TAZ - 09.08.1989
Die
Schnell-noch-weg-Stimmung
Bärbel Bohley von der Ostberliner
"Initiative Frieden und Menschenrechte" zur Ausreiseproblematik
taz: Wenn du dich in Ost-Berlin
umhörst, hast Du dann das Gefühl, dass die Fluchten via Ungarn zur Zeit
Thema Nummer eins in der DDR sind?
Bärbel Bohley: Nicht nur via Ungarn.
Die DDR-Leute sitzen ja jetzt in mehreren bundesdeutschen Botschaften
und versuchen, in den Westen zu kommen. Das gesamte Thema, warum so
viele weg wollen, warum gerade jetzt und warum so verstärkt, wird
diskutiert.
taz: Und warum wollen gerade jetzt so
viele DDR-Bürger weg?
Bärbel Bohley: Es gibt so eine Art
Endzeitstimmung. Sehr lange wurde in die Sowjetunion geguckt, und es war
immer die Hoffnung da, dass sich bei uns auch was bewegt. Jetzt sieht es
gar nicht so gut aus, in beiden Ländern nicht: Durch die Streiks in der
Sowjetunion ist deutlich geworden, wie schlecht dort die Situation ist
und wie gefährdet das ganze Experiment. Da haben die Leute bei uns das
Gefühl, es sitzen ganz viele in den Startlöchern und warten, dass das
schief geht, um wieder die harte Linie durchzusetzen. Und dann noch die
Schließung der ständigen Vertretung. Da entsteht bei den Leuten die
Stimmung: schnell noch rechtzeitig weg hier. Natürlich haben die Leute
auch Angst, dass die Grenze nach Ungarn zugemacht wird. Aber es weiß
auch jeder, dass das nicht helfen, sondern die Situation in der DDR noch
zuspitzen wird.
taz: Welche innenpolitischen
Auswirkungen hat die momentane Fluchtbewegung?
Bärbel Bohley: Ich denke, dass sie
dazu beiträgt, dass die Machtverhältnisse bestehen bleiben, dass es
innenpolitisch keine große Bewegung gibt und die Fluchten als Ventil
benutzt und zugelassen werden.
taz: ... auch weiterhin?
Bärbel Bohley: Na irgendwie muss
langsam mal was passieren. Das ist ja eine absurde Situation. Das wird
sich nicht nur von der DDR aus ändern, sondern auch von der
Bundesrepublik her. Wir wissen ja inzwischen, dass die Leute aus der DDR
bei euch gar nicht so gerne gesehen werden. Die ganze
Ausländerfeindlichkeit ist ja hier auch bekannt geworden, und dass die
DDR-Bürger nicht mehr so aufgenommen werden wie vor 20 Jahren- und schon
gar nicht in dieser Zahl. Eines ist klar: Es müsste mal Farbe bekannt
werden, von allen Seiten. Das würde bedeuten, dass bei euch deutlich
gesagt wird: "Bleibt mal schön drüben."
taz: Du forderst also von der
Bundesrepublik, mit der Verlogenheit gegenüber den ausreisewilligen
DDR-Bürgern aufzuhören?
Bärbel Bohley: Es muss sich auf zwei
Seiten was ändern. Bei euch diese Verlogenheit - ob durch Änderung des
Grundgesetzes, Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft, das weiß ich
nicht. Und bei uns: dass die Gesellschaft sich reformiert, dass das
System sich verändert, dass die Leute reisen können. Und nicht nur
reisen können, wenn jemand eine Tante hat, sondern, dass jeder fahren
kann, und wenn's einmal im Jahr ist. Und dann auch genügend Geld dafür
umtauschen kann und nicht mehr davon abhängt, dass jemand nett zu ihm
ist, im Westen.
taz: Stimmt die Information, dass
eine Erweiterung der Reiseregelung geplant ist?
Bärbel Bohley: Es wird davon
gesprochen, dass der Kreis, der reisen darf, erweitert werden soll - auf
diejenigen, die Freunde haben. Aber auch das ist wieder ungerecht, weil
natürlich nicht alle Leute Freunde im Westen haben.
taz: Wird über die Fluchtwelle zur
Zeit in den Oppositionsgruppen diskutiert?
Bärbel Bohley: Ich bedauere, dass da
eine starke Antihaltung gegen die Ausreiser da ist und das Problem
dadurch ein bisschen weg geschoben wird. Es wird nicht zum eigenen
Problem gemacht. In Wirklichkeit ist es aber so, dass von den 16,5
Millionen DDR-Bürger jeder zweite einen Ausreiseantrag hat oder
überlegt, ob er einen stellen wird. Und deshalb ist das wirklich unser
Problem.
Interview: Clara Roth
aus: taz Nr. 2879 vom 09.08.1989