Berliner Zeitung
05./06.09.2009
Ich spiele doch
nicht den Mauerfall
nach!
Bärbel Bohley steht
für die friedliche
Revolution in der DDR -
den 9. November
verbringt sie diesmal
aber lieber in Taiwan
als am Brandenburger
Tor. Ein Gespräch
Renate Oschlies
Auf dem Tisch in
ihrer Wohnung in
Prenzlauer Berg
stehen frische
Blumen. Die Sonne
scheint ins Zimmer,
aber die Fenster
sind geschlossen.
Bärbel Bohley
vermeidet den Blick
nach draußen.
Gegenüber wird seit
Monaten ein
Supermarkt saniert,
die Nachbarhäuser
sind eingerüstet,
genau vor dem
Wohnzimmerfenster
wurde eine mobile
Toilette für die
Bauarbeiter
aufgestellt. Rund um
die Uhr Staub und
Lärm, das macht den
Abschied wohl noch
ein wenig leichter.
Nach 40 Jahren will
Bärbel Bohley ihre
Parterre-Wohnung im
Prenzlauer Berg
aufgeben und an den
Stadtrand ziehen.
Frau Bohley, Sie
sind seit gut einem
Jahr zurück in
Deutschland, um Ihre
Krebserkrankung
behandeln zu lassen.
Nun wollen Sie weg
von Prenzlauer Berg,
fühlen Sie sich hier
nicht mehr zu Hause?
Das ist ja hier
nicht mehr mein
Kiez. Das ist ja für
mich eine ganz neue
Gegend inzwischen.
Die Mieter haben
hier nach den
Sanierungen fast
komplett gewechselt.
Hier ist jetzt
Party-Szene-Kinder-Areal.
Und in den Bio- und
Wohnambiente-Läden
trifft sich die neue
Schickeria. Da
staunt man schon,
wenn einem die
Neubesiedler die
Geschichte des
Prenzlauer Bergs
erklären und dabei
selten wissen, noch
nicht einmal ahnen,
dass das vor noch
nicht einmal einer
Generation ein
Bezirk war, in dem
vor allem
Arbeiterfamilien und
Rentner gelebt
haben.
Sie haben in den
vergangenen Jahren
Hilfsprojekte in
Bosnien geleitet,
Ihre Krankheit
zwingt Sie nun, sich
zu schonen. Fällt
Ihnen das schwer?
Über meine
Krankheit will ich
eigentlich nicht
sprechen, das ist
meine Privatsache.
Aber eine solche
Krankheit ist
natürlich etwas, das
einen auf sich
selbst zurückwirft,
das ist ganz klar.
Insofern ist das
schon eine Zeit, in
der man etwas
besinnlicher,
reflektierter,
ruhiger ist - etwas
mehr am Rand, aber
nicht im Abseits.
Wir feiern in
diesem Jahr den 20.
Jahrestag des
Mauerfalls. Haben
Sie schon eine
Einladung zur
zentralen
Veranstaltung im
November?
Ja, von Herrn
Wowereit. Mit
Regieanweisung. Ich
soll da einen
Mauerbrocken
umkippen. Ist wohl
symbolisch gemeint.
Werden Sie das
tun?
Ich spiele doch
nicht für Herrn
Wowereit Mauerfall!
Was haben Sie am
9. November vor?
Da bin ich in
Taiwan. Eine
Bürgerrechtsgruppe
hat mich eingeladen
- wir tauschen
unsere Erfahrungen
aus, das erscheint
mir sinnvoller als
die Show hier. Die
haben übrigens da
auch ein Segment der
Berliner Mauer, das
in einem Museum
eingeweiht wird.
Sie können
verstehen, dass
manche, schon bevor
es soweit ist, genug
haben vom
Mauerfall-Jubiläum?
Sicher. Klar ist
doch, dass danach
erstmal wieder für
zwanzig Jahre Ruhe
ist, weil das dann
keiner mehr hören
kann. Dabei ist es
wichtig, über das
Thema Mauerfall und
die Folgen weiter
nachzudenken. Und
nächstes Jahr kommt
dann gleich das
nächste Jubiläum,
die
Wiedervereinigung.
