Bärbel Bohley, geboren am 24. Mai 1945, wuchs in Ost-Berlin auf. Nach ihrem
Abitur 1963 war sie zunächst als Bürohilfskraft, später als Industriekaufmann
beim VEB Starkstromanlagenbau Berlin tätig. Ab 1969 studierte sie an der
Kunsthochschule Berlin-Weißensee Malerei. 1970 wird ihr Sohn Anselm geboren.
Seit 1974 ist sie freischaffende Künstlerin in der DDR. Ihre Bilder werden
damals u.a. auch in der Bundesrepublik und in verschiedenen Städten der DDR
ausgestellt. 1982 ist sie Gründungsinitiatorin der „Frauen für den Frieden“,
einer der ersten außerkirchlichen Oppositionsgruppen in der DDR. Mit friedlichen
Aktionen, Protestpublikationen, Interviews mit West-Medien streitet sie seitdem
für Meinungsfreiheit und Abrüstung in der DDR und gegen die SED-Diktatur.
Beruflich und privat vielen Schikanen ausgesetzt, sitzt sie 1982/83 deshalb auch
erstmals in Haft. Im Januar 1988 wird sie im Rahmen einer großangelegten Aktion
der DDR-Staatssicherheit gegen Oppositionelle erneut verhaftet und wenig später
in den Westen abgeschoben. Doch im August desselben Jahres kehrt sie zurück. Als
Initiatorin des „Neuen Forums“, das im Wendeherbst 1989 zur Massenbewegung
wächst, wird sie in den Wochen der friedlichen Revolution in der DDR zur
Symbolfigur der DDR-Opposition.
Für ihre Verdienste seitdem u.a mit dem Bundesverdienstkreuz (1994) und dem
Nationalpreis (2000) ausgezeichnet, engagiert sie sich seit 1996 unter anderem
auf dem Balkan. Von 1996 bis 1999 leitete sie dort für die Internationale
Friedensbehörde für Bosnien-Herzegowina OHR in Sarajevo ein Wiederaufbauprogramm
für im Bosnienkrieg zerstörte Häuser und organisierte die Rückkehr von
Kriegsflüchtlingen in ihre Heimat. Sie lebt heute an in der Nähe von Split.
Bärbel Bohley, geboren 1945 in Berlin
Wir wollten schlau sein wie die Schlangen
Der Zweite Weltkrieg war gerade zwei Wochen beendet, als ich im Mai 1945 in den
Ruinen Berlins geboren wurde. Wir Kinder, mein Bruder Ulrich wurde drei Jahre
später geboren, wuchsen in dem riesigen Trümmerfeld auf. Am berühmten
Spreebogen, fast neben dem heutigen Bundestag und dem Bundeskanzleramt waren
meine Spielplätze. Meine Eltern waren bescheidene Leute, die sich große Mühe
gaben, die Familie „durchzubringen“. Meine Mutter, eine Protestantin aus
Thüringen, war von den Großeltern erzogen worden. Mein Vater wuchs in einem
katholischen Kinderheim bei Oldenburg auf und kam 1926 nach Berlin. Da er durch
die Missbildung einer Hand kriegsuntauglich war, arbeitete er bis Kriegsende bei
der AEG als Konstrukteur. In unserer Familie hatte es nur einen Künstler
gegeben. Mein Großvater väterlicherseits, ein Wiener, malte. Er ist im Ersten
Weltkrieg vor Belgrad gefallen. Obwohl ich evangelisch getauft worden war,
später die Christenlehre besuchte und auch kirchlich geheiratet habe, hatten
mich meine Eltern nicht besonders religiös erzogen. Ihre unterschiedliche
Religionszugehörigkeit ist vielleicht ein Grund für meine Distanz zur
Institution Kirche. Meine Eltern waren aber ganz und gar auf die Familie
konzentriert und alle Entscheidungen wurden nach ihrem Wert für diese abgewogen.
Das Leben in der zerstörten Stadt und die vielen Geschichten, die erzählt
wurden, wenn die Familie zusammenkam, begleiteten und prägten mich. Diese
Geschichten sind Teil meines Lebens geworden. Ich konnte sie bis heute nicht
vergessen. Neulich hatte ich in der Landesvertretung Sachsen-Anhalts in Berlin.
zu tun. Im Nachbarhaus haben meine Eltern das Kriegsende überlebt. In diesem
Haus hat heute ein Italiener seine Zelte aufgeschlagen. Nach der Veranstaltung
tranken wir dort ein Glas Wein. In diesen Räumen befand sich früher eine
Apotheke, auf der anderen Seite des Hauseingangs war ein HO Laden, an den ich
mich auch noch erinnere, weil wir dort nur selten etwas kaufen konnten wegen der
enormen Preise. Im Keller der Apotheke, in dem ich fünfzig Jahre später Wein
trank, hatten sich die Bewohner des Hauses vor den Bombenangriffen verkrochen
und die letzten Tage des Krieges erlebt. Die Russen beschossen fast acht Tage
vom Robert-Koch-Platz her die Reichskanzlei. Mein Vater erzählte, dass am Tag
der Kapitulation ein Wehrmachtsoffizier, der sich auch in diesem Keller
versteckt hatte, grüßend in „neuem“ Zivil an seinen jungen Soldaten vorbei ging,
die unter der benachbarten S-Bahnbrücke exekutiert wurden. In diesem Keller
hatte sich die Apothekerin aus Angst vor den Russen das Leben genommen. Die
Geschichten über Krieg, Gewalt, Hunger, Kälte, Vergewaltigung und meine Kindheit
zwischen den Ruinen als stille Zeugen der Unmenschlichkeit sind durch nichts
verdrängt worden. Heute kann ich an einem dieser Orte persönlicher Geschichte in
einer gepflegten Gaststätte italienischen Wein trinken und über die
kurvenreichen Wege des Lebens grübeln. Jeder Ort meiner Kindheit hat sich
verwandelt und meine Erinnerung gräbt sich durch abgelagerte Schichten. So fällt
mir ein, dass sich in der heutigen Landesvertretung Sachsen-Anhalts der
DDR-Künstlerclub „Die Möwe“ befand. Veranstaltungskarten waren heiß begehrt.
Exterritoriales Terrain war auch die Möwe nicht, trotz des Hauches von Freiheit
und Luxus. Viele Künstler und Intellektuelle, die dort aus- und eingegangen
sind, wählten nach der Ausbürgerung des DDR-Liedermachers Wolf Biermann im Jahr
1976 den Weg in den Westen.
1971 habe ich als Studentin der Malerei an der vormilitärischen Ausbildung
teilnehmen müssen. Das Ausbildungslager befand sich in der Nähe Berlins. Eine
Bungalowsiedlung, in der sich im Sommer Urlauber tummelten, wurde zu einem
Wehrertüchtigungslager für etwa 200 junge Frauen, die an Berliner
Kunsthochschulen studierten. Mein Sohn war damals ein Jahr alt und wurde von
meiner Schwiegermutter versorgt. Ihr Mann war in den letzten Tagen des Zweiten
Weltkrieges in Halle gefallen. Sie war eine der tapfersten Frauen, die ich
kannte. Sie zog allein ihre sieben Söhne groß, brachte ihnen Zivilcourage und
eigenes Denken bei. Alle, auch der Vater meines Sohnes, haben den aktiven
Wehrdienst verweigert. Als Pazifistin weigerte ich mich ebenfalls, an den
Schießübungen während der Ausbildung teilzunehmen. Das hatte damals noch keine
besonderen Konsequenzen. Ich wurde einer Gruppe von etwa fünfzehn jungen Frauen
zugeordnet, die schwanger, krank oder aus anderen Gründen „wehruntauglich“
waren. Wir mussten die „Opfer eines Atomschlages“ spielen. Dazu wurden wir von
Maskenbildnern mit fürchterlichen Wunden ausgestattet, irgendwo in den Wald
gelegt und warteten bis uns ein „Sanitäter“ fand, um uns „medizinisch“ zu
versorgen. Der milde Spätsommer verlockte zum Träumen. Beim Warten auf die
„Sanitäter“ verging so manche Stunde. Da lag ich nun im Wald, das Licht war
sanft, man konnte durch das goldene Herbstlaub den blassblauen Himmel sehen und
sich seinen Gedanken überlassen.
