Rezension von Kitty Kalina

„Seit Jahren wieder mal sinnvoll tätig ...“

Bärbel Bohley: „Die Dächer sind das Wichtigste“
Mein Bosnientagebuch.
Ullstein Verlag, Berlin 1997, 124 S.

Mein Kanzler und ich sind schon wieder nicht einer Meinung. Das stimmt (mich) froh. Den Kanzler wird es (wie immer) nicht stören.

Es geht um ein Tagebuch, „Mein Bosnien-Tagebuch“ von Bärbel Bohley. Die Dächer sind das Wichtigste ist der unzweifelhaft zutreffende Titel, wenn man die Region betrachtet, über die B. B. berichtet.

Nun könnte man unbefangen mit dem Lesen beginnen - und sich dann eine Meinung bilden. Geht aber nicht so richtig, denn vor dem Tagebuch steht das Geleitwort des Bundeskanzlers. Zwei und eine halbe Seite, daran kommt man nicht vorbei. Gut, überblättern wäre eine Möglichkeit - aber da ist die kleine Neugier: Wat seggt er? Zum Beispiel sowas: „Sarajewo ist eine Stadt mitten in Europa, weniger als 1000 Kilometer von Berlin entfernt.“ Ja, das stimmt wohl. Und „Bärbel Bohley gehört zu den mutigen Frauen und Männern, die in der ehemaligen DDR von der SED-Diktatur bespitzelt, verfolgt, drangsaliert und eingesperrt worden sind. Sie war dennoch nicht zum Schweigen zu bringen.“ Ja, das stimmt auch und verdient Respekt. Ebenso die Entscheidung, für einige Monate als Aufbauhelferin nach Bosnien zu gehen. Soweit d'accord. Wenn nun aber derart euphorische Ausbrüche stattfinden wie, das Tagebuch „vermittelt Bilder von einer Eindringlichkeit, wie sie keiner Kamera gelingen können“ - dann muß ich meinem Kanzler die Gefolgschaft verweigern.

Seine Gutworte sind nett gemeint und sollen der neugewonnenen Bündnispartnerin womöglich ein wenig Geleitschutz geben beim Wechsel ins schreibende Metier. Das ist in Ordnung. Die Frage, wie es denn so plötzlich kam, daß Bärbel Bohley „nun auch im zerstörten Sarajewo als Anwältin der geschundenen Menschen Zeichen der Hoffnung und Ermutigung setzt“, will ich gar nicht erst stellen. Ich fürchte die Antworten.

Gibt hier eine aufrichtige Frau ihren Namen und Ruf an der Tür zur politischen Imagepflege ab? Die Bürgerrechtlerin - für die es hierzulande einiges zu empören und helfend zu ändern gäbe -, wird sie benutzt? Bosnien - so wichtig und bewegend es ist - ein Ausweichen vor innenpolitischer Trostlosigkeit? Vor engagierter Stellungnahme, die, an bürgerrechtlichen Maßstäben gemessen, zumindest harsch ausfallen müßte? Und keine Streicheleinheiten brächte.

Sei's drum. Es ist, wie es ist. Vor mir liegt das Bosnien-Tagebuch.

Im besten Fall ist ein Tagebuch Festhalten und Verarbeitung persönlichster Erlebnisse und Erfahrungen auf einer Reflexionsebene, die dem Fremdleser über die subjektive Sicht den Zutritt in andere intellektuelle und mentale Privaträume erlaubt - und dadurch den Blick auf das Außer-Private weitet. Dieses Doppelspiel macht Reiz und Wert eines Tagebuches aus. Aber: Ein Text wird nicht dadurch zum Tagebuch, nur weil ein Datum drüber steht.

Eine andere Variante: Das Tagebuch als Kunstform, bewußt gewählt, um in der Synthese von Persönlichem und Allgemeinem der Autorenabsicht zu größtmöglicher Wirkung zu verhelfen - ein literarischer Kunstgriff, vom Leser dann angenommen, wenn die Dimension „Tagebuch“ ausgefüllt ist.

In beiden Fällen entstehen Werke von hoher Intensität in der individuellen Mitteilung und in der Beschreibung der Zeitsituation (Viktor Klemperer, Max Frisch, Franz Kafka).

Aber: Nicht immer ist ein Tagebuch, wo Tagebuch draufsteht.