Das erinnert mich an
die Kampagnen in der
DDR - gelebt wurde
von Jahrestag zu
Jahrestag, und die
Inhalte wurden
kleingeschrieben.
Wo stehen die
Deutschen 20 Jahre
nach dem Fall der
Mauer?
Links und rechts
der nicht mehr
vorhandenen Mauer.
Heißt das, sie
sind ein noch nicht
vereintes Volk?
Diese Vereinigung
wird uns noch sehr
lange beschäftigen.
Die Westdeutschen
haben viel früher
als wir die Freiheit
kennengelernt,
konnten sich
engagieren, eine
Ausbildung nach
Wunsch, Reisen
machen, sich einen
Lebensstandard
schaffen. Darauf
sind manche im Osten
neidisch. Wir haben
dafür dieses
wunderbare Erlebnis
1989. Viele Leute im
Osten spüren, dass
sie die Freiheit,
die jene im Westen
länger hatten, nicht
nachholen können -
selbst wenn sie
heute mit grauen
Haaren auf Mallorca
rumhängen. Das haben
die Westdeutschen in
ihrer Jugend
gemacht. Und die
Menschen im Westen
können nicht
mitreden, wie es
ist, eine Diktatur
selbst
abzuschütteln. Das
trennt die
Deutschen, noch
lange.
Wie haben sich
die Ostdeutschen
seit der Wende
geschlagen?
Ich glaube, ganz
gut. Es ist ihnen
aber auch leicht
gemacht worden im
Gegensatz etwa zu
den Polen oder
Bulgaren. Die Kassen
waren gut gefüllt.
Trotzdem ist ihnen
nach der
Wiedervereinigung
sehr viel Anpassung
abverlangt worden.
Das fing bei
belanglosen
Kleinigkeiten an -
ich erinnere mich,
wie irritiert ich
war, als ich den
Hörer meines
Telefons abhob und
ein völlig anderes
Rufzeichen ertönte -
bis hin zu den
großen
Veränderungen. Fast
alle Ostdeutschen
mussten ihr Leben
völlig neu sortieren
und ausrichten. Wem
dies nicht gelang,
der blieb auf der
Strecke, der ist an
den Rand gedrängt
worden.
Ist diese
Anpassungsleistung
etwas, worauf
Ostdeutsche stolz
sein können?
Zumindest sind
sie jetzt trainiert.
Das kommt ihnen in
der heutigen Krise
zugute. Den Leuten
im Osten gelingt es
besser, sich den
veränderten
Verhältnissen
anzupassen als
denen, die vor allem
im Westen
sozialisiert wurden.
Dort galt über
Jahrzehnte das
Motto: Höher,
größer, weiter,
schöner, besser.
Sich einzuschränken,
ist ihnen lange
nicht abverlangt
worden. Bei uns galt
dieses Motto auch,
aber wir wussten, es
war ein Motto. In
Wirklichkeit ging
alles bergab, und
man hat trotzdem die
Hoffnung nicht
aufgegeben, die
Sonne am Horizont
aufgehen zu sehen.
Und jetzt stecken
wir alle zusammen in
einer großen Finanz-
und
Wirtschaftskrise.
Ich fühle mich da
ein bisschen wie so
eine Hexe, deren
düstere
Prophezeiungen jetzt
irgendwie
eingetroffen sind.
Schon vor 1989 war
ich der Meinung,
dass es so nicht
weitergehen kann,
dass man die Natur,
die Gesellschaft
ausbeutet,
ausbeutet,
ausbeutet. So ist ja
mit unglaublicher
Vehemenz all die
Jahre
weitergewirtschaftet
worden. Natürlich
mit Effekt, aber
ebenso
verschwenderisch.
Mir war immer klar:
Das wird sich
rächen. Es war
offensichtlich, dass
es für Umwelt und
Gesellschaft besser
wäre, viele Dinge zu
unerlassen.
Wachstumsgesellschaft,
das ist für mich, so
wie wir heute leben,
obszön.