Meine Kindheit in den Trümmern von Berlin
Mir fielen die Bilder meiner Kindheit ein: Der zerbombte Reichstag im
abgeholzten Tiergarten, die Ruinen der Kroll-Oper und die ehemaligen
Botschaften, in denen wir Höhlen bauten. Die Reste der Reichskanzlei, in denen
ich meine erste Zigarette aus Klopapier und Pfefferminztee rauchte, die
zerstörten Ufer der Spree, in der wir badeten und Krebse fingen. Das war zwar
alles verboten, aber wer konnte uns schon kontrollieren. Die Eltern waren mit
Hamstern und Organisieren beschäftigt. Ich erinnerte mich an die Russen, die als
Sieger gekommen waren und dann jahrelang am Russendenkmal im Tiergarten zwei
russische Panzer bewachen mussten. Sie schauten mit zernarbten Gesichtern,
traurigen Augen und goldenen Zähnen durch die Gitter der Wachhäuschen. Die
Sieger hatten keinen Ausgang, sie konnten sich nicht frei bewegen. Dafür sangen
und träumten sie vom Baikalsee. Das Sprechen war ihnen selbst mit uns Kindern
verboten. Aber wir taten es doch. Mir fielen die zwergenhaften alten Frauen in
ihren dunklen Kleidern ein, die der Krieg von Ostpreußen bis in die Keller
unseres Hauses getrieben hatte. Wenn sie mit mir reden wollten, verstand ich
ihre fremde Sprache nicht. Sie waren mir unheimlich wie die Krähen im
Tiergarten. Eine nach der anderen holte der Tod, der gewiss genauso unbarmherzig
und einsam war wie im Winter 1944/45 auf den Landstraßen von Ostpreußen nach
Deutschland. Ich dachte an die Kriegsversehrten, die das Berlin meiner Kindheit
bevölkerten, an ihre schweren Rollstühle, die schon fast Särgen glichen. Auch
einigen meiner Lehrer fehlten Arme oder Beine. Mein Deutschlehrer verteilte mit
seiner Handprothese derbe Kopfnüsse, die jedoch bei den großen vernachlässigten
Jungen, die oft vielfache Sitzenbleiber waren, wirkungslos blieben. Meine
Schulkameraden sind fast alle als „Schlüsselkinder“ und ohne Vater aufgewachsen.
Die Mütter mussten nach dem „Umsturz“ das Leben bewältigen und den Schutt
wegräumen.
Als ich mit meinen angemalten Verletzungen im Gras lag, war das alles gerade 25
Jahre her. Und nun sollte ich mich schon wieder auf den nächsten „Ernstfall“
vorbereiten. Dazwischen lagen mein Leben und viel Weltgeschichte, in der auch
fast immer Berlin eine Rolle gespielt hatte. Es gab nie Grund in der geteilten
Stadt, die Furcht vor einem neuen Krieg zu verlieren. Ich kannte Berlin nur als
geteilte Stadt. Bis 1961 ohne Mauer und danach mit der Mauer. Aber geteilt war
sie immer. Bis 1961 wurden die Grenzübergangsstellen und die S-Bahnen von der
kasernierten Volkspolizei kontrolliert. Ein Teil unserer Bekannten arbeitete in
West-Berlin. Sie wurden Grenzgänger genannt. Was man im Osten nicht kaufen
konnte, wurde bis 1961 im Westen besorgt. Für eine Westmark musste man vier
Ostmark geben. Das war sehr viel Geld, also wurde nicht viel gekauft. Zu
Weihnachten Rosinen, manchmal Kaffee, alles wurde unter der Gefahr der
Beschlagnahmung im Kinderwagen meines Bruders von West nach Ost transportiert.
Ab und zu gingen wir ins Museum oder Kino; der Eintritt war für Ostler ermäßigt,
wenn man einen Abschnitt der Lebensmittelkarte vorzeigen konnte. Die Flucht war
noch einfach. Man stieg im Osten in die S-Bahn und im Westen wieder aus. Aber
man musste alles zurücklassen. Auch meine Eltern hatten nach dem Aufstand am
17.Juni 1953 erwogen in den Westen „zu gehen“. Die Panzer rollten durch Berlin.
Es gab Tote, Verletzte, Verhaftungen, abendliche Ausgangssperren und nicht mehr
als drei Leute durften zusammen auf der Straße stehen. Bekannte meiner Eltern
verschwanden nach West-Berlin. Mein kleiner Bruder war in Bad Kösen zur Kur. Die
Eltern waren in Panik, hatten Angst vor einem neuen Krieg und fürchteten, dass
mein Bruder in den Wirren verloren gehen könnte. Mein Vater war bereits aus dem
Lehrerdienst entlassen, weil er nicht in die SED eintreten wollte. Später war es
sein ganzer Stolz, nie in einer Partei gewesen zu sein. Während dieser Zeit
wurde zu Hause besonders heftig diskutiert, nachts, flüsternd, ob wir in den
Westen gehen sollten oder nicht. Die Lebensumstände in den überfüllten
Flüchtlingslagern und die Tatsache, dass sie „alles“ zurücklassen mussten,
selbst die winzige Wohnung mit Außentoilette, hielt meine Eltern davon ab, sich
am Bahnhof Friedrichstraße in die S-Bahn zu setzen und am Bahnhof Zoo wieder
auszusteigen.
Während des Ungarnaufstandes 1956 stand selbst für mich als Elfjährige der Krieg
vor der Tür. Mein Vater hörte immer heimlich RIAS. Fast täglich erlebten wir
neue Wechselbäder für die Psyche - Angst, Hoffnung, Angst. Der Sohn einer
befreundeten Ungarin, der an der Humboldt-Universität studierte, flüchtete bei
Nacht und Nebel nach Westberlin, weil er mit anderen Studenten Flugblätter
verteilt hatte und mit seiner Verhaftung zu rechnen war.
Mein Zeugnis mit 18: „Bärbel ist bockig“
Dann kam der Mauerbau 1961. Damals war ich sechzehn Jahre alt. Im Elternhaus bin
ich weder antikommunistisch noch proamerikanisch erzogen worden. „Gute und
schlechte Menschen gibt es überall, du musst deinen Weg finden“, das war die
Devise. Und die Geschichten des Vaters über die Zeit vor und nach 1945 waren
eine ganz eigene Art politischer Bildung. Mich beeindruckte als Kind immer sehr,
dass die Kriegsgefangenen, die für die AEG arbeiten mussten, während der
Luftangriffe nicht in den Luftschutzkeller durften. Ich wusste, wie sich die
Russen in Berlin verhalten hatten, dass sie viele Frauen vergewaltigten. Ich
wusste, dass der Vater meiner Cousine nach dem Krieg in dem Konzentrationslager
Sachsenhausen umgekommen ist, nur weil jemand die Wohnung seiner Familie haben
wollte. Ich wusste, dass mit der Vereinigung von SPD und KPD nicht alle Genossen
einverstanden waren, mein Onkel Hugo zum Beispiel nicht. Ich kannte die
Verachtung meiner Eltern für die Mitläufer vor und nach 1945, es waren oft
dieselben. Es gab keine Geheimnisse in unserer Familie. Vielleicht wurde nicht
über alles gesprochen, aber wenn ich eine Antwort wollte, bekam ich sie.
