Mopo - 1. September 2004
Von Daniel F. Sturm
Berliner Morgenpost: In
Ostdeutschland gibt es 15 Jahre nach der friedlichen Revolution wieder
"Monatsdemonstrationen". Die Stimmung ist aufgeladen. Sehen Sie
Parallelen zwischen dem September 1989 und dem September 2004?
Bärbel Bohley: Die Parallelen zwischen 1989
und heute liegen auf der Hand. Die Menschen sind mit der Politik nicht
einverstanden. Ich finde diese Demonstrationen gut. Endlich meldet sich
das Volk wieder einmal zu Wort. Wer sich ungerecht behandelt fühlt, soll
demonstrieren - anstatt PDS zu wählen. Warum soll man dabei nicht den
Begriff der "Montagsdemonstrationen" verwenden? Meines Erachtens werden
die Bürgerrechtler der DDR damit nicht enteignet. Viele Menschen, die
sich heute an den "Montagsdemonstrationen" beteiligen, gingen auch
damals auf die Straße. Es haben 1989 schließlich nicht nur einige
Oppositionelle demonstriert!
Berliner Morgenpost: Vor 15 Jahren wurde das Neue Forum gegründet. In Ihrem
Gründungsaufruf schrieben Sie: "In unserem Lande ist die Kommunikation
zwischen Staat und Gesellschaft offenkundig gestört." Trifft dies auch
heute zu?
Bärbel Bohley: Die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft war in der alten
Bundesrepublik schon vor 1989 gestört. Das ist nichts Neues. Dies wird
jetzt nur deutlicher, bricht stärker auf. Die meisten Menschen haben das
Gefühl, die Politik nimmt sie nicht wahr. Im Osten ist die Enttäuschung
besonders groß, weil die Menschen mit der Revolution 1989 gehofft
hatten, nun wahrgenommen zu werden. Seither aber ging vieles über die
Menschen hinweg. Schon das Versprechen von den "blühenden Landschaften"
machte deutlich, wie wenig der Westen über die DDR wusste. Wer sich aber
für die DDR interessierte, dem war klar, dass es so nicht funktioniert.
Berliner Morgenpost: Aber gibt es denn nicht längst "blühende Landschaften" in
Deutschland?
Bärbel Bohley: Ja, die gibt es. Aber die Ostdeutschen haben sie im Wesentlichen
nicht gestaltet. Sie wurden nicht mitgenommen. In Polen, Tschechien und
Ungarn hingegen wissen die Menschen: Was wir jetzt haben, ist das Werk
unserer eigenen Hände. Das haben wir selbst geschaffen.
Berliner Morgenpost: Sehen Sie eine Entfremdung zwischen Regierenden und Regierten?
Bärbel Bohley: Die Politik und die Politiker haben sich vom Volk absolut entfremdet.
Die Abgeordneten und Minister haben die, für die sie Politik machen
sollen, nicht mehr im Blick. Schon allein deshalb müssen die Menschen
deutlich machen: Wir sind das Volk! Die aktuellen Demonstrationen sind
daher ein Warnschuss für die politisch Verantwortlichen. Sie müssen
merken, dass auch das politische System reformiert werden muss. Wie im
Sozialsystem sind hier grundlegende Korrekturen nötig. Wir brauchen mehr
Mitbestimmung für die Bürger: Warum gibt es zum Beispiel keine
Volksabstimmungen?
Berliner Morgenpost: Bisher profitiert allein die PDS von der allgemeinen Unzufriedenheit.
Bärbel Bohley: Wenn einem die Politik einer Partei nicht gefällt, muss man diese
Partei abstrafen und eine andere, an die man Hoffnung knüpft, wählen. Es
ist aber ein großer Fehler, aus Protest PDS oder Rechtsradikale zu
wählen. Wenn der PDS nun 35 Prozent der Stimmen prognostiziert werden,
ist das schlimm. Es ist ein fatales Signal. Die PDS hat gar keine
Lösung! Wer als Ostdeutscher heute die PDS wählt, bei dem ist in 15
Jahren wenig passiert. Die Wähler der PDS wissen im Grunde nicht, was
Demokratie ist.
Berliner Morgenpost: Manfred Stolpe ist der einzige Minister aus dem Osten ...
Bärbel Bohley: Da hat sich Schröder auch den Richtigen ausgesucht! Wer als Regierung
auf Stolpe zurückgreift, um den Osten zu repräsentieren, hat vom Osten
überhaupt nichts verstanden. Stolpe ist allein der Repräsentant einer
ganz bestimmten, kleinen Gruppe aus Ostdeutschland: Er repräsentiert die
Angepassten, die Bonzen. Er musste nie dafür bezahlen, dass er im Osten
lebt. Stolpe hat selbst nie begriffen, was im Osten passiert. Er hat in
der DDR außerhalb der DDR gelebt.
Berliner Morgenpost: Oskar Lafontaine tritt nun bei einer "Montagsdemo" auf. Ist er der
neue Robin Hood des Ostens?
Bärbel Bohley: Wohl kaum. Wäre es nach ihm gegangen, gäbe es heute zwei deutsche
Staaten. Er befriedigt allein seine persönliche Eitelkeit. Lafontaine
sucht für sich persönlich einen Aufbruch. Ihm passt es, wie die PDS die
Stimmung im Osten missbraucht. Doch die Interessen der Ostdeutschen
lagen Lafontaine niemals am Herzen.
Aus der Berliner Morgenpost
vom 1. September 2004