Schließlich gibt es noch die Texte, deren Skala von „Mein liebes T...“ über die sorgfältige abendliche Eintragung (sozusagen Hausaufgaben - man macht sie eben) bis hin zur nachträglich gezimmerten Datumsstruktur als Beleg für ursprüngliches, lebendiges, wahres Erleben reicht. Sie bewegen sich im meist belanglosen Grenz-Bereich zwischen Journalismus und literarischen Ambitionen. Abgehalfterte Hilfskonstruktionen, die nur schlecht fehlende Substanz und gestalterische Schwäche kaschieren. Es sind Täuscher. Wenn die sogenannte „gute Absicht“ auf diese Weise in die Buchwelt gerät, kehrt sich die Machart oft gegen die Absicht.

Vor mir liegt das Bosnien-Tagebuch.

Die erste Eintragung ist vom Samstag, 1. Juni 1996, die letzte wird am Sonntag, 15. September 1997, vorgenommen. Dazwischen liegen gut drei Monate Aufenthalt in Bosnien, um für Cap Anamur ein Büro zur Koordinierung der deutschen Hilfsangebote und der bosnischen Hilfeersuchen aufzubauen. Tag um Tag, fast ohne eine Unterbrechung, hält die Schreiberin fest, was sie sieht, was passiert, wen sie trifft und was sie tut. Ganz viele kleine Informationen - sie könnten ein Bild geben von der Situation in Bosnien, vom Leben der Menschen. Ihre Geschichte erzählen. Warum nur ist mir kaum eine beschriebene Begegnung im Gedächtnis geblieben (so schlecht ist es nun wirklich nicht)? Ich muß nachblättern, suche nach Anstrichen, die ein Bild, einen Gedanken markieren. Natürlich gibt es das - ist alles über die Netzhaut gegangen, aber nicht unter die Haut. Eine Frage der Autorin hat sich doch festgehakt. Erschreckt von der Zerstörung der Orte, von der Verlassenheit der Landschaft, fragt Bärbel Bohley: „Kann man bei soviel Gewalt und Terror Pazifist bleiben? Wie verteidigt man den Pazifismus?“ Eine im Bundestag heiß diskutierte Frage, wie man weiß. Das Nachdenken darüber, vielleicht noch mit Blick auf eigene politisch-moralische Wurzeln als ehemalige dissidente DDR- und als deutsche Staatsbürgerin, im Kontext der nicht nur in Ex-Jugoslawien vorhandenen sozialen und ethnischen Konflikte - diese Vertiefung findet nicht statt. Angesichts von inmitten der Kriegslandschaft spielenden Kindern konstatiert sie am 4. Juni: „Es scheint eine Atempause zu sein, um sich ein bißchen zu erholen. So sind vielleicht die Kriege der Zukunft. Man kämpft, die Zivilisation hält eine Weile stand, bröckelt, geht kaputt, man macht eine Pause, um ein wenig aufzubauen, dann geht der Krieg weiter.“ So unreflektiert habe ich selten von „Kriegen der Zukunft“ gelesen. Nimmt man diese Vorstellung ernst, dann wird das Bosnien-Engagement der Autorin zur zeitvertreibenden Bastelstunde. Möglicherweise drückt sich darin die Erschütterung der Autorin über das kaputte Sarajevo (einst südosteuropäische Kulturmetropole) aus, über das sie notiert: „Die Stadt sieht aus wie eine bulgarische Stadt. Man weiß nicht genau, ob es der Krieg war oder das System, daß alles so entsetzlich heruntergekommen ist. Alles hat osteuropäischen Standard. Darum fühle ich mich gleich zu Hause. Ich spüre in allem den Kampf des Systems gegen das Leben. Der reale Krieg ist nur der Höhepunkt.“ Es sind in erster Linie die Folgen des Krieges, die zu beseitigen es Bärbel Bohley nach Bosnien verschlagen hat. Dachte ich.

Zum Beispiel das Minenräumprojekt von Cap Anamur. Nach Angola und Moçambique gehört Bosnien zu den am meisten von Minen verseuchten Regionen der Erde. „Gestern sind wieder 2 Kinder auf eine Mine getreten. Eine alte Frau, deren Garten bereits geräumt war, hat es ebenfalls erwischt. Sie hat beide Beine und einen Arm verloren. Die Minen sind durch nichts zu rechtfertigen, sie wurden nicht nach militärischen Gesichtspunkten, sondern nach kriminellen verlegt“, schreibt Bärbel Bohley am 10. Juni 1996. Es wirkt seltsam unbeteiligt - die Unterscheidung in kriminelle und militärische Minen mag Generalstäbler Art sein, bei einer Pazifistin erschreckt es nur noch.