Was stört Sie an
Wachstum?
Die Gigantonomie,
die
Rücksichtslosigkeit,
die Kurzsichtigkeit,
mit denen es
betrieben wird. Kein
Innehalten, Besinnen
auf vielleicht ganz
andere Werte.
Politik und
Wirtschaft scheinen
nichts zu lernen aus
der Krise. Jetzt
werden
funktionstüchtige
Autos abgewrackt,
und diese
Schnäppchen-Gesellschaft
macht mit. Ich hasse
so was richtig.
Warum hat
eigentlich kaum
jemand diese
krisenhafte
Entwicklung
vorhergesehen?
Ich frage mich
auch, wie weit man
selbst daran
beteiligt ist, dass
die Auswüchse dieses
Systems so lange
übersehen und
kleingeredet wurden.
Am Kapitalismus
haben wir ja gleich
nach der
Wiedervereinigung
erst mal kaum etwas
kritisiert, weil man
immer auch Angst
hatte, von den
falschen Leuten -
wie denen von der
PDS - vereinnahmt zu
werden. Wenn die von
sozialer
Gerechtigkeit
sprachen, vom Schutz
der Umwelt oder gar
Frieden-schaffen-ohne-Waffen,
ist einem doch
schlecht geworden.
Gerade haben sie ein
Land zugrunde
gerichtet, und schon
stehen die Demagogen
wieder auf der
Matte. Von der
anderen Seite wurde
auch jede Kritik
abgewürgt, indem man
die Kritiker als
PDS-Sympathisanten
abstempelte. Deshalb
hat man geschwiegen.
Wen halten Sie
für fähig, Wege aus
der Krise zu finden?
Ich sehe weit und
breit keinen, der
einen Ausweg aus der
Misere hat. Die
beste Nase für den
richtigen Weg haben
noch unabhängige
Gruppen und einzelne
Menschen, die nicht
in Parteien
eingebunden sind.
Bei ihrer Arbeit,
ihrem Einsatz spürt
man, dass sie sich
mehr Sorgen um die
Menschen und um
unsere Zukunfts- und
die
Gegenwartsprobleme
machen als um
Machterhalt.
Dem Staat, den
Parteien in
Deutschland trauen
Sie das nicht zu?
Das sieht man
doch. Das
Parteiensystem ist
versteinert nach
innen und außen. Die
Parteien fesseln die
Politiker mit
eiserner Disziplin,
denen wiederum geht
es oft nur darum, an
der Macht zu
bleiben. Die
überkommenen Rituale
von Anpassung und
Disziplin in so
einer Gruppe
versperren jeden
neuen Weg, und jeder
neue Gedanke wird
erst einmal als
Bedrohung empfunden.
Ihr Vertrauen in
die Parteien scheint
allgemein nicht
besonders groß zu
sein.
Obszön und
bigott, diese
Mischung stößt ab.
Man findet sie bei
allen Parteien. Fast
jeden Tag kann man
beobachten, wie die
Parteien mit ihren
eigenen Leuten
umgehen. Zum
Beispiel die CDU mit
Dieter Althaus in
Thüringen. So, wie
mich meine Krankheit
übermannt hat, hat
ihn sein Schicksal
überrannt. Da muss
man erst einmal
irgendwie alleine
durch. Und wer
jemanden kennt, der
ein Gehirntrauma
hat, der weiß, dass
man danach nicht
einfach ein paar
Monate später wieder
als
Ministerpräsident
agieren kann. Noch
dazu, wenn man
Schuld trägt am Tod
eines anderen
Menschen. Dass sie
Althaus ins Rennen
geschickt haben,
weil sie selbst
nicht stark genug
sind, diesen Posten
auszufüllen -
dahinter steckt mehr
Egoismus seiner
Parteileute als
Solidarität.
Wenn Sie sagen,
die Hoffnung liege
jetzt auf dem
Engagement, den
Ideen unabhängiger
Gruppen - wünschen
Sie sich einen
zivilen Aufbruch,
ähnlich wie 1989?
