Interviews

Süddeutsche Zeitung - 10/11. Januar 2009

Bärbel Bohley

über

1989

 

von Maxi Leinkauf

SZ: Frau Bohley, wir treffen uns in Ihrer alten Wohnung in der Fehrbelliner Straße in Prenzlauer Berg. Sie waren 12 Jahre weg. Wie ist das Wiederkommen?

Als ich zurückkam hier in mein Viertel, da war ich verwirrt. Mein Lebensraum war in den letzten zwölf Jahren vorwiegend auf dem Balkan. In dieser Zeit hat sich hier viel verändert. Mein Haus wurde um 1860 gebaut, mit Außentoilette, Schwein auf dem Hof und einem Stall. Ich lebe in einem ehemaligen Arbeiterbezirk: Früher gab es hier in den Wohnungen keine Flügeltüren oder Parkett. Die sind aufgemotzt und verkleidet worden. Ich trauere nicht kaputten Fassaden hinterher. Aber dem verschwundenen Lebensgefühl.

Den verschwundenen Menschen?

Ja. Mir fehlt unser alter Klempner. Die Frau, die die Tauben gefüttert hat. Oder meine Verkäuferin. Der Prenzlauer Berg war immer so eine soziale Mischung. Hier sah man Studenten mit Arbeitern oder Rentnern. Das war lebendig. Ich kannte fast alle meine Nachbarn. Jetzt sind sie mir fremd. Sie sagen "Hi" statt "Guten Tag". Manchmal komme ich mir vor, als würde ich in einem Theater leben.

Sie waren Hauptdarstellerin im Herbst "89: erst ostdeutsche Dissidentin, später die Symbolfigur des Neuen Forums. Sie waren die Mutter der Revolution . . .

. . . ich erinnere mich an das wunderbare Hochgefühl, das wir 1989 hatten! Ein herrliches großes Wir-Gefühl. Meine Wohnung sah nicht so ordentlich aus wie jetzt, sondern total chaotisch. Auf dem Boden lagen Flugblätter von den Bürgerbewegungen, die in der Wendezeit entstanden sind: SDP, Demokratie Jetzt, Neues Forum. Fremde klingelten an der Tür und sagten: "Wir wollen mitmachen." Das "Wir" von "89 war ein aktives Wir. Nicht dieses dumme Kollektivgefühl, das wir manchmal in der DDR hatten. Es war der Wunsch, etwas gemeinsam zu machen. Niemand, der opponieren wollte, hatte mehr Angst. Der Herbst "89 war die schönste Zeit meines Lebens.

Weil der Traum greifbar schien, die DDR zu reformieren?

Das stimmt, ich wollte dieses Land verändern. So dass man darin atmen kann. Wir haben unsere Chance verpasst. Wir Bürgerrechtler haben auf unsere Weise auch zu eng gedacht. Wir scheiterten daran, diese Veränderungen selbst zu steuern, die wir losgetreten haben. Vor dem Herbst 1989 forderten nur wenige: Deutschland, einig Vaterland.

Danach ging es umso rasanter weiter.

Ja, weil die sich auftürmenden Probleme übermächtig wurden. Wir glaubten nicht, sie ohne Hilfe des Westens bewältigen zu können. Heute denke ich, wir hätten damals unsere Macht wahrnehmen und in Bonn vertreten müssen: Wer war, bitte schön, der Herr Krause? Und wer war der Herr Diestel? Diese Herren, die plötzlich mit Kohl verhandelten, kannte niemand. Wir vom Neuen Forum hätten den Einigungsvertrag mitbasteln sollen.

Der Dresdner Dissident Arnold Vaatz hat den Grünen vorgeworfen, sie hätten die Bürgerrechtler in ihren Reihen "gekillt". Waren Sie das Feigenblatt der Profis im politischen Geschäft?

Wir haben uns selber lahmgelegt. Wir waren keine Machtmenschen, es ging uns mehr um die Inhalte. Wir wollten eine gestaltende Rolle spielen. Aber manche von uns strebten in den Bundestag, die haben es auch geschafft. Die kriegen heute sicher eine bessere Rente als ich. Politisch sind sie in meinen Augen bedeutungslos. Ich wollte mein Leben nie auf den Bänken eines Parlaments ansiedeln.

Helmut Kohl war dann der Kanzler der Einheit. Vielen Bürgerrechtlern galt er als Feind. Wie haben Sie, Frau Bohley, ihn wahrgenommen?

