Interviews
Neue
Musikzeitung - 2. Oktober 2002
Coca-Cola macht noch keinen neuen
Menschen
Koproduktion von BR und MDR: Contrapunkt vom
15. Oktober ’02 zum Thema Hochkultur/Tiefkultur
Auch ein Jahrzehnt nach der
Wiedervereinigung befinden sich deutsche West/Ost-Befindlichkeiten in
einer Schieflage. Die Bundesrepublik Deutschland im Zentrum Europas ist
in sich zerrissen. Lebensläufe und Lebensweisen innerhalb Deutschlands
sowie die gesamte kulturpolitische Infrastruktur weisen Risse auf und
fördern gelegentlich mehr oder minder offen ausgesprochene
Begehrlichkeiten. Contrapunkt, die neue Musiksendung des Bayerischen
Rundfunks und des Mitteldeutschen Rundfunks, wird hier Positionen
aufdecken und ins Gespräch bringen.
Die Sendung Contrapunkt vom 15. Oktober 2002
trug den Titel „Hochkultur/Tiefkultur“ und die Moderatoren Theo Geißler
und Manfred Wagenbreth luden die folgenden Gäste zur Live-Sendung ins
Münchner Goethe-Forum ein: Monika Griefahn, Vorsitzende des
Bundestagsausschusses für Kultur und Medien (SPD), Christian Höppner
(CDU): Leiter der Musikschule Charlottenburg-Wilmersorf, Präsident des
Landesmusikrates Berlin und Präsidiumsmitglied des Deutschen Musikrates,
Wolfgang Ullmann, Vertreter der Bürgerbewegung „Demokratie jetzt“, dann
als Minister ohne Geschäftsbereich in der DDR-Übergangsregierung, von
1990-94 MdB für Bündnis 90/Die Grünen, Matthias Schüßler (FDP), seit
März 2001 stellvertretender Vorsitzender des Landesfachausschusses für
Kultur und Medien der FDP in Bayern, Luc Jochimsen, lange Jahre
Reporterin und Moderatorin des Polit-Magazins „Panorama“, Leiterin des
ARD-Fernsehstudios in London, bis vor einem Jahr Chefredakteurin des
Hessischen Fernsehens und jetzt parteiunabhängige Spitzenkandidatin der
hessischen PDS bei der letzten Bundestagswahl und Bärbel Bohley,
prominente DDR-Bürgerrechtlerin.
Das Moderatorenteam konfrontierte die Runde
zuerst mit dem zweiten Satz des Kaiserquartetts von Joseph Haydn C-Dur
op. 76, Nr. 3, gespielt vom Iturriaga Quartett. Die musikalische
Provokation gelang, die Zungen lösten sich. Die nmz druckt Statements
der Diskutanten zu den Themen kulturelle Bildung und musikalische und
nationale Identität ab.
Luc Jochimsen: Ich finde, dass dieses Musikstück nicht von der
Nationalhymne zu trennen ist. Es zeigt die unglaubliche Tiefe und Größe
von Musik: Ein und dieselbe Musik ist als klassische Variante möglich
und genauso auch als Musikstück der Massen.
Wolfgang Ullmann: Ich habe das Stück zu DDR-Zeiten fast täglich um
Mitternacht gehört, weil wir Deutschlandfunk gehört haben. Ich bin jedes
mal sentimental geworden, wegen des Nationalhymnencharakters dieses
Stückes oder dieser Verfremdung zur Nationalhymne. Ich finde es
verfremdet, aber ich habe damals gedacht, „was für ein elendes Volk sind
wir, wir haben weder einen Kaiser, noch eine gemeinsame Regierung, es
ist schrecklich.“ Und auf solche Gefühle kam ich eben immer um
Mitternacht, wenn Haydn ertönte.
Theo Geißler: Frau Bohley. Gab es
solche Gefühle denn auch in der Gruppierung, die sich um die Reform, um
die Veränderung in der Gesellschaft der DDR gekümmert hat?
Bärbel Bohley: Ich bin da nicht sehr
sentimental geworden, ich habe da meistens noch abgewaschen dabei. Ich
muss sagen, zur Nationalhymne hatten wir natürlich auch ein gebrochenes
Verhältnis. Zu unserer eigenen und eigentlich zu jeder. Vielleicht
hatten wir auch ein gebrochenes Verhältnis zur Nation.
Manfred Wagenbreth: Was lief und
läuft da nicht zusammen?
Bohley: Im Grunde genommen hatte man
eine Kulturrevolution im Kopf. Davon ist natürlich wenig übrig
geblieben. 1989/90 war eine Zeit des Aufbruchs. Einerseits für uns aber
auch eine Herausforderung für die westlichen Politiker. Die mussten im
Grunde genommen mit dem Schlamassel, den die SED da übrig gelassen
hatte, fertig werden und insofern waren alle gefragt. Das Problem war
nur, dass wir nicht sehr lange gefragt waren, wir Leute aus dem Osten.
Dabei war uns damals schon klar, dass das nicht einfach so geht, dass
wir uns einfach nur anpassen müssen und dann sind alle Probleme
beseitigt. Wir vom „Neuen Forum“ waren der Meinung, dass die DDR für
bestimmte Zeit ein Sondergebiet sein müsste. Wir haben durchaus gewusst,
dass die Leute ganz anders geprägt waren, weil wir selber auch eine
andere Prägung hatten. Da ändert sich nicht alles mit einer Cola-Flasche
oder einem neuen West-Auto. Das macht einen nicht zum neuen Menschen.