Wir sehen doch,
dass auf der ganzen
Welt nach neuen
Formen des
Zusammenlebens
gesucht wird und
nach Wegen, sich
politisch
einzubringen und zu
gestalten. Das ist
nicht nur in
Deutschland zu
beobachten. Manager,
die alles verzockt
haben und deren
Firmen jetzt vom
Staat gefördert
werden, verlangen
Boni. Der normale
Bürger fragt sich:
Was ist das? Ganz
ungerecht. Man
versteht, dass die
Ungarn da vor ihr
Parlament
marschieren und die
Isländer angesichts
ihres bankrott
gemachten Landes
sagen: Unsere
Regierung muss weg.
In Griechenland und
Frankreich gibt es
immer wieder
Unruhen. Dahinter
steckt doch der
Wunsch nach
Gerechtigkeit, die
Sehnsucht nach einer
gerechteren Welt.
Angesichts der
global vernetzten
Wirtschaft klingt
das nach David gegen
Goliath.
Klingt doch gut,
muss man nur vom
Ende her denken. Die
sich für gerechtere
Strukturen
einsetzen, haben ja
inzwischen auch
begonnen, sich zu
vernetzen. Zum
Beispiel im Streit
um Wasser, um das
die nächsten Kriege
geführt werden
könnten. Da gibt es
etwa Beziehungen
zwischen Nordafrika
und Südamerika.
Menschen kämpfen für
den freien Zugang zu
Wasser. Sie wollen,
dass Wasser nicht
als Lebensmittel
vermarktet und
gehandelt wird.
Diese Vernetzungen
gehen teilweise an
Europa vorbei. Und
wenn auch viele
meinen, die
weltweiten
Zukunftsfragen
müssen von Europa
aus gelöst werden,
bin ich davon
überzeugt, die
wirkliche Initiative
wird von den armen
Ländern kommen. Sie
werden uns in den
Hintern treten.
Regierungschefs
wie Hugo Chavez in
Venezuela oder Evo
Morales in Bolivien
glauben, mit ihrer
Politik eine
Bewegung für
Gerechtigkeit
anzustoßen ...
Da wohnen zwei
Seelen in meiner
Brust. Ich glaube
nicht, dass sie die
gegenwärtigen
Probleme oder die
der Zukunft lösen;
aber die, die vorher
auf ihren Stühlen
gesessen haben,
haben sie auch nicht
gelöst. Die
Privatisierung von
Bodenschätzen und
die Ausbeutung durch
die reichen
Industrieländer
haben ja gerade in
Lateinamerika
Tradition. Die neuen
Regierungen sind
demokratisch
legitimiert. Und
wenn die Ärmsten der
Armen sagen, wir
leben jetzt besser,
dann ist dies eine
Aussage, über die
man nachdenken muss,
finde ich. Dann kann
man sie nicht
einfach als Spinner
abtun. Obwohl ihre
Demagogie einem
natürlich sehr
vertraut vorkommt
und wenig Vertrauen
weckt. Wenn sie erst
einmal an der Macht
sind, kämpfen sie
vor allem darum,
dranzubleiben.
Sie haben in der
DDR Bespitzelung
erlebt und auf dem
Balkan gesehen, dass
sich ethnische
Gruppen gegenseitig
umbrachten, die
zuvor friedlich
zusammenlebten. Was
haben Sie in all den
Jahren über die
Menschen gelernt?
Wer mit offenen
Augen durchs Leben
geht, weiß, dass die
Menschen zu allem
fähig sind - wenn
sie nicht ihre
Grenzen haben, keine
positive
Orientierung an
ihrer Tradition oder
ihrer Religion, wenn
es keine stabile
Zivilgesellschaft
gibt.
Wie stabilisiert
man die
Zivilgesellschaft?
Indem man den
einzelnen stärkt.
Wenn du ihm Mut
machst, sich
einzumischen - davon
bin ich
hundertprozentig
überzeugt - wird er
sich einmischen.
Aber die
Zivilgesellschaft
ist so anfällig wie
der einzelne Mensch.
