Den Fall der Mauer hat Bärbel Bohley verpennt. Als die ersten Bilder am 9. November 1989 über die Mattscheiben flimmerten, ist sie ins Bett gegangen, wohlwissend, "dass die DDR erledigt ist".
15 Jahre später sitzt die frühere DDR-Bürgerrechtlerin ausgeschlafen neben dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl im Tränenpalast am Berliner S-Bahnhof Friedrichstraße. Auf Einladung der Konrad-Adenauer-Stiftung und der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen sind beide gekommen, um nachzudenken, über den "Mauerfall und was wir daraus gemacht haben".
CDU-Chefin Angela Merkel bauchpinselt den Bundeskanzler a. D. schon in ihrer Begrüßungsrede. Ohne den "Kanzler der Einheit", hätte "die Geschichte unseres Landes nicht diese Entwicklung nehmen können". Helmut Kohl wiegt sich zufrieden in seinem Stuhl. Auch Bärbel Bohley habe großen Mut bewiesen, fährt Merkel fort. Sie und andere Mitstreiter hätten "sich ohne Rücksicht auf persönlichen Schaden gegen das SED-Unrechtsregime gewehrt". Beiden Wendefiguren gebühre daher "großer Dank". Mit stockender Stimme erzählt Merkel auch Persönliches. Zusammen mit ihrer Mutter habe sie die Oma aus dem Westen, die nur selten zu Besuch kommen konnte, jedes Mal tief traurig am Tränenpalast verabschieden müssen. Man habe nie gewusst, wann man sich wiedersehen werde. Es "war ein Ort der Trennung und der Tränen", sagt Merkel gerührt, aber heute sei der Tränenpalast ein "Ort der Begegnung".
Sie geht nicht ohne deutliche Worte an den jetzigen Bundeskanzler. Schröders Vorschlag, den Nationalfeiertag abzuschaffen, offenbare eine "beängstigende Geschichtslosigkeit" und "einen beispiellosen Mangel an Verständnis für die Würde unserer Nation". Im Saal gibt es Applaus und einige Buh-Rufe. Das Thema regt auf.
Während sich Kohl und Bohley auf dem Podium warmreden, läuft weiter nördlich auf der Bornholmer Brücke, einem der ersten Grenzübergänge, der vor 15 Jahren geöffnet wurde, längst das eher behäbige Alternativprogramm. Die FDP Prenzlauer Berg begeht das Gedenken mit Generalsekretärin Cornelia Pieper. Die CDU Schönhauser Allee hält eine Ökumenische Andacht und bringt eine Gedenkplatte an. Auch die Bezirksverbände der SPD in Pankow und Mitte haben eine Gedenkplatte dabei. Keine Publikumsmagneten.
Kein Wunder also, dass es im Tränenpalast schon 40 Minuten vor Beginn der Veranstaltung keine freien Plätze mehr gibt. Die Ex-Revoluzzerin und der Einheitskanzler auf einem Podium, das versprach Unterhaltung; fast 500 Zuhörer folgten dieser Verheißung. Und Kohl genoss es sichtlich. Gewitzt und schlagfertig parierte er die Fragen des Moderators. Schließlich ist die Einheit sein Lebenswerk, sein Baby, da wird auch Kohl mal milde. Ja, räumt er freimütig ein, er habe den Faktor Zeit bei der Wiedervereinigung unterschätzt. Unerwartet schnell seien die osteuropäischen Märkte für die Ost-Produkte weggebrochen. Auch hätten viele Industrielle im Westen 17 Millionen Ostdeutsche lange Zeit nur als Konsumenten angesehen, sie aber nicht mit Arbeit versorgt. Darüber sei er "bitter enttäuscht" gewesen. Dann ist der Anflug von Selbstkritik schon vorüber. "Ich bin ein auslaufendes Modell, ich darf alles sagen", freut er sich, und getreu dieser Devise schüttet er bald reichlich Hohn über all jene, die ihm die Einheit schlecht reden wollen oder sie nicht ausreichend zu würdigen wissen: Gregor Gysi - für Kohl ein "Entertainer". Schröders Plan von der Abschaffung des Nationalfeiertags - eine "Schnapsidee". "Aber", scherzt er, "das ist eine Beleidigung für den Schnaps." Die Aufbauhelfer, die man nach der Wende in den Osten geschickt habe - zu großen Teilen "Armleuchter", die schon als Kommunalpolitiker im Westen gescheitert seien und dann im Osten viel Unheil angerichtet hätten. So viele Feiglinge habe es damals gegeben, schimpft er und schnurrt Bohley entgegen: "Nicht alle waren so Sie."