Im Sommer 61 verdiente ich mir als Helferin in einem Kinderferienlager ein wenig
Taschengeld. Als ich zurückkam, stand die Mauer. Ich wollte damals glauben, dass
die Mauer notwendig sei, um den Sozialismus aufzubauen. Feinde, Saboteure und
Diversanten waren ausgesperrt, jetzt kommt die Freiheit. Keine meiner
Freundinnen würde mehr in den Westen abhauen und mich auf meiner Schulbank
allein lassen. Leider würden auch die Russischlehrer bleiben.
Dann begriff ich, dass die Mauer nach innen gerichtet war. Sie verhinderte, dass
ich lesen konnte was ich wollte, dass ich mir Filme mit dem Gütezeichen
„besonders wertvoll“ ansehen konnte, dass der Tiergarten und meine alte
Nenntante unerreichbar wurden. Die Mauer wurde gebraucht, um zu bestimmen mit
welchen Hosen ich in die Schule zu gehen, welche Frisur und Brille ich zu
tragen, welche Musik ich zu hören und was ich zu denken hatte. Die Mauer wurde
gebraucht, um mich zu kneten und die Gesellschaft in den Griff zu bekommen. Zum
Glück gibt es die Pubertät! Auf meinem Abiturzeugnis steht „Bärbel ist bockig“.
Mit Prag 1968 starb mein Glaube an den Sozialismus
Ich wollte nicht von der Schulbank in ein Studium flüchten, zumal ich gar nicht
genau wusste, was ich studieren wollte. Am liebsten hätte ich Malerei studiert,
aber das war für meine Eltern wie eine Reise zum Mond. Also wollte ich erst
einmal unabhängig sein. Eine eigene Wohnung haben, eigenes Geld verdienen, durch
verschiedene Tätigkeiten in der sozialistischen Produktion. Dabei machte ich
viele unbezahlbare Erfahrungen. Vor allem aber die, dass der Sozialismus selbst
die Wirtschaft nicht leben ließ und dass für das wenige, das erreicht wurde, der
Preis zu hoch war. Auf den Großbaustellen des Sozialismus – Vetschau, Lübbenau,
Schwedt – sah ich, wie schlecht die Menschen lebten und wie schwer sie
arbeiteten. Warum das keine Ausbeutung sein sollte, verstand ich nicht. Meine
Arbeit machte mir dennoch Spaß, trotz der für meine Generation schon fast
üblichen Begleiterscheinungen wie Mitgliedschaft im FDGB und dem „Kampf“ um den
Titel „Sozialistische Brigade“. Um vier war der Arbeitstag zu Ende und das Leben
begann.
Für eine Abiturientin war es ungewöhnlich, wenn sie nicht nach der Schule
studierte, sondern arbeitete. Gleichzeitig eröffnete das Abitur Chancen für eine
schnelle berufliche Entwicklung. Auf dem zweiten Bildungsweg machte ich meinen
Abschluss als Industriekaufmann und durch ein Zusatzstudium eine pädagogische
Ausbildung, so dass ich selbst Industriekaufleute ausbilden konnte. Mit 21
Jahren hatte ich eine Berufsausbildung, war finanziell unabhängig und eine
berufliche Karriere lag vor mir. Die Unterstützung, die ich erhielt, war nicht
selbstverständlich, aber ich hatte das „Glück“, dass zu dieser Zeit die Partei
beschlossen hatte, besonders Mädchen und Frauen zu fördern.
Eine wichtige politische Erfahrung bedeutet mir 1968. Seit dieser Zeit habe ich
nicht mehr an die Reformierbarkeit des Sozialismus geglaubt. Mit der
Zerschlagung des Prager Frühlings gingen für viele Menschen politische
Hoffnungen zu Bruch. Vor den Ereignissen in der Tschechoslowakei hatte es
interessante Streitgespräche über die Reformierbarkeit des Sozialismus gegeben.
Unter meinen Bekannten gab es einige SED-Mitglieder. Ein häufiges Argument für
ihre Mitgliedschaft war, dass man die SED von innen heraus verändern müsse. Mit
der Zerschlagung des Prager Frühlings bekam auch mein damaliger Freundeskreis
Risse. Viele meiner Freunde, auch einige Kandidaten der SED, sind in den
folgenden Jahren aus Enttäuschung in den Westen gegangen.
Nach 1968 sah die Zukunft ziemlich alternativlos aus. Die Mauer stand fester als
vorher. Sie würde sich nicht in Luft auflösen. Entweder man versuchte abzuhauen
oder im Osten ein Leben zu führen, in dem man sich nicht zu sehr verbiegen
musste. Ich glaubte das letztere am besten in der Kunst verwirklichen zu können.
Als ich mich um einen der wenigen Studienplätze für Malerei bewarb, schrieben
befreundete Maler eine Beurteilung für mich. Ich war empört, weil sie mich als
naiv einschätzten. Ihre Begründung aber war einleuchtend. „Meinst du, sie wollen
Studenten, die nicht mehr formbar sind?“
Ab 1969 studierte ich Malerei. An der Kunsthochschule wurde politischer Druck
ausgeübt, der manchmal größer als in Betrieben und anderen Einrichtungen war.
Trotzdem gelang es auch hier immer wieder, sich den Ansprüchen der SED zu
entziehen. Menschen, die es bis in staatliche Institutionen wie Kunsthochschulen
oder Künstlerverbände gebracht hatten, wurde etwas Originalität zugestanden, sie
galten als ein „eigenes Völkchen“. Rigide Methoden, um die Künstler anzupassen,
gab es trotzdem mehr als genug. Die Militärübungen in diesem Bungalowdorf 1971
dienten auch diesem Zweck. Obendrein fühlten wir uns verdummt. Bei einem
Atomschlag in den Rinnstein legen, Füße zum Wirkungsherd, Aktentasche auf den
Kopf, und alles ging weiter wie zuvor. Durch die Brille der Politoffiziere
gesehen, die uns den theoretischen und ideologischen Unterricht in der
vormilitärischen Ausbildung erteilten, stand außer Frage, dass der Sozialismus
siegen würde. Wir sollten nur zu seiner Verteidigung bereit sein. Wer ihn nicht
verteidigen wollte, war ein Feind des Sozialismus. Für pazifistische Haltungen
gab es keinen Platz. Das Freund-Feind-Denken und die Lagermentalität auf beiden
Seiten der Mauer entwickelten sich besonders gut im Klima des Kalten Krieges.
Noch bis in die 90er Jahre habe ich das zu spüren bekommen. Für die einen
gehörte ich in die linke Ecke, für die anderen in die rechte.
Mein Sohn sollte als freier Mensch aufwachsen
Unseren Sohn Anselm, der 1970 geboren wurde, wollten ich und mein damaliger
Mann, der Maler Dietrich Bohley, so gut es ging, der formenden Hand von Vater
Staat entziehen. Er sollte so frei wie möglich aufwachsen. Vielleicht war es ja
auch „naiv“ von uns, in der DDR unser Kind zu einem Weltbürger erziehen zu
wollen, aber um der geistigen Beschränkung zu entkommen, war kein Ziel zu hoch
gesteckt. Erreichen konnte man sowieso nur die untere Skala der Meßlatte. Anselm
besuchte einen evangelischen Kindergarten und wurde nicht Mitglied der Jungen
Pioniere. Es war üblich, dass die Erstklässler bei Schulbeginn auch in die
Pioniere eintraten. Ich lehnte das mit der Begründung ab, dass er ja erst mal
die Pioniere kennen lernen müsse, bevor er in sie eintreten könne. Die
Gelegenheit bekam er: er konnte als ehemaliges „Kirchenkindergartenkind“ an den
Pioniernachmittagen teilnehmen. Ich bemühte mich allerdings für diesen
Nachmittag ein besseres Programm anzubieten. Wenn er wollte, konnte er andere
Kinder aus der Schule dazu einladen. So wurden wir am Mittwoch eine echte
Konkurrenz für die Schule. Für Anselm hat sich das Problem bald gelöst, er
wollte gar nicht mehr in die Pioniere, weil es dort so langweilig war. Er nahm
nicht an der vormilitärischen Ausbildung teil und verpflichtete sich nicht mit
14 Jahren zu einem dreijährigen Dienst bei der Nationalen Volksarmee. Damit war
natürlich die Chance auf die Erweiterte Oberschule und später die Universität zu
kommen, erst einmal vertan. Zum Glück war Anselm ein vielseitig begabtes und
interessiertes Kind und ich hoffte, er könnte über den zweiten Bildungsweg
seinen Weg gehen. Der Schule teilte ich mit, dass man nicht ihn unter Druck
setzen, sondern sich mit mir auseinandersetzen müsse: „Ich nehme lediglich mein
Recht als Erziehungsberechtigte wahr und verbiete ihm die Teilnahme an
Veranstaltungen, die nicht im Interesse meiner Erziehung liegen.“ So konnte ich
wenigstens ein wenig Druck von ihm abwenden.
