Interview, 24./25.03.1990
Herbstrevolution in der
DDR - sie wurde nach dem 9. November mit D-Mark gekauft
Vier Tage nach der Wahl sprach
SZ-Redakteur Thomas Schade mit der Malerin und Grafikerin
SZ: Was bewegte Sie in der Nacht
vom Sonntag zum Montag nach der Wahl?
Bärbel Bohley: Ich war sehr, sehr traurig. Habe meinen ganzen Frust
abgelassen und heftig vor mich hin geschimpft die lieben Mitmenschen.
Nicht, weil das Neue Forum so wenig Stimmen erhielt, das war abzusehen.
Vielmehr, weil viele mit der CDU eine alte Blockpartei gewählt hatten,
die im Grunde kein hohes Ansehen in der Bevölkerung hat.
SZ: Wer ist eigentlich gewählt
worden?
Bärbel Bohley: Der starke Mann, der
am meisten versprach, und der nicht mal im eigenen Land sitzt. Das ist
für mich tragisch, denn damit ging meine Hoffnung kaputt, dass sich
jeder hier in diesem Land frei entfalten kann. Aber dieses Bedürfnis
haben offenbar viele gar nicht oder es ist ihnen nicht bewusst.
SZ: Sie haben vergangenen Montag
erklärt, am 18. März sei der Demokratisierungsprozess in der DDR
abgebrochen worden, wieso?
Bärbel Bohley: Die Wahlen fanden viel
zu früh für das Land statt. Sie passten lediglich in das Konzept jener
westlichen Parteien, die hier regieren wollen und die hier am lautesten
aufgetreten sind. Eine weitere Demokratisierung in der DDR wäre ja auch
eine echte. Inspiration für die BRD gewesen, und gerade daran besteht
dort kein Interesse. So hat man die Demokraten hier niedergeschrieen.
SZ: Welche Rolle müsste der
Wahlsieger nun Ihrer Meinung nach spielen?
Bärbel Bohley: Er hat wirklicher
Interessenvertreter der Bürger hier zu sein, also auch erst einmal die
Gespräche mit den Parteien und Gruppierungen hier zu führen. Wenn man
jedoch zuerst nach Bonn fährt, um sich die nächsten Schritte vorsagen zu
lassen, wird deutlich, dadd man den Interessen von Helmut Kohl offenbar
viel mehr verpflichtet ist als den Interessen der DDR-Bürger.
SZ: Wir alle müssen lernen, als
mündige und selbstbewusste Bürgerinnen und Bürger zu handeln, so im
Programm von "Bündnis 90". Der 18. März da so etwas wie ein Examen. Hat
das DDR-Volk bestanden?
Bärbel Bohley: Denkt man darüber
nach, dann konnte es noch nicht bestehen. Zu schwer lastete das Erbe der
vergangenen Jahre. Dem Volk blieb nicht Zeit, um im Buch des Lebens
nachzufragen und sich auf dieses Examen vorzubereiten. Deshalb wollten
wir ja erst die Kommunalwahlen, damit Demokratie wirklich gelernt werden
und von unten wachsen kann. Das hätte auch eine neue Sicherheit für die
DDR gebracht.
SZ: Sie haben aufgemuckt, als
Aufmucken noch mit Gefängnis bestraft wurde. Sie waren ein Leuchtturm im
Herbst 89. Warum war es still um Sie, als es im Februar und März darum
ging, errungene Freiheiten parlamentarisch zu installieren?
Bärbel Bohley: Ich habe ein
Demokratieverständnis, das nicht viele mittragen können. Ich kann mit
jemandem leben, der völlig anderer Meinung ist als ich. Mir ist nur
wichtig, dass man auch Minderheiten und die Andersdenkenden zu jeder
Zeit ernst nimmt. Deshalb bin ich im Neuen Forum nicht unumstritten.
Denn auch im NF gab es Leute, die wie die Parteien im Wahlkampf vor
allem den erhofften Mehrheiten nachjagten, und da sollten manche
Positionen nicht laut werden. Im übrigen ist
Prof. Jens Reich ein so radikaler Demokrat, dass ich großes
Vertrauen zu ihm habe.
SZ: Ist das auch der Grund, warum
Sie selbst nicht kandidierten?
Bärbel Bohley: Ja. Ich sehe meinen
Platz weniger in der Volkskammer, sondern vor allem da, wo man ziemlich
dicht dran ist am Unrecht.