Sie ist dauernd in
Gefahr, im Morast
der Unterdrückung
und der Anpassung zu
versinken. Besonders
gefährdet ist sie
da, wo
Machtstrukturen im
Geheimen aufgebaut
werden, die nicht
mehr transparent
sind, nicht
durchschaubar. Wo
Menschen bespitzelt
werden. Damit fängt
in der modernen
Gesellschaft die
Entsolidarisierung
und Unterdrückung
des Einzelnen an.
Sehen Sie denn
die Demokratie
hierzulande in
Gefahr?
Man muss sich nur
die zahlreichen
Einschränkungen der
Bürgerrechte ansehen
zur angeblichen
Terrorprävention -
von Lauschangriff
bis
Telefonüberwachung.
In der DDR wurden
Menschen überwacht,
um angeblich das
System vor Feinden
des Sozialismus zu
schützen. Heute will
der Staat das Land
vor Terroristen, die
Wirtschaft ihr
System angeblich vor
Korruption schützen.
Lidl, die Bahn, die
Telekom, die Post
bespitzeln ihre
Leute. Wer weiß, wer
noch alles seine
Mitarbeiter
überwacht - eine
gefährliche
Entwicklung.
Sie sprechen von
Bürgerrechten, von
gerechten
Strukturen. Mit
diesen Themen
mobilisierten die
Bürgerbewegungen
1989 die
Ostdeutschen. Heute
punktet die
Linkspartei damit.
Hat sie den
Bürgerrechtlern das
Erbe abgejagt?
Das ist für mich
Gerede von gestern.
Ich laste diesen
Leuten das, was
jetzt ist, zwanzig
Jahre nach dem Ende
der DDR nicht mehr
an. Zwanzig Jahre
sind eine lange Zeit
für eine Demokratie,
und wenn diese
Demokratie es
zugelassen hat, dass
sich die SED durch
ständige
Metamorphose so
etablieren konnte,
ist das vielleicht
schmerzhaft für
viele; aber heute
muss die
Gesellschaft das
akzeptieren. Wofür
sind diese
SED-PDS-Linken heute
noch verantwortlich,
wofür nicht alle
anderen
mitverantwortlich
wären? Sie sind
Mitspieler im
politischen System
und spielen genauso
schlecht wie alle
anderen.
Das klingt
versöhnlich.
Es waren ja nicht
alle kleine Teufel
in dieser SED. Wir
wussten doch auch
damals schon, dass
es Menschen mit ganz
unterschiedlichen
Vorstellungen in
dieser Partei gab,
und manche sehr
unglücklich dort
waren. Aber es gibt
in der Linkspartei
heute auch Leute,
die es in der
Nachwendezeit
wunderbar geschafft
haben, Boden unter
die Füße zu kriegen,
Einfluss zu gewinnen
und sich wieder zu
bereichern.
Linkspartei ist
also nicht
Linkspartei? Es gibt
den unscheinbaren
Genossen auf der
einen und den
Schurken auf der
anderen Seite?
Diese Linkspartei
ist keine homogene
Partei. Leute wie
Gysi und Modrow
stehen für Demagogie
und Unterdrückung in
der DDR. Aber es
gibt auch viele
andere - wie den
kleinen
Parteigenossen aus
einer Chemiefabrik
in Bitterfeld, der
nach 1989 glaubte,
sich jetzt
einbringen zu
können, damit
vielleicht endlich
mal was für die
Ökologie getan wird
in seinem Umfeld.
Das sind ja nicht
alle Modrows in
dieser Partei. Die
alten
unverbesserlichen
Funktionäre sind
nach zwanzig Jahren
ein Auslaufmodell.
Woher nimmt die
Linkspartei ihren
wachsenden Zuspruch?
Aus der
Unglaubwürdigkeit
der anderen
Parteien. Die ist so
enorm groß, davon
profitiert die PDS.
Wo findest du denn
noch eine Partei,
die es wagt, von
Gerechtigkeit zu
sprechen? Die
findest du nicht.
