Interviews

Spiegel Online- 07. September 2009

"Wir sind Gejagte gewesen"

Bärbel Bohley ist überzeugt: Die Zeit der Runden Tische 1989/90 war zu kurz. Zum 20. Jahrestag der Gründung des Neuen Forums spricht die DDR-Bürgerrechtlerin im SPIEGEL-ONLINE-Interview über widerständiges Leben im SED-Staat, die Lüge von der herbeigesehnten Einheit und Angela Merkels Wahlkampf.

SPIEGEL ONLINE: Frau Bohley, wenn Sie heute auf die Gründung des Neuen Forums im September 1989 zurückblicken: War es Mut oder Verzweiflung, was Sie antrieb?

Bohley: Es gibt einen schönen Spruch, der mein Motto war: Herr, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, aber den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann. Im Herbst 1989 war klar, dass es einiges zu ändern gibt, und das man das schaffen kann. Man muss es organisieren, muss schieben und ziehen - aber viele Leute sind dazu bereit. Das hat uns unwahrscheinlich stark gemacht, davon war ich einfach überzeugt. Und: Wir haben das erreicht.

SPIEGEL ONLINE: Nur, dass innerhalb von acht Wochen die Mauer fallen würde, das war damals nicht absehbar. Was waren denn Anfang September Ihre vordringlichen Ziele?

Bohley: Das vordringlichste war, diese geschlossene Gesellschaft aufzubrechen. Denn solche Gesellschaften haben immer etwas Enges und Kleinkariertes, die DDR war das 40 Jahre lang. Wenn man da etwas bewegen wollte, musste man es aufknacken.

SPIEGEL ONLINE: Waren Sie überrascht, dass der Gründungsaufruf des Neuen Forum binnen weniger Tage zigtausendfach unterzeichnet wurde?

Bohley: Mir war das nicht klar. Aber ich spürte schon so etwas wie das starke Gefühl: Das ist jetzt der letzte Moment. Wenn wir jetzt nichts bewegen, dann bleibt das noch eine ganze Weile so. Mir war auch klar, dass der Aufruf den Nerv der Menschen getroffen hatte. Er hat ihnen nicht zu viel abverlangt, sondern nur das ausgesprochen, was alle gefühlt haben. Das spürten die Leute und konnten sich deshalb auch damit identifizieren. Und möglichst viele zu gewinnen, ihr Gesicht zu zeigen und nicht mal den Namen zu nennen – darauf kam es damals an.

SPIEGEL ONLINE: Sie waren in der besonderen Situation, die DDR 1988 zeitweise verlassen zu müssen. Hat dieser Aufenthalt im Westen Ihren Blick auf die DDR verändert?

Bohley: Ich glaube, dass es mir einiges leichter gemacht hat, weil ich zu bestimmten Dingen im Westen ein anderes Verhältnis gewonnen habe. Zuvor waren wir immer der Meinung, dass man sich nicht Opposition nennen darf, weil das eine Provokation des Staates sein könnte. Im Westen war mir aber klar geworden, dass zu einer funktionierenden Gesellschaft auch eine Opposition gehört. Und je stärker die Opposition, desto besser ist das für die Gesellschaft und die Regierenden. Wichtig war auch für mich zu erkennen, dass es eine Opposition außerhalb der Kirche braucht, weil dieses Dach die Leute letztlich nur erdrückt hat.

SPIEGEL ONLINE: Diese Gesellschaft war lange Zeit von einer langen Sprachlosigkeit geprägt. Wann waren Sie sicher, dass es einen Neuanfang braucht?

Bohley: Für mich war die Gesellschaft nie sprachlos und stumm. Sie war es nur im öffentlichen Raum. Aber an jedem Küchentisch wurden Probleme diskutiert, viel mehr als heute. Die Leute waren politisch ziemlich bewusst und kannten die Situation im Lande.

SPIEGEL ONLINE: Die Vertreter der SED – haben Sie die als Ansprechpartner akzeptiert?

Bohley: Man muss das in seiner Zeit sehen. Niemand hat ja bis zum 9. November geglaubt, dass es die DDR in einem Jahr nicht mehr gibt. Es ist deshalb geschwindelt, wenn Leute heute sagen, dass die Einheit ihr Ziel war. Wir wollten die Strukturen aufbrechen, Menschenrechte garantiert bekommen und die Chance haben, sich einmischen zu können, ohne dafür kriminalisiert zu werden.

SPIEGEL ONLINE: Obwohl dann Hunderttausende freie und geheime Wahlen forderten, hat das Neue Forum, hat die Bürgerbewegung schlecht abgeschnitten.