Trotzdem war es nicht leicht für ihn und heute bin ich manchmal erschrocken über
das, was ich ihm zugemutet habe. Zum Glück war er in der Familie und einem
großen Freundeskreis geborgen. Alle hatten die gleichen Probleme mit den
autoritären Strukturen in Kindergarten und Schule, den Bildungsinhalten und
„Lernzielen“, auch wenn sie jeder anders zu lösen versuchte. Einige wollten ihre
Kinder sogar antiautoritär erziehen. Für mich war das allerdings auch nur ein
hilfloser Laborversuch, mit den Problemen der Realität fertig zu werden. 1970
wurde mein Bruder wegen Staatsverleumdung verhaftet. Er wurde zu zwei Jahren und
zwei Monaten Gefängnis verurteilt. In dieser Zeit kloppte er auf der Werft in
Wismar Rost von Schiffsrümpfen und ruinierte sich die Gesundheit, bis heute
leidet er unter den Folgen der Haftbedingungen.
Eine lehrreiche Reise durch die Sowjetunion
Ich beendete mein Studium 1974 und war seitdem als freiberufliche Malerin tätig.
Viele meiner Freunde waren ebenfalls freiberuflich. Das bedeutete nicht nur mehr
Unabhängigkeit und Selbständigkeit im Beruf, sondern auch mehr Freiheiten,
vorausgesetzt, man wollte keine Karriere machen und war mit einem bescheidenen
Lebensstandard zufrieden. Auf jeden Fall fühlte ich mich unabhängiger als die
meisten anderen Menschen und suchte ständig nach Möglichkeiten, mich frei zu
fühlen. Ich wollte reisen. In den sechziger und siebziger Jahren habe ich
etliche Reisen ins sozialistische Ausland gemacht. Trotz der begrenzten
Möglichkeiten mit dem eingeschränkten Geldumtausch oder der beschränkten Anzahl
von Tagen bin ich außer in Albanien in allen sozialistischen Ländern gewesen.
Für mich waren diese Reisen sehr wichtig. Nicht nur, weil ich die reale
Situation des sozialistischen Lagers besser einschätzen konnte, sondern auch,
weil selbst die Luft im sozialistischen Lager unterschiedlich dünn war. In
Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei war sie eindeutig besser als zu Hause.
Ich lernte eine Unmenge von Problemen in den anderen sozialistischen Ländern
kennen, von denen wir nie etwas in der Schule gehört hatten oder etwas in den
Zeitungen lesen konnten. So erfuhr ich etwas vom Antisemitismus in Polen, von
der Unterdrückung der türkischen Minderheit in Bulgarien, über den brutalen
Polizeiapparat in Rumänien. Die bedrückenden Sorgen der Menschen in der
Sowjetunion, ihre Isolation und die Neugier der jungen Leute lernte ich fast wie
im Zeitraffer 1976 kennen. Zu dieser Zeit war ich gerade in der Sowjetunion. Bei
einem Wettbewerb des Staatlichen Kunsthandels der DDR erhielt ich den 2. Preis,
der in einer 14tägigen Reise durch die Sowjetunion bestand. Zusammen mit fünf
Meisterschülern der Akademie der Künste flog ich von Leningrad über Moskau,
Taschkent, Samarkand und Bratsk nach Irkutsk am Baikalsee. Wir waren eine kleine
Gruppe, relativ unabhängig und konnten uns frei bewegen. Die Reise war
niederschmetternd und aufregend zugleich. Wenn es noch einen kleinen Funken
Hoffnung für das große Sowjetreich in mir gegeben hatte, so wurde der im
November 1976 erstickt. In der Sowjetunion war nicht einmal die Logistik
vorhanden, um einen Granatapfel von Taschkent nach Leningrad oder Bratsk zu
transportieren. Während sie in Taschkent verfaulten, standen die Menschen in
Sibirien in ihren riesigen Kaufhallen vor leeren Regalen in denen sie trübe mit
Staub belegte 10 Litergläser Tomatenmark betrachten konnten.
Bratsk war laut Reiseführer eine „junge sozialistische Stadt“ im östlichen
Sibirien, die in den 60er Jahren erbaut worden war. Sie bestand lediglich aus
dem gewaltigsten Wasserkraftwerk der Erde und einem nassen, eisigen
Holzverarbeitungswerk ungeheuren Ausmaßes, ein paar baufälligen Neubauten und
einem Denkmal für gefallene Rotarmisten, an dem bei 36 Grad Minus zwei
Komsomolzen Ehrenwache hielten. Als ich während eines Gespräches mein Gegenüber
fragte, wo er geboren sei, sagte er zu meiner Verwunderung: In Bratsk. Aber wie
war das möglich, die Stadt war neu und er fast dreißig Jahre alt? Er erzählte
mir, dass die Stadt auf einem Gefangenenlager Stalins errichtet worden ist. Der
Staudamm und das Wasserkraftwerk seien von Gefangenen gebaut worden. Auch seine
Eltern waren Häftlinge gewesen und er selbst wäre noch im GULAG geboren. Die
Überlebenden des Lagers waren die „heldenhaften Gründer“ der Stadt Bratsk an dem
sibirischen Fluss Angara, mehrere tausend Kilometer hinter dem Ural. Die
Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen waren unglaublich hart. Sie
arbeiteten wie die Sklaven und wahrscheinlich träumten sie nachts von den
Granatäpfeln am anderen Ende der Sowjetunion. Alles, was ich während der kurzen
Reise hörte und erlebte, beeindruckte mich tief, am meisten aber die müden und
bleiernen Gesichter auf der Straße. Fast alle Menschen sahen grau und hart wie
Beton aus. Die ganze Gesellschaft schien aus Gestrandeten zu bestehen. Nur ein
System, in dem das Leben entsetzlich anstrengend war und der Mensch gar nichts
wert, konnte so viele „Betongesichter“ erzeugen.
Natürlich wurde über solche Reisen auch mit Freunden und Bekannten geredet. In
meinem Freundeskreis herrschte Gedankenfreiheit. Verbotene Bücher kursierten und
wurden diskutiert, Schallplatten wurden ausgetauscht. In Wohnungen fanden
Lesungen und Ausstellungen statt. Es wurde gefeiert und gekocht. Wenn die
Wohnungstür geschlossen war, fühlte man sich unbeobachtet. Das war nicht nur in
Berlin so, sondern auch in Halle, Dresden und anderen Städten. Besonders die
Lesungen und anschließenden Diskussionen zeigten, wie groß das Bedürfnis nach
geistiger Auseinandersetzung war. In überfüllten und verqualmten Wohnzimmern, es
gab kaum ein freies Plätzchen, lasen Schriftsteller wie Sarah Kirsch, Reiner
Kunze, Heinz Czechowski, Dieter Mucke, Wolfgang Hilbig, Gerhard Neumann und
viele andere. Oft versuchte die Staatssicherheit mit fadenscheinigen
Begründungen den alternativen Kulturbetrieb zu behindern. Ein paar Polizisten
wurden vorbeigeschickt, die die Lesung verbieten sollten. Es hieß, es sei zu
laut, oder aus „bautechnischen Gründen dürften sich nicht zu viele Leute in der
Wohnung aufhalten“ oder aber die Veranstaltung war „nicht angemeldet“. Die
Staatssicherheit war immer dabei, im Verband Bildender Künstler, in der Schule
meines Sohnes, bei den privaten Lesungen und Ausstellungen, manchmal sogar an
meinem Küchentisch.
