Volksstimme, Magdeburg, 26.02.2005

 

Von Michael Beleites

Mit Schweyk’schem Humor führt uns Peter Bohley durch die ernsten und bisweilen bitterernsten Gefilde des real existierenden Sozialismus, aber auch in die letzten Freiräume der DDR. Zentrum des Geschehens ist die Stadt Halle an der Saale. Und die handelnden Personen scharen sich um sieben Brüder. Der älteste ist der Autor des Buches „Sieben Brüder auf einer fliegenden Schildkröte“.

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Peter Bohley war neun Jahre alt, als sein Vater im Frühjahr 1945 an einem der letzten Kriegstage ums Leben kam. So war es folgerichtig, dass aus den sieben Brüdern sieben Wehrdienstverweigerer wurden – die sich im Friedensstaat der SED als sieben Staatsfeinde wieder fanden. Daraus wiederum machte die Stasi sieben „Vorgangspersonen“, die mitsamt ihren Frauen und Kindern systematisch verfolgt wurden. Der Star-IM „Sekretär“ warnte ganz oben vor dem „Bohley-Clan“. Selbst über der Wohnung der 80-jährigen Mutter hat der Hausbesitzer als IM eine konspirative Wohnung für die Stasi-Abhörtechniker eingebaut und sich dann als CDU-Mitglied in der SED-Zeitung gebrüstet: „Aus christlicher Verantwortung für den Nächsten heraus will ich auch nicht abseits stehen, wenn es darum geht, alten allein stehenden Bürgern Hilfe und Unterstützung zu gewähren.“ Er sei dabei, „im Dachgeschoss der Lafontainestraße 5 eine Wohnung auszubauen“ und sehe darin seinen „konkreten Beitrag zur würdigen Vorbereitung des XI. Parteitages der SED“.

Die spannenden und einfühlsamen Erinnerungen des Autors reichen von den Kindheitsnächten im Luftschutzkeller am halleschen Advokatenweg über denkwürdige Begegnungen mit redseligen Grenzsoldaten am Strand von Hiddensee bis hin zu einem Hauch von Perestrojka über einem wodka getränkten Teppich im sibirischen Akademgorodok. Auch wenn die Geschichten eingerahmt sind durch den Traum von einer fliegenden Schildkröte, die mit den sieben Brüdern auf dem Rücken über den Eisernen Vorhang hinweg fliegt, handelt es sich um erlebte Geschichte, wie sie konkreter kaum sein kann.

Beim Juni-Aufstand 1953 gerät Peter Bohley ins Schussfeld. Unmittelbar vor ihm bricht ein Demonstrant unter den Kugeln der Staatsmacht zusammen. Mit dem Autor erleben wir die Verhaftungen seiner Brüder Karl (1977), Dietrich (1980) und seiner Schwägerin Bärbel (1983 und 1988). Ihre „Souveränität“ hat die DDR auch dort bewiesen, wo die 77-jährige Tante Liesel bei der Grenzkontrolle auf einen alten gynäkologischen Untersuchungsstuhl gezwungen wurde. „So schrecklich und so gemein, und ich habe nur gedacht, dass ich das eben für unser Peterle aushalten muss“, habe sie ihm danach erzählt. Nachdem Karl Bohley im Westen ist, trifft sich die von Ärzten, Künstlern und Dissidenten geprägten Großfamilie jedes Jahr auf dem Zeltplatz von Roviste an der Moldau – jedenfalls bis 1985, als der Mutter am Tag vor ihrem 80. Geburtstag am Grenzübergang mitgeteilt wird, dass sie die DDR nicht verlassen darf.

Zum Dreh- und Angelpunkt werden die von Peter Bohley und seiner Frau Dori initiierten Freitagslesungen, die seit 1973 stattfinden. Nichts vordergründig „Staatsfeindliches“ wird hier gelesen, aber Weltliteratur, die in den Lehrplänen der DDR nicht vorkam: Werke von Thomas Mann, Hesse, Stifter, Hölderlin, Kafka und Max Frisch ebenso wie von Heinrich Böll, Walter Jens und Siegfried Lenz.

Die Arztfamilie Christian und Christine Nattermann lud Sarah Kirsch und Reiner Kunze zu Leseabenden ein; der spätere Ministerpräsident Christoph Bergner wurde nie „Reisekader“, weil er sich weigerte, den Kreis zu bespitzeln; der Theologe Wolfram Tschiche referierte über griechische Philosophie und der Maler Ludwig Ehrler setzte den Lesekreis fort. Ein Stasi-Major musste feststellen, dass „drei IM die Zusammenarbeit abgelehnt oder abgebrochen haben“ und klagte, dass „wir lediglich einen IM haben, der Personen zählt, die das Objekt von B. betreten oder verlassen“.

Die Stasi sammelte die Autonummern derer, die vor dem Haus parkten, wenn donnerstags bei Bohleys griechische Mythologie für Kinder vorgelesen wurde – und auf einem großen Tuch an der Wand ein Stammbaum der Götter entstand.

Peter Bohley, der im Zentrum des Kreises stand, wurde verdächtigt, Organisator einer „staatsfeindlichen Gruppierung“ zu sein, zu der auch „ständige Nichtwähler“ gehörten. Die Stasi machte 1979 aus der gegen ihn laufenden „Operativen Personenkontrolle“ einen „Operativen Vorgang“. Jetzt kam Mielkes OV-Richtlinie zum Einsat z – „Zersetzungsmaßnahmen“ wie „systematische Diskreditierung des öffentlichen Rufes“ und „systematische Organisierung beruflicher Misserfolge“.

Das Kesseltreiben gegen Peter Bohley entwickelte sich zur planmäßigen Ausgrenzung und zum permanenten Psychoterror. Der Naturwissenschaftler Bohley, ein international geachteter Biochemiker, wurde isoliert und diffamiert. Im April 1983 beschloss die Universitätsparteileitung ein Lehrverbot, weil Bohley darauf hingewiesen hatte, dass die DDR immense Summen für die Rüstung ausgab und die Studierenden darum gebeten hatte, sich doch für mehr Mittel für das Gesundheitswesen einzusetzen. Im Institut wagte nur noch der Hausmeister, mit ihm am gleichen Tisch zu speisen. Ermutigendes erfuhr er erst zehn Jahre später im Lesesaal der Gauck-Behörde: Zwei ihm bis heute unbekannte „Genossinnen Studenten“ widersprachen in einer mutigen Erklärung dem Lehrverbot, und sogar Flugblätter, die zur Solidarität mit Peter Bohley aufriefen, fanden sich in den Akten.

Da er nicht Friedhofsgärtner werden wollte, stellte er mit seiner Familie im September 1983 einen Ausreiseantrag. Nachdem sich das MfS zu einer raschen „Sonderauflassung“ entschlossen hatte, durfte er sich am Schalter „Todesfälle“ noch einen Teil der Lebensversicherung auszahlen lassen. Selbst die tränenreiche Verabschiedung am Bahnhof, zu der viele Freunde und Verwandte gekommen waren, hat die Stasi noch fotografiert.

Seit 1984 lebt Peter Bohley mit seiner Familie in Tübingen, seit 1986 ist er Professor für Biochemie an der dortigen Universität.

Wer Peter Bohleys Erinnerungen gelesen hat, versteht, warum aufrechte und eigenständig denkende Menschen in der DDR unter dem wachsenden Repressionsdruck der Stasi eine innere Freiheit fanden, die sie von der Mehrheit ihrer Mitmenschen unterschied.

(Der Autor ist Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen in Sachsen.)

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