Bärbel Bohley, über deren Kopf an diesem Abend längst ein Heiligenschein hätte kreisen müssen, nachdem Hubertus Knabe, der Direktor der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, ihr in seiner Einführungsrede als "Jeanne d'Arc der friedlichen Revolution in Ostdeutschland" gehuldigt hatte, lächelt artig. Wie eine Schulsprecherin sitzt die frühere Bürgerrechtlerin in der Mitte des Podiums und erzählt mit leiser Stimme, dass es sie anwidere, Leute wie Markus Wolf auf der Frankfurter Buchmesse ihr Kochbuch vorstellen zu sehen. Oder zu erleben, wie Gregor Gysi von den westdeutschen Medien hofiert würde, "als wäre er ein Exot". Der Gedanke, mit "solchen Leuten" an einem Tisch sitzen zu müssen, habe sie krank gemacht. Das sei der Grund gewesen, warum sie 1996 für die EU nach Bosnien gegangen sei. Sie habe geglaubt, dort eher "etwas bewirken zu können".
"Wir wollten keine politische Macht"
Bohley ist, anders als Kohl, der Meinung, dass der Umbruch im November 1989 nicht mal durch Schüsse auf Demonstranten zu stoppen gewesen wäre. "Da wäre viel Blut geflossen", erzählt sie leise, aber die Leute hätten gewusst, der Augenblick ist gekommen, "jetzt oder nie". Es ist ihr wichtig zu erwähnen, dass die Bürgerrechtler von damals keine politische Macht gewollt hätten, nur um die Macht über ihr Leben sei es gegangen. Aber: "Warum haben Sie denn nicht gleich nach dem Mauerfall mit uns geredet, sondern nur mit Leuten wie Peter Michael Diestel oder Günther Krause?", fragt sie Kohl, denn irgendwie hätte die Bürgerbewegung ja doch in den Vereinigungsprozess mit einbezogen werden sollen. Kohl wiegelt ab, er habe als Kanzler politische Rücksichten nehmen müssen. Er habe außerdem, betont er, bis Dezember 1989 jeden Kontakt zur Ost-CDU abgelehnt. Und überhaupt, habe er nicht 1995 in Bohleys Wohnung gesessen, um mit ihr über die Gründung des "Bürgerbüros" zu sprechen, einer Anlaufstelle für Opfer des SED-Regimes? Bohley stellt dazu fest: "Wir hätten eher miteinander reden sollen, nicht erst 1995."
Einig sind sich beide in einem Punkt: Die Deutschen wüssten zu wenig über die Bedeutung des 9. November 1989. Am Geschichtsunterricht würde leider zu oft gespart. Umfragen hatten ergeben, dass jeder dritte Deutsche mit dem Datum "9. November" nichts anfangen kann. Hubertus Knabe hatte deshalb zuvor in seiner Eröffnungsrede die Erziehung von Kindern zu "historischen Analphabeten" kritisiert.
Aber trotz vieler Probleme, betont Kohl, sei das Land 15 Jahre nach dem Mauerfall "in seinem Kern gesund", nur mehr arbeiten müssten die Menschen und weniger verzagt sein. Und Bohley fügt hinzu, sie als "Malerin und Augenmensch" sehe schon "blühende Landschaften".
Da war es, das Stichwort. Auf Kohls Versprechen zur Wiedervereinigung angesprochen, erklärt der Ex-Bundeskanzler dem Moderator des RBB-Inforadios gelassen: "Ich habe gewusst, dass Sie jetzt mit diesem Ladenhüter kommen." Dann hält er triumphierend ein Papier in den Händen, auf dem steht, was er damals wirklich gesagt hat. Zum Beispiel, dass alle Bürger zu Opfern bereit sein müssten. "Ich muss Ihnen sagen, der Text ist völlig ok", wischt er das Thema vom Tisch. Und er legt nach: "Wir haben eine tolle Sache gemacht, und keiner hat's uns zugetraut". Damit ist alles gesagt. Kohl ist zufrieden und Bärbel Bohley wohl auch, denn die stellt zum Schluss beinahe demütig fest: "Erich Honecker hätte nicht mit mir gesprochen." So viel Einigkeit war selten zwischen Ost und West.
Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.