Interviews

Thürunger Allgemeine Zeitung - 06. September 2009

"Gespräch mit Hanno Müller

Frau Bohley, viele Menschen sorgen sich um Ihre Gesundheit - wie geht es Ihnen?

Mir geht es gut.

Sie haben Ihr Betätigungsfeld auf dem Balkan verlassen - was wird aus den Hilfsprojekten dort?

Ich war lange genug da und habe meinen Beitrag geleistet. Jetzt bin ich wieder hier.

Dann lassen Sie uns also über das Neue Forum sprechen - erinnern Sie sich an Ihre Gefühle an den Abenden des 9. und 10. September 1989?

Das war ein gutes Gefühl. Zu wissen, man hat etwas auf den Weg gebracht - und jetzt warten wir mal ab. Der Aufruf entstand ohne großartige Diskussionen, alle waren sich einig, dass etwas passieren musste. Wir wollten dabei sein, waren angstfrei und mutig und hatte große Lust, etwas anzuschieben.

Fast gleichzeitig gingen auch von der Bundessynode der Evangelischen Kirche (15.-19. 9.) in Eisenach nachdenkliche Töne aus, was war anders beim Neuen Forum?

Unser Aufruf war ideologiefrei. Es kamen weder Sozialismus noch Kirche oder anderes vor, es ging um den einzelnen Menschen. Jeder konnte sich frei entscheiden. Und viele fühlten sich ja dann auch von dieser Art des Mutmachens und Aufgehoben-seins angesprochen.

Bis zur Zulassung dauerte es gut einen Monat, wann wussten Sie, dass man Sie nicht mehr würde wegdiffamieren können?

Als sich immer mehr Leute anschlossen. Die Welle der Zustimmung war enorm. In den ersten Wochen unterschrieben 250 000 Menschen. Das ließ sich nicht mehr in den Keller drücken.

Erinnern Sie sich noch an den ersten SED-Offiziellen, der dies einsah?

Nein, ich kann mich nicht erinnern, dass sich überhaupt je einer gemeldet hätte.

Mit der Wende werden heute häufig der Mauerfall und die rasanten Entwicklungen danach assoziiert - wie wichtig waren die Wochen davor?

Die Zeit vor dem Mauerfall ist klar die wichtigere. Da kam es darauf an, die Menschen dazu zu bewegen, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Man brauchte Mut, um in einer Diskussion aufzustehen, seinen Namen zu nennen und sich öffentlich zu widersetzen, auf die Straße zu gehen. Wie gesagt, Hunderttausende waren dazu bereit. Leider war diese Phase zu kurz. Ich denke, es wäre besser gewesen, die Leute hätten noch mehr Zeit gehabt, sich selbst zu finden, dann wären sie vielleicht mit anderen Vorstellungen in die Wiedervereinigung gegangen.

Einige Bürgerrechtler reagierten geradezu entsetzt auf die Maueröffnung . . .

Sie ahnten wohl, was kommen würde. Rückgängig machen konnte man es natürlich nicht. Die Freiheit wollten ja alle haben. Trotzdem halte ich es nach wie vor nicht für gut, wie es dann ablief. Wer die Hast vieler Entscheidungen allerdings kritisiert, wer zu bedenken gibt, ob es wirklich das war, was wir wollten, muss sich schon mal fragen lassen, ob er etwa gegen die Freiheit sei. Das ärgert mich.

Was wollten Sie?

Wir selber sein, mitgestalten, aufräumen, die Macht der SED brechen. Das wollten wir.

Konrad Weiß klagte damals, er habe sein hässliches, schönes Land verloren. Hätte es denn Alternativen geben können?

Zu dieser Zeit sicher nicht mehr. Die Leute hatten die Macht, vorher etwas zu verändern, das machten sie nicht - dann war es zu spät.

Das Neue Forum war Katalysator, treibende Kraft, die Bühne schlechthin für den Aufbruch - und verlor doch relativ schnell an Bedeutung in dem Maße, wie es die DDR und damit die alten Gegner nicht mehr gab - wie zwangsläufig war das für Sie?