Ich bin ihm ja mehrmals begegnet. Er hat mich auch zu Hause besucht: Ich dachte, so jemand hat für einen Menschen wie mich eigentlich kein Verständnis. Kohl ist der totale Machtmensch. Das ganze Gegenteil von mir. Aber er hat mich überrascht. Der konnte zuhören. Ich habe ihm gesagt, dass ich es wirklich bedaure, dass wir 1989 nicht stärker unsere Position geltend gemacht haben. Er sagte: "Tja. Hätten Sie"s doch mal getan."

Er sah keine Gefahr mehr in Ihnen.

Nein. Er hat uns aber als Menschen gesehen. Das tut er bis heute. Helmut Kohl war der erste und einzige Politiker, der mir vor kurzem in einer für mich sehr schwierigen Situation sofort einen Brief geschrieben hat. Das hat mich tief berührt. Er hat das ja nicht getan, weil ich ihm politisch etwas bedeuten würde. Ich hatte außerdem die CDU immer härter kritisiert als andere Parteien. Unsere Begegnungen aber waren in Ordnung. Er hat mir dieses Konservative, das mir eigentlich abgeht, ein bisschen näher gebracht. Und er hat mich später auch bei meiner Arbeit in Bosnien unterstützt.

Für das Neue Forum waren Sie wegen der Treffen mit Kohl die Verräterin.

Das war hart. Ich habe gespürt, dass es kein wirkliches "Wir" mehr unter den Oppositionellen gibt. Wir waren nun lauter Individuen. Manche sind später selber in die CDU gegangen, manche zur PDS. Ich war nie in einer Partei. Das Ideologische liegt mir einfach nicht.

Sie sind vielen Politikern begegnet. Wer außer Kohl hat Sie noch beeindruckt?

Petra Kelly war eine besondere Freundin. Ich frage mich ab und zu, wie sie sich heute fühlen würde. Bestimmt ziemlich heimatlos. Sie war eine Kerze, die an zwei Enden brennt. Sie hat den Grünen nicht recht gepasst. Ich erinnere mich an heftige Diskussionen vor der Wende, zwischen Antje Vollmer, Petra Kelly und den anderen. Die Frage war, wer von ihnen hält den Kontakt zur Ost-Opposition. Antje Vollmer hatte Verwandte im Osten und wollte mit den Vertretern der SED reden. Petra ging zu den Oppositionellen. Sie musste riskieren, nicht mehr wiederkommen zu können. Sie hörte oft: Wenn sie dich dann nicht mehr hinein lassen, ist das nicht so schlimm.

Manche Linke im Westen fanden die SED besser als die Oppositionellen in der DDR?

Wären sie an der Sache der Menschenrechte interessiert gewesen, hätten sie mit beiden Lagern reden müssen. Die Grünen waren pragmatisch und bequem. Ich frage mich manchmal, was bloß aus denen geworden wäre, wären sie im Osten groß geworden. Petra Kelly hätte sich nirgends angepasst. Viele verschrien sie deswegen als anstrengend, hysterisch, eine Schreitante. Es war fast wie bei mir nach der Wende. Eine Schublade: Die Jammernde, die Verbitterte.

Sie wirken aber jetzt gerade sehr anders auf mich. Als seien Sie versöhnlicher geworden. Mit sich und der Welt.

Das stimmt, diese Klischees haben mit mir wenig zu tun. Aber die meisten Leute brauchen eben extreme Schwarzweiß-Bilder. Auch wenn die kaum etwas über die Menschen erzählen. Die sind glücklicherweise vielschichtiger und reicher. Die Feinde ebenso wie die Freunde.

Sie boten eine große Projektionsfläche. In Ihnen spiegelten sich Hoffnung, Aufbruch und dann die Enttäuschung über den Fall der Bürgerbewegung.

Ich war oft die Stellvertreterin für andere Menschen. Zu DDR-Zeiten war ich die Staatsfeindin, später die Jeanne d"Arc der Revolution, anschließend dann die Heulsuse. Ich habe mich nur selber nie so empfunden.

Warum sind Sie Mitte der 90er Jahre nach Bosnien gegangen?

Ich habe in Deutschland keine Aufgabe mehr für mich gesehen. Nach der Einheit waren die Weichen gestellt: Ich hätte den neuen Bedingungen hinterher rennen können oder still in einer Ecke sitzen und schmollen. Die Geschichte ist anders gelaufen als ich es mir vorgestellt hatte. Es hat mich genervt, die ewige "Mutter der Revolution" zu sein und nur zu Repräsentationszwecken gebraucht zu werden.

Hat sich auf dem Balkan Ihr Blick auf die deutschen Verhältnisse relativiert?