Geißler: Die Wahlen sind gelaufen,
die Signale aus der Kultur, aus den Musiklandschaften sind bedrohlich.
Es gibt zynische Stimmen, die meinen gerade die Wiedervereinigung sei
Schuld gewesen, dass für die Kultur letztlich kein Geld mehr übrig sei.
Der Solidaritätszuschlag fließt in wirtschaftliche Stützungsmaßnahmen,
nicht etwa in Theater, Orchester oder gar ins Bildungssystem. Auf der
anderen Seite fordert etwa die FDP explizit in ihrem Wahlprogramm, dass
Kultur eine wirtschaftliche Dimension haben müsse. Andersrum wettert zum
Beispiel Hermann Glaser, Kultur dürfe keinesfalls zur Beute
wirtschaftlicher Dominanz werden. Was ist denn nun zu tun? Was ist
richtig, was ist falsch?
Matthias Schüßler: Die FDP besteht
nicht alleine aus dem Guido-Mobil. Die FDP hat auch kulturpolitische
Inhalte. Der Punkt ist natürlich der, dass immer zuerst an der Kultur
gespart wird, wenn gespart wird. Der Fehler ist aber auch der: Verlässt
man sich zu sehr auf den Staat, dann kommt irgendwann einfach nichts
mehr. Deswegen ist die Idee mit der Wirtschaft zusammenzuarbeiten gar
nicht so schlecht.
Höppner: Die Summe der Kennmarken der
gesellschaftlichen Entwicklung weist den Weg in eine autistische
Gesellschaft. Ich hätte mir gewünscht, dass wir im Wahlkampf etwas mehr
über Bildung und Kultur gehört hätten, nicht nur in den
Parteiprogrammen, sondern auch im tatsächlichen Wahlkampf. Das wäre doch
toll gewesen, wenn sich der Kanzler und der Kandidat in ihrem so
genannten Duell auch mal dafür ausgesprochen hätten, dass die Kinder
eben nicht nur den Computer bedienen können müssen, sondern dass sie
auch in den musischen Fächern eine gewisse Kompetenz erlangen.
Medienkompetenz, künstlerische Kompetenz, kreative Kompetenz.
Jochimsen: Sie haben doch vollkommen
Recht, wir diskutieren, dass wir uns drei Opernhäuser in Berlin einfach
nicht leisten können. Wir als große Kulturnation. Wir leisten uns Bonner
Ministerien, die eine irrsinnige Verschwendung von öffentlichen Geldern
darstellen und schreiben das auch noch auf weitere Jahre fest. Es ist
schließlich nicht so, dass der Staat kein Geld mehr hat. Es ist da, nur
es wird für andere Dinge ausgegeben. Und ich möchte nur noch mal auf das
Thema des heutigen Abends zurückkommen und erinnern. Ich bin als junges
Mädchen nach 1945 in Frankfurt/Main aufgewachsen und ich kann nur sagen,
die Entwicklung eines neuen Landes, da gebe ich Bärbel Bohley vollkommen
Recht, geht nicht über die Cola, die D-Mark oder den Euro allein. Wenn
wir nicht lernen, welche große Rolle die Kultur dabei spielt, übrigens
in einer Welt, in der im Grunde genommen über Geld und Globalisierung
eine totale Verwahrlosung des kulturellen Bereichs, der Sprache, der
Musik, der Bildenden Kunst, der Kreativität auch gerade der
nachwachsenden Generationen vorprogrammiert ist. Was wir heute bereden,
wie viele junge Menschen interessiert das überhaupt noch?
Geißler: Aber warum?
Jochimsen: Wir erkennen den Wert der
Kultur als „nation building“ und als Gesellschaftsfundament nicht mehr
genügend an.
Griefahn: Die Bundesregierung legt ein Programm auf mit 4 Milliarden für
Ganztagsschulen. Es ist ganz wichtig, dass wir in dem Konzept
Ganztagsschulen berücksichtigen, dass zu sozialem Lernen gehört, zum
Beispiel am Nachmittag ein Orchester zu machen oder dass man im Chor
singt. Ich bin immer so begeistert von dem venezolanischen
Kinderorchester, das wirklich bewiesen hat, dass die Kinder aus den
Slums rauskommen, dass sie keine Gewalt mehr ausüben, wenn sie
miteinander Musik machen.
Ullmann: Das Problem ist ein
gesellschaftliches. Um mal ein sehr hoch gegriffenes Beispiel zu nehmen:
Die „Zeit“ –auch ein Kulturfaktor – interviewt die neue Staatsministerin
Christina Weiss. Erste Frage: „Kriegen Sie einen größeren Etat“. Da
würde ich sagen, bei dieser Herangehensweise wird das nichts. Das ist
die Herangehensweise, Kultur kostet was und es muss sich rechnen. Aber
es wird falsch gerechnet. Das sehe ich auch an dieser Interviewfrage. Es
wird überhaupt nicht überlegt, dass die Kultur etwas Motivierendes,
Inspirierendes sein soll, auf neue Gedanken bringen soll. Wenn man immer
nur Haushaltspläne und Quoten und Verkaufszahlen im Kopf hat, kommt man
nie auf neue Gedanken. Aber die Kultur ist just dazu da, die Leute auf
neue Gedanken zu bringen. Was die Politiker bezahlen wollen, das
bezahlen sie auch. Deshalb muss man fragen, wollt ihr denn wirklich drei
Opern?
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