
Der
Spiegel 27. September 1999
Allein gegen
alle
Portrait von Berg, Stefan
Bärbel Bohley: Warum die Symbolfigur des
Herbstes 1989 nicht zur Volksheldin taugte
Oktober 1989, in einer Kirche in
Ost-Berlin: In dem protestantisch schmucklosen Altarraum sitzen Bärbel
Bohley und Jens Reich an einem kargen Holztisch. Bis auf den letzten
Platz sind die Kirchenbänke gefüllt, doch immer mehr Menschen drängen in
das dunkle, kühle Gotteshaus.
Bisher haben sie die beiden Protagonisten des Neuen Forums nur im
West-Radio gehört, manche haben Flugblätter in die Hand bekommen, aus
denen sie nicht ganz schlau wurden: Will das Neue Forum nun den
Sozialismus verbessern? Oder Marktwirtschaft und West-Geld einführen?
An den Mikrofonen in den evangelischen Gotteshäusern, ob in der
Erlöserkirche in Ost-Berlin oder in der Leipziger Nikolaikirche, finden
die Menschen ihre Sprache wieder. An den Mikrofonen erzählen sie ganz
alltägliche Geschichten: von fiesen Handwerkern, dummen
Staatsbürgerkundelehrern oder miesen Bonzen.
Auch in der Kirche, in der Bärbel Bohley
sitzt, melden sich die Menschen zu Wort. Die Malerin genießt es. Wie
lange hat sie solche Augenblicke herbeigesehnt! Plötzlich ist die Frau,
die in diesen Tagen noch öfter als sonst zur Zigarette greift, ganz
ruhig. Leichtigkeit liegt in ihren Gesichtszügen. Die Angst der Leute,
das spürt sie, ist weg. Und wenn die Angst erst mal verflogen ist, hat
das System von Stasi und SED schon seinen Schrecken verloren - das weiß
sie aus eigener Erfahrung.
Würden
die kleine Frau und der schlanke, hoch gewachsene Mann am Podium jetzt
aufstehen und dazu aufrufen, ihnen zu folgen, die meisten Besucher täten
es sicher. Aber die Pose eines Lech Walesa, der in Danzig die Arbeiter
anführte, liegt den Rebellen im Osten Deutschlands nicht. Fertige
Antworten haben sie nicht, Führer wollen sie nicht sein.
"Ich will eine total veränderte DDR, in der jeder Bürger sich endlich
selbst in die Mündigkeit entlässt", ist Bärbel Bohleys Credo. Ihre
Antworten sind Aufforderungen zum Selberdenken.
Massenweise treffen in diesen Tagen
Briefe in dem maroden Haus in der Fehrbelliner Straße im Ost-Berliner
Bezirk Prenzlauer Berg ein, in dem sie wohnt. "Bitte helfen Sie uns,
Frau Bohley", heißt es in vielen Schreiben. "Von der Volkskammer bis zur
Versorgung mit Apfelsinen", stöhnt die Empfängerin der Bittschriften,
"reicht unsere vermeintliche Anwaltschaft." Das Vertrauen des Volkes in
die zierliche Frau ist in diesen Wochen schier unbegrenzt. Bald gilt sie
als "Mutter der Revolution", als "Jeanne d''Arc vom Prenzlauer Berg".
Doch zur Volksheldin taugt Bärbel Bohley nicht. Nur ein paar Wochen lang
hat sie ein inniges Verhältnis zu diesem DDR-Volk - bis zum Fall der
Mauer.
Als die Leute plötzlich nach
West-Berlin strömen, sieht sie ihren Traum von den selbstbewussten und
mündigen Mitbürgern in den Einkaufspassagen des Ku''damms verenden. "Die
Leute sind verrückt, und die Regierung hat den Verstand verloren",
kommentiert sie den Mauerfall. Von diesem Satz bis zur Niederlage der
Oppositionsgruppen bei den Volkskammerwahlen im März 1990 ist es nur ein
kurzer Weg. Monate später ist die Heldin des Herbstes 1989 politisch
wieder fast so isoliert wie in den Jahren der Dissidenz. Doch auf
einsamem Posten zu kämpfen stört sie nicht, dort ist ihr Stammplatz.
Bärbel Bohley, Jahrgang 1945, ist das Gegenbild zum Erziehungsziel der
DDR-Volksbildung. Dem verordneten Kollektivgeist hat sie einen
Individualismus entgegengesetzt, dessen Unberechenbarkeit die
Herrschenden nervte, dessen latenter Autismus es auch Freunden nicht
immer leicht machte. "Mein Oppositionsgeist", hat sie einmal gesagt,
"ist immer ganz persönlich."