Die SPD verbreitet
nur Sprechblasen,
wie wir wissen. Ich
würde diese mehrfach
gewendeten Linken
nicht wählen, aber
sie sind da und
werden ihre Wähler
finden. Und dafür,
dass sie ihre Wähler
finden, sind alle
anderen
mitverantwortlich,
die diese Themen
nicht aufgegriffen
haben.
Warum sind Sie
Mitte der
Neunzigerjahre auf
den Balkan gegangen?
1996 war mir
klar, dass ich hier
nicht mehr viel,
eigentlich gar
nichts bewirken
konnte. Es sei denn,
ich wäre in eine
Partei gegangen,
hätte mich diesem
Druck gebeugt. Als
Einzelkämpferin oder
Bürgerrechtlerin
hatte ich null
Chancen, hier etwas
auszurichten. Ich
hätte mich nur noch
als Aufkleber
verkaufen können für
irgendwelche
Festivitäten. Da
habe ich einfach von
meiner Freiheit
Gebrauch gemacht, zu
leben, wo ich
wollte, wo es
sinnvoll für mich
war. Für diese
Freiheit hatten wir
uns ja schließlich
1989 eingesetzt. Ich
hatte ja nicht die
Absicht,
Bundeskanzlerin zu
werden. Ich habe
einfach einen
anderen Raum - den
Balkan - betreten.
Wieso gerade den
Balkan?
Rupert Neudeck
von der
Hilfsorganisation
Cap Anamur sprach
mich an. Cap Anamur
hatte dort
Hilfsprojekte, für
die sie Mitarbeiter
suchten. Ich habe in
der Zeit auf dem
Balkan sehr, sehr
viel gelernt. Ich
habe mich selbst
infragestellen
müssen - zum
Beispiel meinen
Pazifismus. Ich habe
nicht nur andere
Kulturen und
Traditionen
kennengelernt,
sondern auch erlebt,
wie kleinkariert,
hilflos und
korrumpierbar
internationale
Aufbauhilfen oft
sind.
Was war die
schönste Zeit in
Ihrem Leben?
Man hat ja
verschiedene schöne
Zeiten im Leben.
Aber am schönsten
war der Herbst '89.
Dass dies alles
überhaupt möglich
war! Ich war ja
schon immer
hundertprozentig
davon überzeugt,
dass die Menschen
größer sind als das,
was man von ihnen
sieht. Dass man
ihnen viel mehr
zutrauen kann. Die
Menschen trugen so
im Stillen viele
Vorstellungen davon
in sich, wie die
Welt sein müsste.
Die hatten so viele
Ideale, Träume und
Lust, sich
einzubringen. Und
sie hatten so lange
einfach keine
Möglichkeit gesehen,
das zu leben. Sehr
viele wussten, was
falsch läuft, und
jeder hatte Ideen,
was zu tun ist. Die
Arbeiter wussten, wo
in ihrem Betrieb die
Macken sind, und was
man ändern müsste.
Das alles brach im
Herbst '89 so aus
den Leuten heraus.
In diesem Jahr
erscheinen dutzende
Bücher über diese
Zeit.
Ja, andere
schreiben jetzt
dicke Bücher über
die Revolution. Aber
es war nicht die
Revolution von ein
paar
Bürgerrechtlern. Das
war ja das Schöne
daran, dass wir mit
einem Mal nicht mehr
alleine waren, dass
plötzlich so viele
mitmachten. Ich kann
eigentlich nur von
meiner Revolte
sprechen, die durch
den Herbst '89
tatsächlich zu so
etwas wie unserer
Revolution wurde.
Damals habe ich das
einfach
überwältigende Glück
kennengelernt,
Menschen zu finden,
die mit mir für eine
Weile am selben
Strang gezogen
haben. Menschen, die
ähnlich dachten,
handelten und
ähnliche Ziele
hatten. Erst waren
wir wenige, dann
aber schlossen sich
so viele an, dass
daraus wirklich so
etwas wie unsere
Revolution wurde.
Wie prägend war
für Sie die
DDR-Zeit?
