark wurde
Zahlungsmittel in der DDR. Das
verschärfte die ökonomische
Situation deutlich. Die ersten
Fabriken wurden geschlossen, die
ersten Menschen arbeitslos.
Die Ereignisse, Neuigkeiten,
Nachrichten und Gerüchte
überschlugen sich und waren für
den Einzelnen kaum noch
nachvollziehbar oder
durchschaubar. Die
Geschwindigkeit, mit der
Entscheidungen getroffen und
durch die parlamentarischen
Gremien gepeitscht wurden,
grenzte an
Verantwortungslosigkeit. Die
künftigen Konsequenzen für jeden
von uns und die ganze
Gesellschaft wurden nicht mehr
diskutiert. Alle während der
Revolutionszeit ausformulierten
Standpunkte – wie z. B. die
Verfassung des Runden Tisches,
die Neuordnung der Medien, der
Umbau des Bildungswesens –
wurden fallengelassen. Das Volk
war schon wieder marginalisiert.
Im historischen Minutentakt
waren 1989 die Umschwünge in
Prag, in Warschau, Budapest,
Bukarest, Sofia usw. erfolgt.
Aber dort blieben die
Demonstrationen überwiegend auf
die Hauptstädte beschränkt,
während sie in der DDR das ganze
Land erfassten. Die
Bürgerbewegungen haben aber
nicht nur die innenpolitischen
Verhältnisse vom Kopf auf die
Füße gestellt, auch
weltpolitisch haben sie
erfolgreich gewirkt. Das
Ergebnis schreiben sich heute
jedoch die Politiker auf ihre
Fahnen.
Bis 1989 sahen die wenigsten,
dass man am Status quo rütteln
könne. Die weitaus größere
Mehrheit dachte, den Frieden in
Europa, sogar den Weltfrieden,
nur durch die Beibehaltung der
Machtverhältnisse
aufrechterhalten zu können.
Darum bekam die DDR die
Strauß-Kredite und wurde Erich
Honecker mit einer Einladung in
die Bundesrepublik aufgewertet.
Um den Status quo tief greifend
und positiv zu verändern,
brauchte die Geschichte nach
sechzig Jahren Kaltem Krieg
selbständig und unabhängig
Handelnde – das waren die
Bürgerbewegungen Osteuropas.
Diese Veränderung hätte so
kraftvoll und spontan niemals
von oben erfolgen können. Es
wären noch jahrzehntelang
Konjunkturpakete für den Osten
geschnürt worden, um ihn am
Leben zu erhalten. Der große
Umbruch von 1989 hat inzwischen
die ganze Weltpolitik, alle
Kräfteverhältnisse verändert,
und ein Ende der Veränderungen
ist nicht abzusehen.
Sehen wir einmal von seiner
jahrzehntelangen Vorgeschichte
ab, dann nahm der eigentliche
politische Durchbruch zur
Selbstbestimmung von unten in
Deutschland seinen Anfang –
genauer: in Ostdeutschland, in
der damaligen DDR. Hier begann
das Ende der Nachkriegszeit für
Europa. Das wurde in den letzten
zwanzig Jahren oft vergessen,
wir haben es selbst vergessen,
und anstelle des damaligen
Gestaltungswillens und
Selbstbewusstseins ist ein
Gefühl der Überforderung und
Niedergeschlagenheit getreten.
Das Kräfteverhältnis in der Welt
hat sich zwar grundlegend
geändert, doch Ungerechtigkeit,
Ausbeutung von Menschen,
Zerstörung von Kulturen, Umwelt,
die Vergeudung von Ressourcen,
riesige Waffenarsenale und neu
sich aufbauende Ideologien
gefährden nach wie vor die
Weltgemeinschaft. Vom »Ende der
Geschichte« sind wir jedenfalls
weit entfernt.
Ich bin oft gefragt worden, ob
der Mauerfall zu früh kam. Ja,
ich glaube, er ist zu früh
gekommen. Er hätte erkämpft
werden müssen und nicht als
Toröffnung durch die Torwächter
eintreten dürfen. Die Mauer
fällt plötzlich, und alle sind
platt und stehen sprachlos da.
Wir hätten Zeit gebraucht, um
das Terrain zu klären und uns
einen Weg durch das Dickicht des
DDR-Erbes zu schlagen, um selbst
zu wissen, welche Forderungen
wir stellen müssen und wie sie
umzusetzen sind.
