euractiv.de - 14.10.2009
DIE MAUER, DIE MENSCHEN UND DIE MITTE EUROPAS
Berliner Notizen eines Wiener Korrespondenten
Bärbel Bohley: Mauer zu, Mauer auf
Zwanzig Jahre nach der Wende: Bärbel Bohley (Foto: EurActiv.de/Simon Harik)
„Wir hatten Scheuklappen“, ärgert sich Bärbel Bohley über ihr „Neues Forum“ von 1989. „Wir hätten politisch viel mehr erreichen können.“ Die Bürgerrechtsgruppe, der vor dem Mauerfall binnen acht Wochen Hunderttausende beigetreten waren, hat großen Anteil am Ende von SED und Stasi. Gespräche mit Bärbel Bohley im Jahr 1989 und genau zwanzig Jahre danach zeigen: Sie ist kritisch und sich treu geblieben.
„Mutter Courage“ passt nicht zu ihr. Sie würde sich auch dagegen wehren. Aber sie ist es. Ohne Bärbel Bohley hätte es kein Neues Forum und ohne Neues Forum keinen Volksaufstand gegeben.
Mein erstes Gespräch mit der Malerin hatte ich in den Tagen des Mauerfalls, als ich sie zufällig in der österreichischen DDR-Botschaft in der Wilhelmstraße, einem Plattenbau mit damals freiem Blick auf das Brandenburger Tor, beim Beantragen eines Visums für Österreich traf. Sie sollte in Wien an einer Diskussion teilnehmen.
Das jüngste Gespräch fand zwanzig Jahre später zusammen mit anderen Korrespondenten wieder in Berlin statt. Bärbel Bohley (63) zieht ein durchwachsenes Resümee der beiden Jahrzehnte.
Zu viel Theater und Feierei
Von den aktuellen Jubiläumsfeiern hält sie wenig. Als Mitbegründerin und Sprecherin des „Neuen Forum“, der wichtigsten Bürgerrechtsbewegung der DDR, sorgt sich heute um den Abbau von Demokratie, ermuntert junge Leute zu basisdemokratischem Engagement, ohne dass sie sich an Parteien binden sollen, vermisst den aufrechten Gang des Volkes, das sich wieder viel zu viel gefallen lasse.
Bei den vielen Gedenkfeiern und der „ritualisierten Feierei“ sei so viel Theater dabei. Sei bedauere heute sogar, dass sie jüngst (am 3. Oktober 2009) in Berlin – zusammen mit Michail Gorbatschow, Vaclav Havel und José Emanuel Barroso - die „Quadriga“ angenommen habe. Sie habe dies nur aus Verehrung Vaclav Havels getan. „Ich bin in ihn und seine Bücher seit dreißig Jahren verliebt.“
Kennt man Bärbel Bohley, war es in der Tat etwas überraschend, dass sie die Inszenierung im Weltsaal des Auswärtigen Amtes über sich hat ergehen lassen. Als kurz vor dem Tag der Deutschen Einheit ein Zeitung meldete, Bohley sei an Krebs erkrankt, klang dies nach einem Alibi, der Quadriga-Gala fernbleiben zu können. Doch Bohley hielt sogar brav ihre Dankesrede, in der sie warnte, dass Freiheit auch verwässert werden könne, wenn sie nicht mit Inhalt gefüllt werde. Sie erzählte mit diebischer Freude, dass bei jeder Stasi-Hausdurchsuchung in ihrer Wohnung immer wieder ihre Lieblingsbücher von Vaclav Havel konfisziert worden seien. „Ich habe große Hoffnung, dass sie bei der Stasi auch fleißig gelesen wurden.“
Als alle anderen Quadriga-Ausgezeichneten an der Festtafel Platz nahmen, nahm sie im Taxi Platz. Sie wollte weg.
Blühende Landschaften und die Menschen darin
Die damals versprochenen „blühenden Landschaften“ gebe es zwar trotz aller Schwächen. „Ich persönlich bin schon der Meinung, dass wir die haben.“ Aber nicht „blühende Landschaften“ seien das Problem, sondern wie es den Menschen darin gehe.