Zwangsläufig - ich weiß nicht. Ich denke, wir hätten uns stärker um wichtige Entscheidungspositionen bemühen können. Das taten wir nicht, weil die Macht nicht unser Ziel war. Da wird man dann eben an den Rand gedrängt von Parteien, die eine ganz andere finanzielle, materielle, strukturelle und auch personelle Basis hatten. Schade drum, wenn wir heute noch ein starkes Neues Forum hätten, würden sicher nicht so viele die Linkspartei wählen.

Es ging immer auch darum, wer etwa den Einigungsvertrag aushandeln darf - hätten Sie es denn gern gemacht?

Wieso nicht. Wir hätten drauf drängen müssen. Wieso war ein Peter Distel dafür legitimierter als Jens Reich oder Wolfgang Ullmann? Da haben wir eine Chance vertan.

Sie haben den 89er- Herbst mal als die schönste Zeit Ihres Lebens bezeichnet. Galt das auch noch für die Phase, als aus "Wir sind das Volk" "Wir sind ein Volk wurde"?

Im Nachhinein bin ich froh, dass die Einheit so schnell kam. Sonst säßen vielleicht noch schrecklichere Leute an manchen Stellen. Bestimmte Kämpfe blieben uns so erspart, siehe Ostreuropa. Viele Menschen wollten diese Einheit, das darf man nicht vergessen. Ich kann da nichts Ehrenrühriges entdecken, natürlich sind wir ein Volk.

Sie haben in den Jahren danach unendlich viel gegen das Vergessen und das Verharmlosen gestritten - weil es eben einer machen musste? Ich glaube jede Gesellschaft braucht so etwas. Ich bin mir sogar ganz sicher und würde mich freuen, wenn es heute noch ein par Leute mehr gäbe, die ihre Meinung sagen. Ob Bürger oder Politiker, keiner will sich mehr wehtun. Im Grunde gilt wieder unser Satz aus dem Aufruf des Neuen Forum: Die Kommunikation ist gestört.

Ihre Scharmützel mit Gregor Gysi oder Manfred Stolpe wegen deren Stasikontakten konnten ziemlich trotzig sein - warum musste das sein?

Weil es ohne Aufarbeitung keine Zukunft gibt - und man auf diesen Lügen keine neue Gesellschaft aufbauen kann.

Dabei wurde Ihr "Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat" geradezu zum geflügelten Streitwort - gäbe es da etwas zurückzunehmen?

Ich nehme nichts zurück, warum? Obwohl es ein Rechtsstaat ist, erscheint er mir manchmal ziemlich ungerecht.

Trotzdem haben Sie Mitte der 90er Helmut Kohl in Ihrer Wohnung empfangen und damit viele einstige Bürgerbewegte brüskiert.

Ich kann nicht erkennen, was das eine mit dem anderen zu tun haben soll. Und meine Wohnung ist offen, wer mir das übel nimmt, kann mir ehrlich gesagt den Buckel runterrutschen. Ich rede, mit wem ich will, deshalb haben wir damals ein Forum gegründet.

Was bedeutet Ihnen das Wissen, dass es ohne Neues Forum keine gesamt-ostdeutsche Kanzlerin Angela Merkel gäbe?

Ich finde das sehr schön. Sie macht es auch ganz gut was ihr viele nicht zutrauten. Auch ich hatte Zweifel. Sie hätte bei Herrn Kirchhoff mehr Mumm zeigen und zu dem Mann stehen können, um seine Denkanstöße tut es mir leid. Die allgemeine Gleichförmigkeit geht mir auf den Wecker. Trotzdem freue mich über jede Entscheidung, bei der deutlich wird, dass sie eine aus dem Osten ist.

In die Geschichtsbücher kommen Sie so oder so - was also möchten Sie, dass man dort über Sie liest?

Am besten, dass ich ganz oft giftig war (lacht). Aber eigentlich ist es mir egal. Wichtig wäre mir nur die Botschaft, dass sich Widerstand auf jeden Fall lohnt.

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