SZ: Müsste die Malerin Bärbel
Bohley ein Bild der Ereignisse seit dem Oktober gestalten, welche
Symbole würde sie verwenden?
Bärbel Bohley: Müsste ich das jetzt
tun, brächte ich wohl nicht viel mehr als eine große schwarze Fläche
zustande.
SZ: Und wie würden Sie Ihrem Enkel
in zehn Jahren erklären, dass das, was im Oktober so hoffnungsvoll
begann, eine ganz andere Richtung bekam?
Bärbel Bohley: Ich würde sagen, die
Revolution im Oktober war der Aufstand der Menschen, die wussten,
wogegen sie sind. Aber es war nicht der Aufstand der Menschen, die
wussten, wofür sie sind. Denn der so laut dröhnende Ruf nach der D-Mark,
der viele lähmte, kann ja kein Lebenssinn sein. Unser Verhängnis war es,
dass die Inhalte, für die die Leute auf die Straße gingen, nicht genug
diskutiert werden konnten. Es gab keinen umfassenden Dialog zwischen
unserer alten Opposition und dem Volk. Wir waren zu wenige, wurden zum
Teil außer Landes getrieben, und hatten außer den Kirchen lange kein
Forum für diesen Dialog. Und - es ging den Leuten eigentlich immer noch
recht gut. Sie waren nicht wegen dem Brot auf der Straße, sondern wegen
ihrer dumpfen Resignation, die so groß war und in die sie die
SED-Herrschaft getrieben hatte. Ja, es war eine dumpfe und keine helle
Revolution.
SZ: Also ist diese Revolution
verraten worden?
Bärbel Bohley: Ich würde sagen, sie
ist von der D-Mark gekauft worden, nach dem 9. November 1989, als die
alten Herrscher die letzte Karte ausgespielt hatten, in der Hoffnung,
sie könnten an der Macht bleiben. Doch das war ein Irrtum.
SZ: Aber es ist doch nicht nur
verständlich, sondern auch ein Recht der Leute, dass sie besser leben
wollen und deshalb nach der D-Mark rufen!
Bärbel Bohley: Dagegen ist nichts zu
sagen, aber es gibt ja auch noch andere wichtige Dinge.
Als die Leute im Westen mich fragten, wen
sie hier unterstützen sollten, habe ich ihnen gesagt: die ganze
demokratische Bewegung. Wer aber dann nur seine kleine Schwesterpartei
unterstützt, dem ist doch nicht an wirklicher Demokratie gelegen. Dem
geht es doch vor allem darum, die eigene Macht herüberzubringen, und
dafür wurde nicht mit Geld gespart. Welche Chance hatte denn die
Demokratisierung bei uns, wenn der Wahlkampf mit Coca-Cola-Büchsen und
Bananen geführt wird, mit Dingen, die das Volk hier 40 Jahre nicht
hatte. Da trägt die Banane den Sieg davon.
SZ: Dieser 9. 11. 1989 ist
offensichtlich ein wichtiger Schnittpunkt für Sie?
Bärbel Bohley: Natürlich. Wir
wollten ja alle frei reisen, frei Geld tauschen, aber wir wollten doch
nicht von der BRD überrollt werden. Es fehlte für die Grenzöffnung jeder
Schutz, und auch die Regierung war nicht in der Lage, Bremssteine zu
setzen. Es war wie ein Schock, alle haben geschwiegen, auch die Kirchen
und die Intellektuellen.
SZ: Das Neue Forum war im Oktober die
Fackel der Revolution. Man hatte bereits vor den Wahlen das Gefühl, sie
ist in den Herbststürmen ziemlich runtergebrannt.
Bärbel Bohley: Im September war
das NF Sammelbecken für alle Oppositionellen. Aber wir hatten keine
politische Richtung. Mit der Bildung neuer Parteien und der Reformierung
der alten gingen wieder viele, deswegen braucht keiner trauern. Nach dem
18. März, wenn auf dem Weg zur deutschen Einheit die sozialen Konflikte
zunehmen, werden auch die Bürgerbewegungen wieder eine größere Bedeutung
bekommen, weil die politischen Parteien die anstehenden Probleme nicht
lösen werden. Sie verschweigen meist immer die unangenehmen Konsequenzen
ihrer Politik, so dass nicht realistisch darüber diskutiert werden kann.