Die lebendige, friedliche, aber
mächtige Kraft der Straße hatte
die bisherigen Erfahrungen der
politischen Klasse außer Kraft
gesetzt, und das machte ihr
Angst. Einigen Politikern in Ost
und West grauste es sicher. Wie
geht das weiter? Wo soll das
noch hinführen? Auch die alte
Bundesrepublik steckte in einem
Entwicklungsstau, und etliche
Veränderungen standen an.
Der BND meldete am 25. April
1990 ans Kanzleramt, ans
Auswärtige Amt und ans
Bundesministerium für
innerdeutsche Beziehungen:
Die Bürgerbewegungen streben
eine Nivellierung der
Gesellschaft an. Sie verfolgen
den »dritten Weg«, den
demokratischen Sozialismus, wie
ihn etwa Bahro vorgezeichnet
hat. Sie stehen einem Neubeginn
im Wege. Zentrale Frage wird
sein: Kann die Arbeit der
Bürgerkomitees unterbunden
werden?[1]
Diese vier Sätze lassen ahnen,
was zu dieser Zeit hinter den
geschlossenen Türen abgelaufen
ist, um den direkten Einfluss
der Bürgerbewegung abzuwenden.
Unsere Demokratiebewegung wurde
nicht als Ferment im
gesellschaftlichen Umbau
gesehen, sondern als Störfaktor
im vereinigten Deutschland
begriffen.
Einer der ersten künftigen
Partner und Ratgeber der
Bundesrepublik war Schalck-
Golodkowski, der bereits am 2.
Dezember 1989 das sinkende
Schiff verlassen hatte und in
die Bundesrepublik geflüchtet
war. Er war in der Wendezeit ein
gesuchter Mann, denn er hatte
die Devisen für die
DDR-Wirtschaft unter anderem
durch Embargo- und
Waffengeschäfte, Intershops,
Antiquitätendiebstähle und
Schmuggel beschafft. Warum hat
die politische Elite des Westens
sich gerade mit diesem Mann über
die Bedingungen eines Neubeginns
beraten? An jenem 25. April
vermeldet der BND außerdem:
Der Vorschlag von Bundeskanzler
Kohl und Bundesminister Schäuble
zu einer Amnestie für die
Mehrzahl der MfS-Mitarbeiter,
sofern diese keine Verbrechen
begangen haben, wurde von
Schalck begrüßt: Wenn dieser
Personenkreis nicht mehr
ausgegrenzt werde, könne dies
positive Auswirkungen auf die
innere Situation der DDR haben.
Schalk geht jedoch davon aus,
dass die basisdemokratischen
Gruppen diesen Vorschlag
ablehnen werden.[2]
Was bedeutet es, dass hier mit
einem Stasi-Mann über den Umgang
mit der Stasi beraten wurde, die
in der Bürgerbewegung immer nur
einen Racheengel gesehen hatte?
Diese Sicht wurde von den
politischen Vertretern der
Bundesrepublik geteilt. Sie
verstanden den konstruktiven
Ansatz der Demokratiebewegung
nicht, der sich in der
anfänglichen Forderung »Stasi in
die Produktion« ausdrückte.
Was hat die Bürgerbewegung denn
anderes getan, als eine stille
Amnestie auszusprechen? Was
bedeutete denn die hartnäckig
verteidigte Gewaltlosigkeit
anderes? Aber die Amnestie
durfte nicht von oben kommen,
wenn sie ein Neuanfang sein
sollte. Von uns aus gesehen,
bekam jeder die Chance, sich zu
erklären und sein Leben zu
ändern. Die wenigsten haben
davon Gebrauch gemacht.
Der anarchische Aufbruch des
Herbstes 89 in die Freiheit hat
nicht lange gedauert, aber er
ist unvergessen. Unser Wille zu
gesellschaftlicher
Selbstorganisation wurde bald
gebrochen. Sich Hineinfinden in
das andere System wurde binnen
Kurzem die wichtigste Aufgabe
für jeden Einzelnen von uns.
Die Zeit nach 1989 barg viele
Möglichkeiten zur
Selbstverwirklichung. Begrabene
Hoffnungen und Wünsche wurden
lebendig und nicht selten
realisiert. Endlich noch einmal
studieren, sich eine neue
Existenz aufbauen, in seinem
Beruf Bestes leisten, ohne
Mitglied einer Einheitspartei
werden zu müssen, Reisen,
Sprachen lernen, alle Zeitungen
und Bücher, die man interessant
findet, lesen, alle Filme und
Theaterstücke sehen können, die
man möchte, oder ein Haus in
sauberer Umwelt bauen und das
Auto fahren, das man sich schon
immer erträumt hatte – all jenes
hat die letzten Jahre
ausgefüllt.