Bei Robert und Katja Havemann
Auch bevor ich mich besonders in der Friedensbewegung engagierte, gab es genug
Gründe für die Staatssicherheit ein Auge auf mich zu werfen. Warum sie nicht
viel früher zugegriffen hat, frage ich mich auch manchmal. Vielleicht war ich
sehr vorsichtig, vielleicht traute sie mir nicht viel zu. 1980 wurden die
Schriftsteller Lutz Rathenow und Frank Wolf Matthies verhaftet. Nach ihrer
Haftentlassung beschloss Matthies mit seiner Familie in den Westen auszureisen.
Zur gleichen Zeit erschien sein erstes Buch bei einem westdeutschen Verlag.
Durch einen Journalisten der Süddeutschen Zeitung gelangten die Belegexemplare
in die DDR. Auf einem hochkonspirativen Treffen in einem Studentencafe in der
Friedrichstraße wurden sie mir übergeben und ich verteilte sie später an Freunde
und Bekannte von Matthies. Einer war der Regimekritiker Robert Havemann. Katja,
seine Frau, hatte ich bereits auf einer Lesung kennen gelernt. Da hatte ich nun
meine Liste, die abzuarbeiten war. Ich fuhr nach Grünheide, um das Büchlein
abzugeben. Katja und Robert waren nicht zu Hause. Franziska, die sechsjährige
Tochter öffnete mir die Tür. „Da bist du ja endlich, wir haben schon auf dich
gewartet“, waren ihre Begrüßungsworte. Ja, mit diesem Besuch eröffnete sich eine
neue Welt. Ich bin gewissermaßen aus der Kunstwelt in die Welt der Politik
eingetreten. Mit der Stasi verhält es sich vielleicht wie mit der ersten Liebe.
Der erste Kontakt mit dem „ganz anderen“ ist für alle weiteren Begegnungen
wichtig, weil immer wieder ähnliche Gefühle ausgelöst werden. Meine erste
direkte Tuchfühlung mit der Stasi hatte ich, als mich Katja bat, sie zu
begleiten, um die Enkelkinder Roberts am Bahnhof Friedrichstraße abzuholen.
Robert hatte 70. Geburtstag und die DDR war gnädig gestimmt, sie erlaubte die
Einreise der fünfjährigen Nelly und des dreijährigen Felix. Wir nahmen am
Grenzübergang Friedrichstraße die Kinder in Empfang und fuhren nach Grünheide.
Begleitet wurden wir während der ganzen Fahrt von einem Konvoi Stasiautos. Was
wollten die? Die Kinder waren nicht die Eltern, Sybille Havemann und Wolf
Biermann. Es waren zwei kleine Zwerge, die kaum sprechen konnten und sich auf
ihren Opa Robert freuten. Ich hatte nicht die geringste Angst, sondern war nur
von dem absurden Theater, das man uns bot, überrascht. Es war so lächerlich, das
für Angst kein Platz blieb. Auch bei späteren „Kontakten“ mit der
Staatsicherheit habe ich immer zuerst das Absurde in der Situation gesehen. Das
Personal, ja selbst das Mobiliar in Berlin-Hohenschönhausen war absurd. Alles
war bieder, primitiv, simpel und stumpf, dabei wollten sie doch das „Schild und
Schwert der Partei“ sein. Auf den Fluren in Hohenschönhausen lag der gleich
Fußbodenbelag wie in der Küche meiner Freundin Irena. Das war absurd. Mein
Vernehmer im Jahr 1983 steckte in Klamotten aus dem Herrenexquisit, ich in einem
blauen Trainingsanzug und gelbbraun karierten Pantoffeln, ich hatte doch nie
Sport getrieben und er sah so sportlich aus. Das war absurd. Ich kleine Maus
wurde in einer Einzelzelle gehalten und an einer ganzen Kohorte, die rechts und
links die Treppe säumte, vorbei zu meinem 20minütigem Freigang geführt. Der
Freigang fand wiederum in einem vergitterten Käfig statt und über das Käfigdach
liefen zwei mit Maschinengewehren bewaffnete Aufseher. Das war absurd.
Mit dem Blick auf das Absurde gelang es mir, eine Distanz aufzubauen zu dem
Brutalen, Kalten, Mörderischen, Menschenverachtenden, das hinter dem Absurden
lauerte, um einen fertig zu machen. Je weniger Distanz es gab, umso mehr wurde
der Inhaftierte durch die Haftbedingungen niedergedrückt und um so mehr litt er
unter seiner hilflosen Situation. Bei meiner zweiten Haft 1988 gelang es mir
auch nicht, Distanz herzustellen und innere Freiheit zu bewahren. Während der
Luxemburg-Liebknecht-Demonstration im Januar 1988 waren sehr viele Antragsteller
auf Ausreise aus der DDR verhaftet worden und auch einige meiner Freunde, die
sich an der Demonstration beteiligt hatten. Aus Protest kam es sehr schnell zu
einem Solidaritätsgottesdienst der unterschiedlichsten Friedens-,
Menschenrechts-, und Umweltgruppen in Berlin. Dort wurde diskutiert, wie den
Inhaftierten und ihren Verwandten geholfen werden könne. Es stellte sich heraus,
dass man unbedingt wieder ein Kontakttelefon brauchte. Bis dahin hatte es ein
Kontakttelefon in der Zionskirche gegeben, das auf Betreiben der Kirchenleitung
gesperrt worden war. Während des Solidaritätsgottesdienstes fragte ich
öffentlich Herrn Konsistorialpräsidenten Manfred Stolpe, ob ich seine und die
Unterstützung der Kirchenleitung hätte, wenn ich mein Telefon als Kontakttelefon
zur Verfügung stellen würde. Er sagte mir diese Unterstützung zu, die wichtig
war, damit mir die Stasi nicht den strafrechtlich relevanten Vorwurf der
„Weitergabe von Nachrichten, die nicht der Geheimhaltung unterliegen“ machen
konnte.
Trotzdem bin ich einige Tage später verhaftet worden. Ich fühlte mich von der
Kirche verraten und war mir sicher, dass ich nicht ein zweites Mal ohne Anklage
in die DDR entlassen werden würde. Gleichzeitig konnte ich mir nicht vorstellen,
dass die DDR zu dieser Zeit politische Prozesse wollte und durchstehen würde.
Die Situation erschien mir total aussichtslos. Zum ersten Mal hatte ich
Todesangst, wenn ich in dem fensterlosen Kastenwagen saß und von
Hohenschönhausen in die Untersuchungshaftanstalt Magdalenenstraße transportiert
wurde. Dort fanden die Gespräche mit meinen Verteidigern, Rechtsanwalt Wolfgang
Schnur ( IM Torsten ) und Gregor Gysi (IM Notar) statt. Auch ein gemeinsames
Gespräch mit Herrn Bischof Forck und Rechtanwalt Vogel fand in der
Magdalenenstraße statt, in dem mir die Möglichkeit eröffnet wurde, in die BRD
auszureisen. Ich erklärte, dass ich nicht ausreisen möchte, sondern in der DDR
bleiben will.