Ich bin vielleicht demütiger geworden. In Bosnien verlor ich diese kleinkarierten deutschen Denkmuster. Ich kam in ein total zerstörtes Land. Sarajewo war im Ausnahmezustand. Es gab kein Wasser, keinen Strom, nicht eine Fensterscheibe, die noch heil war. Überall nur Barrikaden und kaputte Menschen. Da ist in mir etwas aufgebrochen. Ich habe die Menschen verstanden, und ich fühlte mich nützlich. Ich hatte das Gefühl, nicht mehr im Kreis zu rennen. Mein Blick ging weg von mir, hin zu den anderen. Das ging ja nicht nur mir so. Ich traf deutsche Soldaten, die in Sarajewo stationiert waren und ihr Geld in eine Spendenbüchse geworfen haben. Davon haben wir für die behinderten Kinder einer Schule in Sarajewo Stühle gekauft. Ich habe dann einen bosnischen Mann geheiratet. An der Adriaküste haben wir ein kleines Sommerhaus angemietet. Dorthin kamen im Sommer Waisenkinder aus allen ethnischen Gruppen. Wir kochten, saßen in guter Atmosphäre um einen großen Tisch und die Kinder erzählten. Die Geschichten der Kinder waren teilweise furchtbar. Aber in diesen Tagen waren sie vergessen - da war für sie alles leicht.

Und wie war das für Sie? Sie konnten wieder etwas beeinflussen, oder?

So wie im Herbst "89. Nur jetzt musste ich überlegen: Wo kriege ich Scheiben her? Woher Geld für Dächer? Wie können wir Schulen und Zisternen bauen? Wie verhalte ich mich gegenüber den religiösen Gemeinschaften? Was geschieht mir, wenn ich mich nicht an deren Kriterien halte: orthodox, muslimisch, katholisch? Wie verhindere ich es, mich einspannen zu lassen? Mischehen gehörten beispielsweise nirgends dazu. Ich wollte dieses furchtbare Kastendenken auch nicht akzeptieren.

Wie haben Sie sich mit den Menschen dort verständigt?

Mein Englisch war schlecht. Mein Russisch war, typisch DDR-Bürgerin, weitaus besser. Ich habe etwas serbokroatisch gelernt. Und viele Menschen sprechen Deutsch. Die meisten vom Krieg zerstörten Häuser, die wir wieder aufbauten, gehörten jugoslawischen Gastarbeitern in Deutschland. Sie schickten regelmäßig Geld für ein neues Heim nach Hause. Dann wurde es zerstört und musste nochmals aufgebaut werden. Mit deutschen Mitteln wurde sehr viel wieder hergerichtet. Ich hörte oft: "Danke, Deutschland!" Das war mir anfangs ziemlich peinlich.

Warum?

Mir kam "Deutschland" nicht so leicht über die Lippen. Als Nachkriegskind wurde ich in Ruinen groß. Ich war in dem Bewusstsein aufgewachsen, dass wir mit dem geteilten Deutschland nach dem Krieg gerecht bestraft sind.

Wie sind Sie erzogen worden?

Meine Eltern waren einfache Leute. Mein Vater war Konstrukteur und seine Haltung war: Geh nie in eine Partei! Er musste sich nicht dafür schämen, in der NSDAP gewesen zu sein. Er war auch später nicht in der SED. Nach 1945 arbeitete er als Neulehrer und musste sich nach dem niedergewalzten Volksaufstand im Juni "53 einen anderen Job suchen. Meine Eltern haben mich in meinem Handeln weder ermutigt noch entmutigt. Ich durfte jedes Buch lesen, das ich fand. Beispielsweise den Roman von Martin Anderson Nexö: "Ditte Menschenkind".

Die Geschichte einer namenlosen Frau, die sich für ihre Umwelt aufreibt.

Als Elfjährige habe ich das Buch verschlungen. Es gab auch eine angebliche Sexszene, in der das Mädchen vom Knecht verführt wird. Die Mütter meiner Mitschülerinnen waren entsetzt. Meine Eltern dachten: Was sie versteht, versteht sie und was nicht, das nicht.

Sie kannten wenig Grenzen. Sind denn Dissidenten die besseren Menschen?

Helden? Nein. Manche Menschen sind dafür geschaffen, andere nicht. Ich tat das, was ich wollte und musste. Opposition - das ist kein einziger großer Schritt. Sondern es sind viele kleine. Man wächst langsam in den Widerstand hinein. Immer weiter. Ich hatte bis 1988 eigentlich selten vor etwas Angst. Was sollte mir passieren? Nach der Einsicht in meine Stasi-Akte habe ich allerdings gemerkt, dass ich ein bisschen blauäugig war.