Hier stets zu kritisieren, zu hinterfragen, ist eine bleibende Aufgabe
der Bürgerbewegungen.
SZ: Sie glauben also nicht, dass der
innere Friede des Landes nun wieder hergestellt ist?
Bärbel Bohley: Ich denke, im
Augenblick herrscht eine Art Waffenstillstand. Aber die politischen
Kräfte werden sich polarisieren zwischen denen, die für den Anschluss
nach Artikel 23 des Grundgesetzes der BRD sind und denen, die das nicht
wollen. Und diese Kräfte sind ja zur Zeit etwa gleich stark. Ich habe
nur den Wunsch, dass diese Polarisierung ebenso friedlich bleibt, wie
das vergangene, gewiss nicht konfliktlose halbe Jahr.
SZ: Wird es damit auch wieder
gefährlich, anders zu denken?
Bärbel Bohley: Diese Gefahr war
doch nie richtig beseitigt, wenn ich an die Randereignisse großer
Demonstrationen denke. Ein Zeichen dafür, dass wir in die wirkliche
Demokratie noch gar nicht eingetreten sind. Aber wir müssen das lernen,
denn sonst haben wir keine Zukunft.
SZ: Nur gemeinsam retten wir unser
Land, heißt es im Programm von "Bündnis 90". Was sollte nach dem 18.
März noch gerettet werden?
Bärbel Bohley: Was heißt retten,
auch ich bin für ein vereintes Deutschland, aber man kann das Kind nicht
mit dem Bade ausschütten und die eigene Identität einfach über Bord
werfen. Auch der Sprung ins kalte Wasser der Marktwirtschaft würde unser
Land ohne ein Minimum an Abhärtung vorher nicht überleben. Ich denke, je
mehr wir auf die Dinge zusteuern, um so klarer sehen das auch all jene,
die sich bereits sehr weit vorgewagt haben.
SZ: Der Zug müsste also etwas
gebremst werden. Wer kann das?
Bärbel Bohley: Die SPD, indem sie
sich treu und damit in der Opposition bleibt.
SZ: Was könnte denn die DDR zur
Einheit beisteuern?
Bärbel Bohley: Neben all den
schlechten Erfahrungen der vergangenen Jahre, die ja durchaus wertvoll
sind, weil sie vor Wiederholungsfehlern warnen, ist doch beispielsweise
das Recht auf Arbeit wichtig. Unser Land hat so lange Misswirtschaft
betrieben, einen riesigen Sicherheitsapparat unterhalten, viele gute
kreative Leute weggetrieben, und trotzdem hatte hier jeder seinen
Arbeitsplatz. Warum soll das mit der Freiheit im Herzen nicht erhalten
bleiben. Arbeitslosigkeit bedeutet für mich Selbstverwirklichung auf
Kosten anderer.
SZ: Wie sehen Sie die Rolle der
Abgeordneten des Neuen Forum in der Volkskammer?
Bärbel Bohley: Sie werden auf der
politischen Bühne des Landes sicher oft der Rufer in der Wüste sein.
Jens Reich hat es noch etwas herber formuliert: Sie werden ein kleiner
Bienenschwarm am Hinterteil der Volkskammer sein.
SZ: Was halten Sie davon, alle
Volkskammerabgeordneten auf ihre eventuelle Mitarbeit bei der
Staatssicherheit zu überprüfen?
Bärbel Bohley: Ich bin sehr dafür.
Die Affäre Schnur hat gezeigt, wie erpressbar ein Politiker in diesem
Fall wird. Auch von der BRD aus, denn Herr Kohl wusste ja davon schon
länger als die Allianz-Leute hier.
SZ: Am 6. Mai wird wieder gewählt.
Hat das Neue Forum dann mehr Chancen?
Bärbel Bohley: Ich hoffe sehr,
weil unsere Hauptarbeit ja auch an der Basis geleistet wurde. Aber genau
kann das wohl keiner sagen.
SZ: Was stimmt Sie trotz der
Bitternis der vergangenen Tage hoffnungsvoll?
Bärbel Bohley (nach einer Pause):
Dass es wieder Frühling wird. Wir brauchen doch aus unseren Niederlagen
keine Siege zu machen. Aber wir finden einen neuen Ansatz.
SZ: Herzlichen Dank für das Gespräch.
aus: Sächsische Zeitung, Nr. 71,
24./25.03.1990, 45. Jahrgang, Tageszeitung für Politik, Wirtschaft und
Kultur