Manchmal stand der Kastenwagen längere Zeit irgendwo. Ich war allein in dem
dunklen Wagen und konnte nichts weiter hören als das Rauschen in meinen Ohren.
Plötzlich hatte ich den Gedanken, dass jetzt der Wagen in einen See rollen oder
von einem anderen Fahrzeug gerammt werden würde. Das schien mir die einzige
Möglichkeit zu sein, das Problem zu lösen. Meine innere Panik fand ihren
Niederschlag in panischen Handlungen. Nur so kann ich es selbst verstehen, dass
ich mich, gegen meinen ausdrücklichen Wunsch, in der DDR bleiben zu wollen,
bereit erklärte für ein halbes Jahr die DDR zu verlassen und nach England zu
gehen. Aber das ist eine andere Geschichte. Die Gefühle der Ohnmacht und Wut,
die mich immer wieder bei einem unmittelbaren Zugriff durch die Staatssicherheit
übermannten, bekam ich das erste Mal am 17. April 1982. An diesem Tag sollte
Robert Havemann in Grünheide beerdigt werden. Am Morgen wurde ich zu Hause
abgeholt und für einen Tag festgenommen, um nicht an der Trauerfeier teilnehmen
zu können. Man befürchtete zu Recht, dass seine Beerdigung gleichzeitig eine
Demonstration Andersdenkender gegen die Staatsmacht werden würde. Nicht nur
Freunde und Verwandte, sondern auch viele Menschen, die ihn nicht persönlich
kannten, wollten von ihm Abschied nehmen und damit zeigen, dass sie seine Ideen
teilten. Meine Festnahme damals erzeugte bei mir alles andere als Angst. Ich war
empört und wütend über diese Menschenverachtung, die sogar vor einem Toten nicht
halt machte. Ja, Wut ist auch eine Wurzel von Mut!
Der Mut der „Frauen für den Frieden“
Ab 1982 ist meine Lebensgeschichte über viele Jahre eng mit der Geschichte der
unabhängigen Gruppen „Frauen für den Frieden“, der „Initiative Frieden und
Menschenrechte“ und dem „NEUEN FORUM“ verbunden. Besondere Bedeutung für mich
hat die Gruppe „Frauen für den Frieden“, denn ihre Geschichte ist eine
Geschichte vom Mut zum politischen Handeln. Es ist eine Geschichte vom Sprechen
lernen, Verantwortung übernehmen, von Solidarität und der Verteidigung von
Menschenwürde in einer Gesellschaft, die von Willkür und Lüge beherrscht wurde.
Die Philosophin Hannah Arendt schreibt, dass politisches Handeln „Handeln ist,
das im Bereich des Politischen stattfindet und durch Menschen verursacht wird“.
Das Politische wiederum ist definiert als die Menge aller politischen Vorgänge.
Ein solcher Vorgang verlangt eine Vielheit von Menschen, die irgendetwas
Individuelles wollen und sich an einem Ort versammeln, miteinander sprechen und
sich schließlich einigen. Die Schlüsselrolle spielt dabei das Sprechen, denn
Wollen allein führt zu nichts. Es muss ausgesprochen werden. Das individuelle
Wollen war in der DDR nicht unterentwickelt. Gerade im privaten Bereich wurde
deutlich, dass die Menschen sich durchaus über gesellschaftliche Probleme der
Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft und Gedanken machten und ihre Ziele hatten.
Sie wussten, welche Fehler die Staatsmacht auf allen Gebieten machte und sie
hatten Ideen, was verändert werden müsste. Was ihnen fehlte, war der öffentliche
Raum, in dem sie ihre Gedanken zur Diskussion stellen konnten. Wenn, wie Hannah
Arendt schrieb, „Sprechen die zentrale Tätigkeit im Politischen“ ist, waren die
DDR-Bürger zum Unpolitischsein verurteilt. Den anständigen Menschen blieb in der
DDR fast immer nur das Schweigen, wenige begehrten auf und durchbrachen die
Lüge. Sie sprachen das aus, was sie dachten. Als Einzelne wurden sie fast immer
durch staatliche Maßnahmen mundtot gemacht, weil sich die Staatsmacht selbst
durch deren Meinung bedroht fühlte.
Wenn sich jedoch Menschen zusammenfanden, die nicht schwiegen, sondern
öffentlich Probleme der Gesellschaft anprangerten und deren Lösung verlangten,
dann wurden sie tatsächlich zu einer Bedrohung für die Staatsmacht. Die Frauen
unserer Gruppe taten dies zu einer Zeit, in der es nicht viel Aussicht auf
Erfolg gab. Sie haben es getan ohne nach den Folgen zu fragen. Dabei hat jede
auf ihre Art Mut bewiesen. Sie hatten mehr Feinde als Freunde. Nicht nur bei den
staatlichen Organen, in den Betrieben, im sozialen Umfeld, sondern auch in der
Kirche. wie z. B. den Konsistorialpräsidenten Manfred Stolpe (IM Sekretär) und
den Generalsuperintendenten Günther Krusche (IM Günther) Oft haben die eigenen
Männer sie nicht verstanden oder Bekannte und Freundinnen ließen sich nicht mehr
sehen aus Angst, in „etwas“ hineingezogen zu werden.
Die Geschichte der Initiative „Frauen für den Frieden“ begann fast beiläufig.
Angestoßen durch den „Flügelschlag eines Schmetterlings“, wie es in der
Chaostheorie heißt, endete sie erst 1989 mit dem Fall der Mauer. Im Dezember
1981 war in Polen das Kriegsrecht ausgerufen worden. Im März 1982 sollte in der
DDR ein neues Wehrdienstgesetz in Kraft treten. Nach diesem Gesetz sollten auch
Frauen im Verteidigungsfall und im Falle der Mobilmachung zum aktiven
Armeedienst eingezogen werden, was eine weitere Verschärfung der bereits seit
dem Ende der siebziger Jahre zunehmenden Militarisierung der DDR-Gesellschaft
bedeutete. Während die Staatsmacht sich gegenüber der Welt als Friedentaube
darstellte, sollte die ganze DDR-Bevölkerung zu militärischen Befehlsempfängern
gemacht werden. Man kann sagen, dass die Bevölkerung seit Jahren direkt oder
indirekt einer vormilitärischen Ausbildung unterlag. An den Schulen war 1978 der
Wehrkundeunterricht eingeführt worden und an Hochschulen, in Betrieben und
öffentlichen Einrichtungen fanden Zivilverteidigungs- und Kampfgruppenübungen
statt. Bestimmte Sportarten wie Tauchen oder Segeln konnte man nur in der
paramilitärischen Gesellschaft für Sport und Technik betreiben. In den
Kindergärten und Schulen stand ein Besuch bei der NVA auf dem Plan. In der
Schule lernten die Kinder das Addieren, in dem sie vier Panzer plus drei Panzer
zusammenzählen mussten.
Empört diskutierte ich das mit dem Lyriker Uwe Kolbe in meinem Atelier. Und was
sagte der Dichter? „Schreib´ doch eine Eingabe!“ Das war die in der DDR einzig
zugelassene Form, um seinem Unmut an öffentlichen Dingen freien Lauf zu lassen.
Man konnte sich von schlechten Wohnbedingungen über abgewiesene Reiseanträge bis
hin zu neuen Gesetzen beschweren. Fast immer erfolglos. Aber der Bürger bekam
die Chance, sich abzureagieren und sein Gewissen zu erleichtern. Man zeigte,
dass man nicht alles hinnahm, sondern noch eine eigene Meinung hatte. Also
schrieb ich eine Eingabe an das Zentralkomitee der SED, die natürlich nicht
beantwortet wurde. Freundinnen in Halle und Berlin schrieben ebenfalls an alle
möglichen Stellen und erhielten keine Antwort. Nicht nur das neue Gesetz empörte
uns, sondern auch die Arroganz der Macht. Wir beschlossen, gemeinsam einen Brief
an den Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker zu schreiben.