Können Bürgerrechtler heute noch eine Rolle spielen?

Ja, sicher. Sie sollten Themen ins öffentliche Bewusstsein bringen, wenn die Parteien versagen. Zum Beispiel in der Sicherheitsfrage: Bauen wir einen Sicherheitsstaat auf, der die Bürgerrechte einschränkt? Ich liebe meine Freiheit so sehr, dass ich es riskiere, mit einem Terroristen im Flugzeug zu sitzen. Ich empfinde es als Terror, dass ich diese kleinen Fläschchen nicht im Handgepäck tragen darf und sogar ein Nacktscanner geplant werden konnte. Damit soll letztlich unser Denken besetzt werden. Auch der skandalöse Datenmissbrauch von Unternehmen geht nur mal kurz durch die Presse. Doch die Nation ist nicht erschüttert. Eigentlich müssten alle Kopf stehen.

Frau Bohley, nur 13 Prozent der Ostdeutschen sind zufrieden mit ihrem Leben nach dem Mauerfall. Was läuft schief?

Wie soll die schnelle Einheit funktionieren für jemanden, der vierzig Jahre woanders gelebt hat? Dessen Land wie vom Erdboden verschluckt wird? Die Ostdeutschen haben diesen enormen Anpassungsdruck. Wäre der gesamte Prozess langsamer verlaufen, wäre das hilfreicher gewesen. Wenn die Leute am Etablieren neuer Strukturen beteiligt gewesen wären, ihr neues Land selber wieder aufgebaut hätten. So aber saßen sie plötzlich in einer Bude, die sie gar nicht hergerichtet haben. Etwas aufgepropft zu bekommen, hilft den Leuten emotional nicht. Sie blühen auf, wenn sie selber etwas schaffen. Das habe ich auch in Jugoslawien beobachtet.

Der Philosoph Bernard Henri Lévy schrieb 1990, dass die bald von der Realität Enttäuschten der "guten alten Zeit" nachtrauern werden. Und der Psychoanalytiker Hans Joachim Maaz bestätigte, viele Ostdeutsche hätten das Gefühl, ihre Lebensleistung in der DDR würde nicht anerkannt.

Das begreife ich nicht: Warum soll jemand mein Leben anerkennen? Ich würde das von niemandem erwarten. Das ist eindeutig zuviel verlangt.

Machen denn die Westdeutschen etwas falsch? 75 Prozent von ihnen wollen nicht mehr in den Aufbau Ost investieren.

Ich habe mir nach der Wiedervereinigung von beiden Seiten ein anderes Verständnis gewünscht. Dafür, dass diese historische Zäsur sowohl den Osten als auch den Westen betrifft. Sie ist aber leider nicht als Chance begriffen worden.

Und nun?

. . . haben wir Ostdeutschen fremde Lebensformen übernommen und versuchen, darin anzukommen. Seither leben wir in einem luftleeren Raum, zwei Jahrzehnte lang. Wir leben verzögert.

Hat sich in den Jahren in Bosnien Ihre Weltsicht verändert?

Ich denke jedenfalls mittlerweile global. Ich frage mich: Wohin soll sich die Welt entwickeln? Ist Wachstum das Maß aller Dinge? Müssen wir nicht darüber nachdenken, wie wir mit den Ressourcen umgehen? Unbegrenztes Wachstum sollte vor allem in der Kultur und in der Bildung stattfinden, aber nicht wenn es um den Verkauf von Autos geht. Insofern begreife ich die Finanzkrise auch als Chance. Als den Anfang einer gemeinsamen Suche nach einem neuen Wertesystem.

Haben Sie das Gefühl, in Ihrem Leben etwas geopfert zu haben?

Umgekehrt: Ich habe viel gewonnen. Menschen, Erlebnisse, Erfahrungen. Mein Leben war nie langweilig. Ich habe zwar nach 1989 alle möglichen Orden gekriegt. Sogar das Bundesverdienstkreuz. Die wenigsten davon hatten etwas mit mir zu tun. Ich war die Vorzeigefrau für Tausende anderer Menschen, die sie genauso verdient haben. Einmal habe ich auch eine Medaille in Sarajewo erhalten. Es ist die einzige, auf die ich wirklich stolz bin.

Kehren Sie auf den Balkan zurück?

Nein. Und das macht mich ein bisschen traurig. Aber doch bleiben mir die Menschen in Kroatien nah.

Quelle: SZ v. 10.11.01.2009