Warum so wenig Bürgerrechtler von damals in die Politik gegangen sind? „Wir wollten Freiheit, Menschenrechte, eine andere Gesellschaft. Fast niemand ist auf die Straße gegangen, um ein politisches Amt zu bekommen. Niemand war scharf auf das Amt von Margot Honecker und den anderen. Wir Bürgerrechtler waren in gewisser Weise“ – sie hält kurz inne – „blöd.“
„1989 hätten wir durchaus die Möglichkeit gehabt, selbst nach Bonn zu fahren und das nicht Günther Krause, dem Chefverhandler des Einigungsvertrags, oder Innenminister Peter-Michael Diestel zu überlassen. Aber da waren unsere eigenen Scheuklappen im Weg.“
Direkt zu Helmut Kohl
Sie hätten mit ihrem damaligen Rückhalt in der Bevölkerung direkt zu Helmut Kohl fahren sollen. „Aber wir wollten ja mit der CDU nichts zu tun haben. Die Indoktrination hatte schon so gegriffen, dass wir das selbst gar nicht bemerkt haben.“
Die Aufarbeitung der zerschnipselten Stasi-Akten findet sie höchst notwendig. „In diesem Land wird so viel Geld rausgeschmissen, ich halte es für sehr wichtig, dass dokumentiert wird, wie ein totalitäres System entsteht und funktioniert. Folgen werde dies aber keine haben. Auch die nachfolgende Generation werde kein Interesse an 1989 haben. „Die sind von ihren Eltern vollgestopft damit und von der Schule gelangweilt.“ Aber deren Kinder werden einmal Fragen stellen.
"Auch in den Kirchen wurde man gegängelt"
Kritische Worte fallen über die damalige Rolle der Kirchen: Auch die Kirchen seien von der Stasi durchsetzt gewesen. Sie dienten dem Staat eher dazu, die Leute ruhig zu stellen, zu reglementieren und die Bürgerrechtsbewegung unter dem Dach der Kirche zu halten. „Da hätte die Kirche sehr viel mehr machen müssen. In den Kirchen wurde man mit den Friedensgebeten gegängelt.“ Man hätte nach Bohleys Ansicht politisch sehr viel mehr riskieren müssen, wie es etwa die Solidarnosc in Polen getan habe.
Kontakte des Neuen Forums zur Solidarnosc habe es aber kaum gegeben. Keine Reisemöglichkeit, kein Telefon. Oft seien die Bürgerrechtler kurz vor der polnischen Grenze von der Stasi aus dem Zug geholt worden.
"Bündnis 90" war ein Fehler
Ein historischer Fehler sei es gewesen, sich zum „Bündnis 90“ zusammenzuschließen. „Wir hätten den Namen ‚Neues Forum‘ nicht ändern dürfen. Wichtig wäre aber auch heute, dass sich junge Leute politisch engagieren, ohne sich an eine Partei zu binden. Das sei in Deutschland zu wenig ausgeprägt. „jede Demokratie braucht viel Basisdemokratie. Aber was wir jetzt sehen, ist der Abbau der Demokratie. Nur vordergründig ist das eine Wirtschaftskrise!“
Rückblick, November 1989. Bevor sie nach den ersten Durchbrüchen in der Mauer zum ersten Mal nach Westberlin rüberfuhr, hatte sie lang gezögert. „Über Gefühle darf ich hier nicht sprechen“, schilderte sie mir damals. „Nach 28 Jahren ist man wieder bei 1960 angelangt, und ich wundere mich, wie man einem das Leben klauen kann. Mauer zu, Mauer auf. Man hat sich jetzt zu freuen. Objekt der Geschichte, so fühlt man sich.“
Über die bevorstehende Öffnung des Brandenburger Tores meinte sie: „Es hieß doch immer: Wenn das Brandenburger Tor geöffnet wird, ist die deutsche Frage gelöst. Für mich ist das ein Theaterstück. Zur Inszenierung gehört der große Durchbruch.“
Die unvorbereitete Öffnung der Mauer fand sie deshalb schade, weil die Leute gerade erst dabei waren, erstmals politisches Bewusstsein zu bekommen. „Wenn die Leute sich selber besinnen und endlich merken, welche Würde sie eigentlich haben, da wird die Grenze geöffnet.“
Hunderttausende auf der Liste
Binnen acht Wochen hatten sich - vor dem Fall der Mauer - Hunderttausende als Mitglieder des Neuen Forums in Listen eingetragen. Berichte im westdeutschen Fernsehen über die Gruppierung wirkten als Katalysator. Oft hatten die Unterzeichner nicht einmal die Papiere gelesen. Das Neue Forum hat mit seinem Aufruf einfach ins Herz der Leute getroffen.