Der Protestbrief an Erich Honecker
Was waren die Motive der Frauen? Einige von ihnen hat Irena Kukutz, ebenfalls
Mitglied unserer Gruppe, im Jahr 2000 dazu interviewt. Hier Auszüge aus den
Interviews:
„Na ja, der Text der Eingabe, der ist in dem Stil in dem wir damals tatsächlich
auch gedacht haben. Obwohl er in gewisser Weise auch taktische Passagen enthält.
Wir haben moralisch argumentiert, so haben wir es auch gemeint, aber wir haben
es vermieden aggressiv zu argumentieren um ihnen nicht billig Argumente zu geben
uns als Staatsfeinde gleich zu verknacken, wollten darauf hingewiesen, also
darauf, dass sie ihre eigenen Regeln nicht ernst nehmen. Aber gleichzeitig waren
wir alle damals in unserem Bewusstsein über die DDR der Meinung, dass das Ganze
als politisches Gebilde sowieso eine Farce ist. Nur wir wollten nicht ausreisen,
wir wollten hier bleiben und wir wollten versuchen, öffentlich was zu machen.
Der Brief hat die Tendenz, dass wir Dialog erwarten, in Wirklichkeit haben wir
den meiner Meinung nach kaum erwartet.“ Katja Havemann
*
„Dann bin ich zu mehreren meiner Freundinnen hingegangen und habe sie gefragt,
ob sie das unterzeichnen möchten. Das war recht interessant, weil sich dadurch
endlich die notwendige Diskussion herstellte, in der es darum ging: Ist jetzt
der Zeit gekommen, wo wir NEIN sagen müssen? Sind dies die richtigen Mittel? Wie
viel persönliches Risiko ist man selbst zu tragen bereit? Wie sieht das
Verhältnis aus zwischen Risiko und dem was wir durch solche Aktionen bewirken?
Müssen wir damit rechnen, dass das schon zum Anlass genommen wird, uns ins
Gefängnis zu bringen? Mit welchen beruflichen Konsequenzen hat die einzelne
Angesprochene zu rechnen? Über all diese Fragen wurde gesprochen und natürlich
auch, ob wir überhaupt das Recht haben, uns selbst zu gefährden, weil wir doch
die Verantwortung für unsere Kinder haben. Oder müssen wir, gerade weil wir
Kinder haben, uns hier einmischen und etwas zu verändern versuchen? Es ist ja
immer beides gewesen, einmal die Angst um die Kinder und zum anderen waren viele
eben durch die Verantwortung für die Kinder motiviert, sich gegen die
Militarisierung einzusetzen“ Ulrike Poppe
*
„Wir Frauen waren zum großen Teil mit der Wehrdienst-Thematik konfrontiert wegen
unserer Freunde und Männer, die zur Armee mussten. Wir sahen, dass es für sie
ein Albtraum war, diese NVA - Zeit irgendwie zu überstehen. Das hat ihre
Substanz und ihre Persönlichkeit sehr angegriffen. Ich habe bei vielen erlebt,
dass sie in schwere Krisen gekommen sind, weil ihnen ihre ganze Selbstbestimmung
genommen wurde. Viele haben sich ständig betrunken, weil sie es einfach nicht
mehr ausgehalten haben. Und das alles, um töten zu lernen. Ich denke, dass es
beabsichtigt war, die Leute so fertig zu machen. Es hat wie eine Gehirnwäsche
gewirkt. Sie haben bei der Armee alles über sich ergehen lassen, damit sie die
Zeit überstehen und irgendwann dann die Tage zählen konnten, um da wieder
wegzukommen.
Die Vorstellung war grauenvoll, dass Frauen auch in diese Maschinerie sollten,
zumal wir gemerkt haben, wie zerstörend sie auf Männer wirkt. Das war für mich
der Grund zu sagen: nein, das auf gar keinen Fall. Ich bin in Panik geraten bei
dem Gedanken, dass ich ebenfalls zur Armee und mich solchen Bedingungen aussetze
sollte.“
Almut Ilsen
„Im Oktober 1982 habe ich als Lehrerin in der Volksbildung gearbeitet für die
Oberstufe Deutsch und Englisch, mein Sohn war gerade eineinhalb Jahre alt. Eine
Freundin von mir, Judith Endler, die kam also mit dem Text der Eingabe zu mir
und wir saßen dann gemeinsam in der Küche und haben uns lange darüber
unterhalten. Wir kannten bis dahin das neue Wehrdienstgesetz nicht und dadurch
haben wir erfahren, was damit vorgesehen war, dass Frauen eingezogen werden
sollten im sogenannten Ernstfall oder wie das da formuliert war. Dass also die
Männer zur Armee müssen, die Frauen zur Armee müssen und die Kinder eventuell in
Heime kommen. Und wir hatten beide gerade unsere Söhne bekommen, ihr Sohn ist
ein Jahr jünger als meiner und wir haben uns dann vorgestellt, was das bedeutet,
wenn das eintritt. Weil wir wussten ja, dass dieser Ernstfall von den
Machthabern definiert wird, je nachdem was die also als ernst betrachten. Und
wir wussten, wir müssen uns dagegen wehren, wir können das nicht mitmachen. Wir
können nicht unseren Söhnen in zwanzig Jahren ins Gesicht blicken und denen
sagen, ja mein Gott, man konnte nichts machen. Sie hatte das schon
unterschrieben und ich hab das dann auch unterschrieben.“ Tina Krone
Viele Frauen waren sofort bereit diesen Brief zu unterschreiben. Besonders ihre
Angst vor einem möglichen Atomkrieg war groß. Sie wollten sich nicht einspannen
lassen in eine Abschreckungspolitik, die längst jeden Sinn verloren hatte. In
einem Atomkrieg würde es keine Sieger geben. Ende der siebziger Jahre drehte
sich die Rüstungsspirale schneller und schneller. Aber auch die Angst vor einem
Atomkrieg wuchs. Weltweit gab es bereits eine Protestbewegung gegen diese
Politik. Vor allem in Westeuropa und Amerika hatte sich eine starke
Friedensbewegung organisiert. Auch dort waren Frauen besonders aktiv. Ihr
Widerstand hatte bereits in den sechziger Jahren in Amerika begonnen, denn sie
forderten einen Stopp der Atombombentests. Auch in der DDR gab es seit Jahren
Menschen, die aus Gewissensgründen der Militarisierung entgegentraten. Seit
Bestehen der Nationalen Volksarmee 1962 gab es Widerstand gegen den Wehrdienst.
Zu tiefe Spuren hatte der letzte Krieg hinterlassen. Der Staat reagierte auf
diesen Widerstand mit der Einführung des Bausoldatengesetzes im September 1964.
Männer konnten seitdem den Dienst mit der Waffe ablehnen und ihren Armeedienst
als Bausoldat leisten. Die Folgen aber wurden zunehmend härter. Während die
Brüder meines Mannes noch studieren konnten, war dies ab 1975 für
Wehrdienstverweigerer kaum noch möglich. Es gab lediglich einige
Alibistudienplätze in bestimmten Fachrichtungen, um vor der Weltöffentlichkeit
gut dazustehen. Mit der zunehmenden Militarisierung wuchs auch die Zahl ihrer
Kritiker im Lande. Vor allem die Kirchen wurden von ihren Gemeindemitgliedern
gezwungen, sich öffentlich zu äußern. Unter dem Dach der Kirche gab es viele
Friedenskreise und etliche Aktionen hatten dort ihren Ursprung, wie der
„Berliner Appell“ und „Schwerter zu Pflugscharen“. Die Zahl der Bausoldaten und
Totalverweigerer stieg stetig an.