Für viele ist es aber auch ganz
anders gekommen. Sie haben
jahrelang vergeblich versucht,
einen persönlichen Neuanfang zu
finden. Stattdessen sind sie in
neue soziale Abhängigkeit oder
gar Arbeitslosigkeit gestürzt,
haben nur die schlechtesten Jobs
bekommen und am Rande des
Existenzminimums gelebt. Ihr
Wissen und ihre Lebenserfahrung
waren nicht mehr gefragt. Zwar
ist keiner verhungert, aber die
sozialen Beziehungen und das
soziale Umfeld sind zerfallen.
Die Menschen sind aus dem an
ihnen vorbeiziehenden
wechselvollen Leben
ausgeschlossen, sie führen ein
subventioniertes Leben weit
entfernt von der Freiheit,
dieses Leben selbständig
bestimmen zu können. Abhängig
von allen Entscheidungen der
Politik, sind sie auch wieder
anfällig für jede Beeinflussung
durch die Politik.
»Auch die Bundesrepublik hat
sich verändert. Früher hast du
nur Arbeit bekommen, wenn du gut
gearbeitet hast, heute bekommst
du nur Arbeit, wenn du einen
Zuschuss mitbringst. Daran wird
sich vorläufig nichts ändern«,
sagte neulich ein
Arbeitssuchender zu mir. Die
Menschen wissen sehr genau, dass
sie belogen werden, und sie
schweigen wieder. Auch dieses
Schweigen wird eines Tages
enden.
Die letzten zwanzig Jahre sind
die komprimierte Geschichte
vieler Einzelwesen und ganzer
Gesellschaften, von der Elbe bis
zum Pazifik. Wenn man jedoch
versucht, sie als Ganzes zu
ordnen und zu bewerten, ist das
schier unmöglich. Ich bin
überrascht, mit wie viel Hast,
Hilflosigkeit und Unwissenheit
wichtige Entscheidungen für den
gesellschaftlichen Umbau der
Gesellschaft getroffen wurden,
andererseits erschüttert über
Skrupellosigkeit und
Gewissenlosigkeit, mit denen er
in weiten Teilen ohne
tatsächlichen Widerstand
durchgedrückt werden konnte.
Allerdings ist dies ist schon
längst keine ostdeutsche
Geschichte mehr.
Die mit dem Umbau der
Gesellschaft einhergehende
Liberalisierung der Märkte
bereitete der gegenwärtigen
Finanz- und Wirtschaftskrise den
Boden. Dass die Gewinne der
Banken privatisiert und die
Verluste sozialisiert werden,
ohne dass die Verantwortlichen
zur Rechenschaft gezogen werden,
zerstört das Vertrauen in die
soziale Marktwirtschaft und in
den Rechtsstaat. Die Zweifel am
Kapitalismus wachsen.
Nachdem ich zwölf Jahre vor
allem in Bosnien und Kroatien
gelebt und gearbeitet hatte, kam
ich im vergangenen Jahr nach
Deutschland zurück. Mein erster
Eindruck war: ein Tollhaus! Was
aus der Ferne halbwegs geordnet
aussah, erschien aus der Nähe
nur noch absurd und chaotisch.
Die öffentliche Debatte ist noch
flacher als Mitte der 90er
Jahre. Alle Nachrichten, obwohl
sie sich gegenseitig an
Neuigkeitswert übertreffen,
scheinen von der Realität längst
überholt zu sein. Tiefgründige
Analysen haben Seltenheitswert.
Die Mediensprache ist hektisch,
übereilt und fahrig geworden.
Wichtiger als das, was gesagt
wird, scheint zu sein, wie es
gesagt wird. Als hätte, wer am
schnellsten spricht, sich am
genauesten mit dem Thema
auseinandergesetzt.
In den Medien wird verkündet,
wir brauchen Traditionsfirmen
wie Quelle, Opel, Rosenthal,
Schiesser, um Arbeitsplätze zu
erhalten und weil sie Teil
unserer Geschichte sind. Bei
dieser Argumentation wird
vergessen, dass nicht alle
Deutschen diese Geschichte
teilen. Der andere Teil erinnert
sich an die Geschichte des
Kalibergwerks Bischofferode nach
1989 und an so manch andere
Ostfirma, die sicher auch auf
dem Markt nicht ohne Chance
gewesen wäre, wenn man sie ihr
gegeben hätte.