Mir ist
aufgefallen, dass
für die, die im
Osten aufgewachsen
sind, diese Zeit
ungeheuer prägend
war - selbst wenn
sie dann in den
Westen gegangen
sind. Diese Zeit hat
so viel mit uns
gemacht - im Guten
wie im Schlechten,
auch wenn uns das
manchmal gar nicht
bewusst ist.
Was meinen Sie?
Wir sind so
aufgewachsen, dass
da immer
irgendjemand war,
der in unser Leben
eingegriffen hat,
uns unsere
Möglichkeiten
versaut hat. Machten
wir in der Schule
eine Fete mit
Beatles-Musik, hieß
es gleich, das ist
staatsfeindlich.
Dein Haarschnitt,
deine Brille, alles
wurde kontrolliert
und bewertet.
Irgendwie war man
immer jemand, der
aneckte. Dabei
träumten wir nur
davon, diese
Gesellschaft so zu
verändern, dass wir
darin unseren Platz
finden konnten. Ich
beschäftigte mich
mit vielen Dingen -
und die hatten alle
mit Freiheit zu tun
und mit Bildung.
Beides war
beschnitten, du
konntest nicht die
Bücher kaufen, die
du wolltest. Und
über Freiheit hat
kaum jemand laut
nachgedacht, weil
allein der Gebrauch
des Wortes Freiheit
einen schon in eine
staatsfeindliche
Ecke trieb. Aber
alle wollten frei
sein.
Das sind die
Menschen ja jetzt.
Schätzen sie ihre
Freiheit denn?
Ja, jetzt sind
alle irgendwie frei.
Aber zu wenige
nutzen die Freiheit.
Zu viele lassen sich
mit ganz anderen
Sachen beschäftigen,
mit so blöden - wie
Schnäppchenmachen.
Oder sich Lippen und
Busen aufpolstern
und den Hintern
absaugen zu lassen,
um irgendeinem
Schönheitsideal zu
entsprechen. Was hat
das mit menschlicher
Schönheit zu tun?
Oder sie bedienen
ihr
Sicherheitsbedürfnis.
Noch eine
Versicherung hierfür
und eine dafür. Und
dann stellt sich
während so einer
Finanzkrise heraus:
alles Humbug.
Kannste alles
vergessen. Es gibt
keine Sicherheit im
Leben. Also können
wir doch eigentlich
auch mutiger sein
und frecher!
Mutiger und
frecher - um was zu
tun?
Mutiger und
frecher in unseren
Vorstellungen,
politischen
Forderungen und
Verweigerungen. Die
Menschen haben in
den letzten Jahren
so viel geschluckt.
Es ging vielen
sicher nicht anders
als mir. Man war oft
sprachlos. Schröder
erklärte uns zum
Beispiel Putin als
lupenreinen
Demokraten. Der
Deutsche Bundestag
stand auf und
klatschte Beifall.
Inzwischen ist
vielen wohl klar
geworden, welcher
Ente sie da
aufgesessen sind.
Oder dieser
Wahlkampf jetzt -
jeder schiebt jedem
die Schuld für
gemachte Fehler zu,
nur er selbst will
keine Verantwortung
übernehmen. Keine
Gruppe in
Deutschland, nicht
mal die der
Finanzer, hat sich
in den letzten
Jahren in
Deutschland so
diskreditiert wie
die politische
Klasse. Die haben
doch den
gesetzlichen Rahmen
für die
Finanzgeschäftler
geschaffen. Und
jetzt führen die
Politiker wieder
einen Wahlkampf, als
hätten sie mit all
dem nichts zu tun.
Was also wünschen
Sie sich?
Ich wünsche mir,
dass die Menschen
sich wieder auf
andere Maßstäbe
besinnen, dass sie
sehen, dass dieser
Planet Zukunft zu
bieten hat und nicht
nur abgewrackte
Systeme. Ich hoffe,
dass die Menschen
dafür jetzt wieder
mehr Sinn bekommen.
Sie sind ja
Optimistin, obwohl
Ihnen lange das
Image der
Ost-Jammer-Suse
anhaftete.
Ja, irgendwie bin
ich das wohl. Stimmt
eigentlich: Ich bin
Optimistin.
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