Andere Oppositionsgruppen offenbar nicht. Die waren ganz klein, bestanden oft nur aus zwanzig oder dreißig Personen – und waren teils von der Stasi durchsetzt.
Das Neue Forum hörte längst auf, die Beitritte zu zählen. „Wir waren einfach das Synonym für Veränderung.“ So kommt es, dass im November wieder viele austraten, die enttäuscht sagten: „Wenn Sie jetzt nicht für die Wiedervereinigung demonstrieren, streichen Sie mich bitte von Ihrer Liste.“
Verständlich, dass dies wieder zusammenschrumpfen musste, meinte Bohley. So wie bei den Beitritten habe man auch bei den Austritten aufgehört zu zählen. „Ich hoffe auf den Minimalkonsens: Wir wollen nicht, dass die DDR verkauft wird“, sagte sie damals.
Die ganze DDR wird verklopft
„Wenn sie nicht wissen, wo sie die nächsten 100 D-Mark herkriegen“, meinte sie in Anspielung an das West-Begrüßungsgeld, „dann wollen sie die Wiedervereinigung. Die kommt dann, wenn wir den größten Mist weggeräumt haben. Die ganze DDR wird verklopft. Und kein Mensch wird’s merken. Der Kapitalismus verhandelt hinter verschlossenen Türen und wird die Fabriken kaufen. Die Arbeiter werden sich noch wundern.“
Auf den damals neuen Ministerpräsidenten Hans Modrow war sie „dermaßen sauer, alles Taktik! Wenn Herr Modrow im Fernsehen sagt, meine Freunde Markus Wolf und Bärbel Bohley, dann bin ich persönlich beleidigt und empört. Da wird man verbraten, wo es nur geht. Ich habe mit diesen Leuten nichts zu tun. Ich finde es empörend, dass die sich legitimieren wollen mit Leuten, die sie noch vor zwei Jahren in den Knast gesteckt haben. Und Johannes Rau lächelt dazu.“
Erst vor einem Jahr zog Bohley wieder nach Deutschland zurück. Vorher lebte sie zwölf Jahre lang in Bosnien und Kroatien, „also nicht aus der Welt – ich hatte den Blick immer auf Deutschland gerichtet.“
Die drögen schwäbischen Nachbarn im Kiez
Bohley schildert, wie sie sich heute in der alten Wohnung in Prenzlauer Berg und ihrem Kiez wohlfühlt. „Das kann ich sehr schwer sagen. Ist ja alles wunderbar“, meint sie mit einem Anflug von Sarkasmus. Es stört sie, was aus dem typischen Arbeiter-, Künstler- und Studentenbezirk, der immer durch „ein widerständiges Gefühl“ charakterisiert gewesen sei, geworden ist.
„Die Wohnungen haben meist junge Leute aus Baden-Württemberg gekauft. Die jungen Leute sind inzwischen so langweilig wie ihre Eltern aus Baden-Württemberg.“ Der Markt am Kollwitzplatz soll geschlossen werden, weil er ihnen zu laut ist. „Es wird alles ziemlich dröge. Die fanden es erst alle schick, in die alten Häuser zu ziehen, jetzt sind sie eine einheitliche Generation mit kleinen Kindern. Es ist schwer, mit denen zu reden. Die könnten doch ‚Hi!‘ sagen. Einfach ‚Hi!‘. Das ist doch nicht schwer. „Guten Tag“ wäre ja schon zu viel.“ Sie komme nie mit einem ins Gespräch.
„Mein Haus wurde von einem Schwaben gekauft. Der hat jetzt auch das Nachbarhaus gekauft. Wir selber waren doch alle zu naiv. Wir hatten ja noch nie ein Haus gekauft gehabt.“ Sie habe das in Ex-Jugoslawien gelernt: Dort konnte man für wenig Geld seine eigene Wohnung kaufen. „Das hätte man hier politisch regeln müssen, dass die DDR-Bürger ihre eigene Wohnung hätten kaufen können.“
Sie habe ihre Wohnung nun vierzig Jahre. Lang genug, meint sie. Sie möchte jetzt eigentlich an den Stadtrand ziehen. Ins Grüne.
Quelle: EurActiv.de v. 14.10.2009