1989 war kein Jahr null für die
Menschheitsgeschichte, auch wenn
das einige Zeit so empfunden
wurde. Jeder Einzelne und jede
Gesellschaft haben ihre
Vergangenheit mit in die Zukunft
genommen und beurteilen die
Gegenwart mit den Maßstäben von
gestern. Auf diese Weise
blockieren wir eine ernsthafte
Auseinandersetzung mit dem Hier
und Heute. Während alle
Beteiligten ihre Vorurteile
pflegen, zieht die Gegenwart mit
ihren Problemen an uns vorbei.
Öffentliche Vergleiche von
Missständen in der DDR und
Fehlentwicklungen im
Gesamtdeutschland werden selbst
zwanzig Jahre nach der
Wiedervereinigung als unerhörte
Provokation aufgefasst. Sie
werden deshalb meist von
vornherein unterlassen, obwohl
sich eine Bezugnahme oft
aufdrängt. Die vom Neuen Forum
in der DDR eingeklagte
Kommunikation zwischen Staat und
Gesellschaft ist auch heute
gestört. Stattdessen führen wir
fruchtlose Dauerdebatten über
Themen, die mehr der Ablenkung
als der Erkenntnis dienen. Die
mannigfaltigsten, angeblich
gleich bedeutungsvollen Themen
wälzen sich, alles platt
machend, durch die
Medienlandschaft. Gestern war es
die Pflegeversicherung, heute
sind es die
Lebensmittelimitationen. Ist es
so schwer, ein Gesetz zu
verabschieden, das verbietet,
Lebensmittel irreführend zu
beschriften? Wo Käse draufsteht,
muss auch Käse drin sein. Eine
Kampagne folgt der nächsten.
Steuerhinterziehung,
Kinderpornografie, Waffenbesitz,
Finanzkrise, Wirtschaftskrise,
Schweinegrippe,
Atommüllentsorgung, Klimaschutz,
Walfangquoten, Wahlen – alles
Kampagnen, die die Probleme eher
verwischen, als greifbar machen.
Wir kennen das ja bereits, denn
wir haben vierzig Jahre von
Kampagne zu Kampagne gelebt.
Jetzt haben sie andere Inhalte
und werden ganzjährig von
Talksshows rund um die Uhr
begleitet – bis auch der letzte
Zuschauer eingeschlafen ist.
Im Halbdämmer nehmen wir noch
wahr, dass wir jetzt am
Hindukusch unsere Freiheit
verteidigen sollen. Aus unseren
Träumen wurden Albträume. Wie
nah waren wir ihr, als in Dessau
Arbeiter Gewehre auf Schienen
legten und die Straßenbahn
darüberfahren ließen! Jetzt sind
deutsche Soldaten seit sieben
Jahren in Afghanistan. Glauben
wir, dass wir es besser machen
als die Russen? Erfolg hätten
wir bei der Zivilbevölkerung
gehabt, wenn wir, nachdem die
Waffen zum Schweigen gebracht
wurden, großzügig Aufbauhilfe
geleistet und nach absehbarer
Zeit das Land verlassen hätten.
»Hilfe zur Selbsthilfe« ist der
Schlüssel, um das Vertrauen
jeder Zivilbevölkerung zu
gewinnen. Arbeit, Brot und ein
Dach über dem Kopf – das sind
die Voraussetzungen, um die
Gesellschaft zu zivilisieren.
Diesen Prozess aber müssen die
Völker letztendlich selbst
gestalten. Sie wissen, woher sie
kommen und wohin sie gehen
wollen. An uns liegt es, zu
sagen: So, jetzt nehmt euer
Schicksal in eure Hände! Wir
wollen euch helfen, aber wir
wissen nicht alles besser, und
wir können es nicht besser als
ihr, es ist euer Land, eure
Geschichte, eure Kultur. Tragt
ein Kopftuch, wenn ihr wollt,
aber geht in die Schule.
Inzwischen sind wir für die
Afghanen auch Teil einer
Besatzerarmee geworden, die von
Hilfe für die demokratischen
Kräfte spricht, aber eigentlich
schon in einem Krieg steht, der
auch die Zivilbevölkerung
trifft.