Bohley: Dafür gibt es verschiedene Gründe. Der eine ist, dass gewählt wurde, als ob wir schon im Westen seien. Vielleicht hätten alle SPD gewählt, wenn Willy Brandt noch regiert hätte. Es hat sich eben alles so entwickelt, ich finde das in Ordnung. Was soll man dazu sagen? Es sind Ergebnisse dabei herausgekommen, die ich nicht gut finde. Aber letztlich kann ich es nur akzeptieren.

SPIEGEL ONLINE: Das klingt, als hätten Sie resigniert.

Bohley: Nein, das sehen Sie nur so. Was sollte ich denn tun? Es ist einfach so, dass Herr Kohl lieber mit Herrn Diestel und Herrn Krause und Herrn Schalck-Golodkowski verhandelt hat als mit uns. Das ist das Dilemma.

SPIEGEL ONLINE: Welche Entwicklungen hätten Sie sich anders gewünscht?

Bohley: Ich bin nach wie vor der Meinung, dass die Wiedervereinigung viel zu schnell kam und wir unsere eigenen Dinge gar nicht richtig aufgearbeitet hatten. So sind wir als Bürgerbewegung ziemlich forderungslos in die Wiedervereinigung gegangen. Das haben die Parteien - ob Block- oder Westparteien - viel besser gemacht. Die Zeit an den Runden Tischen war einfach zu kurz. Wir sind Gejagte gewesen, was im Übrigen alle Leute im Osten betrifft. Wenn die Wiedervereinigung in eine solche Krise wie heute gefallen wäre, hätten wir vielleicht mehr Zeit gehabt, Dinge ruhig auszuhandeln.

SPIEGEL ONLINE: Die Ironie der Geschichte will es, dass der damalige Anwalt des Neuen Forums, Gregor Gysi, heute im Bundestag sitzt.

Bohley: Zu Gysi sage ich nichts mehr, weil ich das nicht ertrage. Das sollen jetzt andere machen.

SPIEGEL ONLINE: Wenn Sie nach 20 Jahren auf die DDR zurückschauen: Ist dann die gesellschaftliche Aufarbeitung gut gelaufen?

Bohley: Meines Erachtens ist sie noch gar nicht abgeschlossen. Man denkt, 20 Jahre sind viel Zeit. Aber wir haben ja auch 40 Jahre DDR-System hinter uns. Die Sowjetunion gab es noch länger. Diese Prägungen sind viel intensiver, als man glaubt. Eine solche, für mich immer sehr wichtige Prägung ist das Verhältnis zur Gleichheit. Ich finde das nicht das Schlimmste, gleich zu sein. Wenn ich also von sozialer Gerechtigkeit spreche, muss ich das auch im Kopf haben, dass es eine solche Gleichheit gibt.

SPIEGEL ONLINE: Warum sind Sie dann nicht in die Politik, sondern 1996 nach Kroatien gegangen - auf ein ganz anderes Feld, das der Flüchtlingshilfe.

Bohley: Das war für mich auch Politik.

SPIEGEL ONLINE: Aber nicht deutsche Innenpolitik ...

Bohley: Ich wollte nicht von der deutschen Innenpolitik zerrieben werden. 1996 waren die Weichen gestellt. Ich hätte allenfalls wie heute an irgendwelchen runden Feiertagen Plauderstündchen halten können. Dazu oder alternativ in eine Partei zu gehen, hatte ich einfach keine Lust. Ich bin im Osten in keine Partei gegangen und will das auch jetzt nicht. Ich habe meine persönliche Freiheit immer mehr geschätzt als Parteidisziplin – auch im Westen. Und so schlecht wie die Parteiendemokratie im Augenblick funktioniert, muss man sich Gedanken machen, wie man die Leute ermutigt. Viele junge Leute wollen das ja, haben nur keine Lust, in diese abgefackelten Parteien zu gehen.

SPIEGEL ONLINE: Was halten Sie vom Wahlkampf dieser Tage?

Bohley: Natürlich ist das im Moment kein echter Wahlkampf. Dennoch, Hut ab vor Angela Merkel! Es gibt im Moment nichts zu kämpfen. Und ich finde es deshalb gut, dass sie das nicht vormacht. Eigentlich müssten ja Konzepte in den Schubladen liegen, die aber nicht da sind. Deshalb finde ich es besser, die Klappe zu halten.

SPIEGEL ONLINE: Nach zwölf Jahren auf dem Balkan leben Sie nun wieder in Berlin: Sind Sie wieder angekommen?

Bohley: Es hat sich schon sehr verändert. Zwar lebe ich in meiner alten Wohnung am Prenzlauer Berg, zumindest in den Rudimenten. Im Kiez kenne ich aber niemanden mehr, die Leute dort stammen jetzt überwiegend aus Baden-Württemberg. Ich werde umziehen. 40 Jahre DDR waren ja schon viel. Aber 40 Jahre in einer Wohnung – das ist dann doch zu viel.

Quelle: SPON, 07.09.2009