„Sat 1 hat heute auf unserer Baustelle gefilmt. Es sollen mit dem Beitrag noch einmal Leute für das Bauprojekt gewonnen werden. Es ist schon erstaunlich, wie wenige bereit sind, hier zu arbeiten. Dabei können gerade junge Leute hier eine sinnvolle Aufgabe finden, vor allem, wenn sie arbeitslos sind“, ist unter Dienstag, 2. Juli, zu lesen. Welche jungen Arbeitslosen sind gemeint? Deutsche oder Bosnier? Tatsache ist, daß die Aufbauarbeiten nur schleppend vorangehen, daß zwischen den etwa 20 humanitären Hilfsorganisationen um offizielle Gelder konkurriert wird (manches Projekt ist eine Luftnummer), daß durch bestimmte Hilfskriterien einzelne Gruppen bevorzugt und so auch die ethnische Teilung des Landes zementiert wird. Da spielen dann in der bosnischen Hälfte eines Stadtteils muslimische Jungen und jenseits der Straße, die eine Grenze ist, serbische Kinder Fußball. Wann und ob sie jemals gemeinsam spielen werden, ist ungewiß - Spiegelbild der Grundsituation.“ Die bosnische Regierung unternimmt nichts dagegen, daß die Serben vertrieben werden. Aber auch die Moslems werden rausgeschmissen, wenn sie nicht mit der Ideologie einverstanden sind. Viele Leute werden aus der Wohnung vertrieben und auf die Straße geworfen ... Von den vielen Flüchtlingen wollen viele zurückkommen, aber sie wollen in ihr eigenes Haus zurück.“ Das vielleicht nur noch eine Ruine ist. Wie in Otes, einem kleinen Ort, Kampfgebiet, nun eine Gespensterstadt, in der sich Menschen eingerichtet haben. Am 7. Juni schreibt Bärbel Bohley: „Das ist das zerstörteste Gebiet, das ich bisher gesehen habe. ... In der Ferne sehe ich das erste rote Ziegeldach in der Sonne blinken. Wie schön ist so ein neues Dach! Hier hat Cap Anamur mit einem Wiederaufbauprojekt begonnen, das sehr beeindruckend ist.“ Acht neue Dächer gibt es bereits, weitere sollen folgen. Entschieden wird nach Bedürftigkeit. Am Samstag, 10. August, findet in Otes das erste Fest nach dem Krieg statt.

Am 28. August - inzwischen hat Bärbel Bohley Gespräche mit FDP-Leuten, regt die Gründung eines deutsch-bosnischen Kulturzentrums an (ein „Deutsches Haus“. „Auch nicht schlecht. Hauptsache, die Deutschen sind hier auch politisch vertreten“),veranlaßt sie die Reparatur des Daches einer Behindertenschule, diskutiert mit Parteienvertretern die Rückführung bosnischer Flüchtlinge, macht einen Abschiedsbesuch bei Bundeswehrsoldaten, bekommt für ihre Hilfe von der Behindertenschule eine Urkunde verliehen, spricht mit Botschafter Michael Steiner über die Stärkung ziviler Strukturen und die Notwendigkeit dezenter militärischer Präsenz - an diesem 28. August also notiert Bärbel Bohley, daß sie „seit Jahren wieder einmal das Gefühl (hatte), eine sinnvolle Arbeit gemacht“ zu haben „und daß sie nicht ergebnislos war“. Das ist glaubhaft.

Am 15. September kehrt sie heim ins Land und macht die letzte Tagebucheintragung. „Ich bin wieder zu Hause, aber Bosnien begleitet mich. Inzwischen habe ich einige Interviews über meine Eindrücke gegeben und einige Vorträge gehalten.“ Sie kümmert sich um die Heimkehr bosnischer Kinder und Lehrer nach Sarajevo, wobei ihr klar ist, „daß nicht alle Flüchtlinge einfach zurückgeschickt werden können“. Und so, wie sich diese Lehrer entscheiden müssen (Asyl oder Rückkehr), steht Bärbel vor der Frage „wie ich weiterleben will. Zu Gysi, Stolpe und Konsorten ist alles gesagt worden. Die deutsche Gesellschaft hat sich dafür entschieden, mit ihnen weiterzuleben, als wäre nichts geschehen. Dasselbe wünscht sie sich von den Bosniern. Auch sie sollen mit ihren Mördern friedlich zusammenleben. Beides wird nicht gehen. Die Verräter und Mörder haben tiefe Wunden hinterlassen. Sie haben ihre jeweilige Gesellschaft tief aufgewühlt und verändert. Die eine hat es noch nicht bemerkt, die andere ist bereits auseinandergebrochen ...“ Das ist er nun endlich, der vom Kanzler gewürdigte Bezug zur deutschen Zeitgeschichte. Doch richtig zu Herzen gehen folgende Zeilen: „Aber manche Menschen sind wirklich nur böse. Was macht man mit ihnen? Ich weiß es auch nicht.“