Wie schwierig es ist, in
kriegsgebeutelten Regionen
stabile Systeme aufzubauen, habe
ich in Bosnien gesehen. Die
Aufgaben sind komplex und schier
unendlich. In vierzehn Jahren
ist es der Internationalen
Gemeinschaft nicht gelungen, in
dieser gegenüber Afghanistan
winzigen Region, die zumal
politisch, wirtschaftlich und
kulturell viel enger mit
Westeuropa verbunden ist, die
Probleme zu lösen. Das müssen
die Bosnier ebenso wie die
Afghanen selbst tun. Wenn wir
als schwer bewaffnete
Besserwisser mit einer dicken
Brieftasche kommen, um »die
Demokratie« aufzubauen,
erreichen wir einzig das
Gegenteil. Wir sind keine Helfer
mehr, sondern nur Dummköpfe, die
nicht merken, dass sie denen in
die Hände spielen, die in diesen
Ländern ebenfalls auf Waffen und
Geld setzen. Die Menschen auf
der Straße aber beobachten die
Verbrüderung der Macht mit der
Macht und werden sich vor
Einmischung hüten, um nicht
zerrieben zu werden.
Die Demokratiebewegung des
Herbstes 89 ist für mich wie ein
Baum. Den Boden hatten schon
andere vor uns beackert. Wir
haben den Samen in die Erde
gelegt. Er wuchs durch die
rastlose Teilnahme von
Hunderttausenden sehr schnell in
den Himmel. Aber bevor er tiefe
Wurzeln fassen konnte, wurde der
gigantische Baum durch den
Ansturm der Notwendigkeiten
gefällt. Nicht alles Holz ist
verrottet, aber es sind nur
wenige Balken aus dem Baum
geschnitten und in dem Haus
»wiedervereinigtes Deutschland«
verbaut worden. Angeblich war
das westliche Gebäude, in das
letzten Endes der Osten
eingezogen ist, sehr stabil,
bestens ausstaffiert, es war
bezugsfertig. Erst nach zwanzig
Jahren sieht man seine dunklen
Kammern, brüchigen Keller und zu
viele verbaute Zimmer, in denen
sich manches angesammelt hat,
das auf den Müllhaufen der
Geschichte gehört. Auch hier
sind gewaltige Umbaumaßnahmen
nötig, um es für die nächsten
Generationen lebenswert zu
halten.
Die Revolution von 1989 wird
heute gern zum Anlass genommen,
die verschiedensten Festreden zu
halten. Aber das Verhältnis der
politischen Klasse zu den
Menschen auf der Straße ist im
Wesentlichen unberührt geblieben
von den weltbewegenden
Ereignissen. Das Volk und die
Vertreter des politischen
Systems begegnen sich nicht auf
Augenhöhe. Immer noch denkt man
– oder schon wieder –, dass die
auf der Straße nur Schafe sind,
die sich mehr für grüne Wiesen
und saftige Butterblumen
interessieren als für die
Probleme der Globalisierung und
die Hintergründe von Gewalt,
Herrschaft und Macht.
Wir haben alles getan, was wir
damals tun konnten. Wir haben es
mit Hingabe getan. Mit Empathie
für die Menschen – für Freund
und Feind. Wir haben nicht nach
Vergeltung geschrieen, nicht die
Stimmung angeheizt, und alles
ist friedlich geblieben. Aus der
Situation haben die wenigsten
von uns persönliche Vorteile
gezogen. Wir sind auf die
Weltbühne der Geschichte
katapultiert worden und haben
sie verändert. Sicher hätte man
alles besser machen können. Ich
denke aber, wir müssen uns für
unser Handeln nicht schämen. Wir
haben dem Glauben, dass man die
Welt gewaltfrei ändern kann,
Zuversicht und Gewissheit
gegeben. Dass nach siebzehn
Jahren der Kampf gegen das
Bombodrom in Brandenburg und
Mecklenburg-Vorpommern zugunsten
der Bürgerinitiative »Freie
Heide« entschieden wurde,
scheint mir ein hoffnungsvolles
Augenzwinkern der Geschichte zu
sein.
[1] Deutscher Bundestag, 12.
Wahlperiode, Abweichender
Bericht der Berichterstatterin
Ingrid Köppe (Bündnis 90/Die
Grünen) vom 12. Mai 1993,
Bundestagsdrucksache 12/zzzz
(sogenannter Köppe-Bericht).
[2] Ebenda.
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