Anfang
der Achtziger, als in Ost wie West der Widerstand gegen die Hochrüstung
wuchs, geriet die Malerin, die in der DDR Grafik studieren durfte und es
sogar zum Mitglied der Sektionsleitung des Berliner Bezirksverbandes
Bildender Künstler brachte, ins Visier der Staatsorgane. Eine Eingabe
gegen ein neues Wehrgesetz, nach dem im Ernstfall auch Frauen hätten
eingezogen werden können, führte zum Rausschmiss aus der
Sektionsleitung. Weil sie mit englischen Frauen über Krieg und Frieden
diskutierte, nahm sie der Staatssicherheitsdienst zum Jahreswechsel
1983/84 für sechs Wochen in Untersuchungshaft, wegen
"landesverräterischer Nachrichtenübermittlung". Damals gehörte sie schon
zum Kern der DDR-Opposition, zur Gruppe "Frauen für den Frieden".
Gemeinsam mit anderen Bürgerrechtlern
gründete Bohley 1986 die "Initiative für Frieden und Menschenrechte" (IFM),
die anders sein wollte als die zahlreichen kirchlichen Friedenskreise im
Land - eine Oppositionsgruppe nach dem Vorbild der tschechischen Charta
''77.
Damals lernte sie die
westdeutsche Grünen-Gründerin Petra Kelly kennen und schätzen, die im
Unterschied zu anderen West-Politikern Kontakt nicht nur zu den
Mächtigen in der DDR suchte. Regelmäßig traf sich die
Bundestagsabgeordnete Kelly mit DDR-Oppositionellen, die sie mit Büchern
und Druckmaterialien versorgte, "kofferraumweise", wie sich das einstige
IFM-Mitglied Ralf Hirsch erinnert. Als Erich Honecker 1987 Bonn
besuchte, schenkte die Grünen-Politikerin dem SED-Boss einen Bildband
der DDR-Malerin - ein in den Jahren der Teilung einmaliger Akt der
Solidarität.
Die Chance, die
Querulantin endlich loszuwerden, sah die DDR-Regierung 1988.
Oppositionelle und Ausreisewillige störten einen SED-Gedenkmarsch für
die ermordeten Arbeiterführer Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg mit
eigenen Transparenten; Opfer der darauf folgenden Verhaftungswelle wurde
auch Bärbel Bohley.
Reihenweise
wurden Dissidenten damals gen Westen abgeschoben. Doch wieder gelang ihr
das eigentlich Unmögliche: Mit ihrem damaligen Lebensgefährten Werner
Fischer erstritt sie sich im Gefängnis das Recht auf Rückkehr in die
DDR. So war sie, anders als andere, zur Stelle, als der Traum vom
Aufbruch wahr wurde.
Am 9.
September 1989 verfasste Bärbel Bohley mit zwei Dutzend weiteren
Oppositionellen den Gründungsaufruf für das Neue Forum. Später trieb sie
konsequent, mitunter gnadenlos, die Aufdeckung der Stasi-Machenschaften
voran. Sie machte Manfred Stolpe und Gregor Gysi das Leben schwer, die
sich der eigenen Vergangenheit nicht stellen wollten. Und als Gysi ihr
per Gericht verbieten ließ, ihn einen "Stasi-Spitzel" zu nennen, nannte
sie ihn, typisch Bohley, eben "Stasi-Spritzel".
Ihr Versuch jedoch, die Bürgerbewegung in
die neue Zeit zu retten, scheiterte - nicht zuletzt an der Mitgründerin
selbst. Ihr Individualismus wurde der Organisation zum Verhängnis. Ohne
oder gegen sie, das ließ sie die Mitstreiter oft genug spüren, sei das
Neue Forum undenkbar.
Im August
1995 brach sie noch einmal spektakulär ein Tabu: In ihrer Wohnung
empfing sie Bundeskanzler Helmut Kohl, der sich 1990 über die Bedenken
und Ratschläge der einheitsskeptischen Bürgerbewegten hinweggesetzt
hatte. Die Begegnung mit Kohl, die den Eintritt einiger Bürgerrechtler
in die CDU einleitete, markierte zugleich den Endpunkt der
DDR-Bürgerbewegung.
Doch bis heute
zählt Bärbel Bohley mit Jens Reich und Richard Schröder zu den wenigen
politischen Figuren des Herbstes 1989, die weder Amt noch Mandat
brauchen, um Debatten zu entfachen - wenn es sein muss, allein gegen
alle.
Im Jahre 1996 besetzte sie
wieder einen vermeintlich aussichtslosen Posten: Sie ging als
Aufbauhelferin nach Bosnien - und wurde von der DDR eingeholt. Die
"stumpfen, grauen, müden Gesichter, das stumme Gehetze der Laufenden,
die Lethargie der Wartenden", schreibt sie, seien ihr vertraut
vorgekommen - "aus der DDR der sechziger und siebziger Jahre".
Bärbel Bohley auf der Suche nach der eigenen
Vergangenheit? Fotos aus Bosnien, die sie vor halb zerschossenen Häusern
zeigen, erinnern verblüffend an alte Bilder mit ihr aus den Hinterhöfen
am Prenzlauer Berg.
STEFAN BERG
Quelle:
SPON,
27.09.1999;
Der Spiegel, 27.09.1999