Unsere Eingabe wurde von 150 Frauen aus der ganzen DDR unterschrieben. In dieser
Eingabe heißt es unter anderem: „.. eines verbindet uns, dass wir nicht
gleichgültig sind und nicht schweigend unsere Zustimmung zu einem Gesetz geben
wollen, das den Frauen ganz neue Pflichten auferlegt, die nicht mit unserem
Selbstverständnis zu vereinbaren sind. Wir Frauen wollen den Kreis der Gewalt
durchbrechen und allen Formen der Gewalt als Mittel zur Konfliktlösung unsere
Teilnahme entziehen. Wir Frauen sehen den Armeedienst für Frauen nicht als
Ausdruck ihrer Gleichberechtigung, sondern als einen Widersinn zu ihrem
Frau-Sein.“ Diesmal reagierte der Staat schnell, zumal der Brief auch noch im
„Spiegel“ veröffentlicht worden war. Mit den Frauen wurden in den Betrieben oder
zu Hause Einzelgespräche geführt. Damit sie sich nicht abstimmen konnten, fanden
sie zeitgleich statt. Die Unterzeichnerinnen sollten zu der Einsicht gebracht
werden, dass das neue Gesetz notwendig sei, um die Verteidigungskraft der DDR
gegenüber der Bedrohung aus dem Westen zu erhöhen. Waren sie uneinsichtig, wurde
ihnen unter Drohungen, z.B. mit beruflichen Konsequenzen, die Tragweite ihres
Handelns deutlich gemacht. Trotzdem zogen nur wenige Frauen ihre Unterschrift
zurück. Etwa zwei Dutzend Frauen wollten es nicht bei dieser Eingabe bewenden
lassen, sie waren über die Nichtachtung und Arroganz der Machthaber so empört,
dass sie beschlossen sich als „Frauengruppe für den Frieden“ weiterhin zu
treffen. Wir wollten einen Dialog mit der Macht erzwingen. Einigen Männern
gefiel unser Umgang miteinander so gut, dass sie am liebsten Mitglieder unserer
Gruppe geworden wären. Das lehnten wir ab, weil wir unseren Staat kannten, der
Frauen nie besonders ernst genommen hat.
Nach dem Krieg dominierte ein nahezu durchgängig konventionelles Frauenbild, in
dem die Rolle der Frau als „Mitarbeiterin“ des Mannes betont wurde. Das betraf
faktisch alle Bereiche in Politik, Gesellschaft und Kirche.
Allerdings hatten der Krieg und die Härten des Wiederaufbaus und der
Transformation (Kriegs- und Trümmerfrauen) den Frauen neue Rollenzuweisungen
gebracht. Sie erfüllten nicht nur „Ersatzfunktionen“ für die fehlenden Männer,
sondern waren auch unentbehrlich im öffentlichen und wirtschaftlichen Leben
geworden. Die Ansätze der frühen sozialistisch-emanzipatorischen Frauenbewegung
gingen aber im Kern verloren. Die „Gleichberechtigung der Frau degenerierte im
Grunde als Kampagne zur Mobilisierung der Frauen für die Produktion. Das blieb
auch so in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren. Die propagierten
Alltagshelden in der DDR waren fast alles Männer: Der Aktivist Adolf Hennecke
(vierziger Jahre), der Radrennfahrer Gustav Adolf Schur (fünfziger Jahre) oder
der Kosmonaut Sigmund Jähn (siebziger Jahre). Einige Frauen, wie die Aktivistin
Frieda Hockauf (Fünfziger Jahre) waren nur Abbilder der männlichen
Produktionshelden. Auch in den Führungsetagen der SED gab es von Anfang an kaum
Frauen.
„Wider den Stachel“ – ein tolles Gefühl...
In den achtziger Jahren hatte sich die Lage der Frauen in der DDR inzwischen
gewandelt. Die SED-staatliche Propaganda verbreitete zwar nun deutlicher die
Legende von der Fürsorge für die Frauen, deren eigenständigen Rolle und der
Geborgenheit der Frauen in der DDR. Aber in den Führungsgremien saßen immer noch
nur Männer mit gelegentlichen Alibifrauen. Das vulgäre Frauenbild der
Staatsorgane war ohnehin völlig antiquiert. Im MfS hielt man Frauen für die
selbständige operative Arbeit nicht geeignet. Frauen brauchten danach „Führung“.
Die lediglich ritualisierte Gleichberechtigung, etwa die Feiern zum
„Internationalen Frauentag“ am 8. März, war von dem alten Frauenbild geprägt.
Der sozialistische Frauentyp war: Kinder in der Krippe, kräftig mit praktischer
Mode, berufliche Qualifizierung, im DFD organisiert. Im Lexikon "Die Frau" hieß
es: „Die Frau ist eine wertvolle Ergänzung des Mannes.“
Tatsächlich hatte sich aber ein sozialer Wandel vollzogen. Soziologisch spielte
die traditionelle Schichtung keine Rolle mehr. Die DDR-Gesellschaft war
zunehmend homogenisiert, als Gegentrend setzte eine starke Individualisierung
ein. Die Frauen entschieden über ihre Lebenslagen eigenständiger und wurden in
ihrer Geschlechterrolle auch selbständiger (zum Beispiel reichten überwiegend
die Frauen die Scheidung ein).
Trotzdem traute man den „Frauen für den Frieden“ nicht viel zu, bestimmt nicht,
die erste von der Kirche unabhängige Protestgruppe gegründet zu haben. Die
Stasiakten beweisen, dass tatsächlich ständig nach den „Hintermännern“ gesucht
wurde. Obwohl etliche Frauen schon längst im Visier der Stasi waren, ging unsere
Rechnung auf. Bis zur Verabschiedung des Nato-Doppelbeschlusses durch den
Bundestag November 1983 ließ man uns relativ in Ruhe.
Das Jahr 1983 war für die Friedensbewegung ein wichtiges Jahr. Auch die „Frauen
für den Frieden“ waren rastlos und unermüdlich tätig. Die Angst vor einer
weiteren Drehung der Rüstungsspirale überwog die Angst vor der Staatssicherheit.
Unter uns gab es Frauen, die der Kirche angehörten und so war es nur natürlich,
dass wir uns an vielen kirchlichen Veranstaltungen beteiligten und dort unser
Anliegen vortrugen. Wir suchten Kontakt zu kirchlichen Friedenskreisen oder
Personen, planten, organisierten und machten Aktionen und Veranstaltungen, die
zum Teil durch die Staatssicherheit verhindert wurden. Es gab Repressionen und
vorübergehende Festnahmen. Aber trotzdem waren wir einfach nicht unterzukriegen.
Wir waren kreativ, einfallsreich, unsere Ideen waren frech, provokativ und wir
trafen fast immer den Nagel auf den Kopf. Das Lachen ist uns auch unter
Stasiaugen nicht vergangen. Im Gegenteil, es war trotz aller Angst ein
überwältigendes Gefühl „wider den Stachel zu löcken“. Wir saßen im Warmen,
tranken Wein, hatten neue Ideen, heckten neue Pläne aus und vor der Haustür
standen „die“ sich in der Kälte die Beine in den Bauch. Später stand jahrelang
ein alter Bauwagen vor meinem Haus und die Stasiakten beweisen, dass sie
tatsächlich aus diesem fotografierten. Sie müssen trotzdem vor Kälte gezittert
haben, denn fast alle Fotos sind verwackelt.
Zu dieser Zeit fühlten wir uns fast unangreifbar und aufgehoben in einem großen
Netz, weil viele Menschen in Ost und West wie wir dachten. Die Menschen
organisierten sich gegen die atomare Bedrohung, „Ärzte gegen den Atomkrieg“,
„Generäle für den Frieden“, Schriftsteller wie Heinrich Böll, bildende Künstler
wie Joseph Beuys, um nur einige zu nennen, erhoben ihre Stimme. Selbst
sowjetische Wissenschaftler wie das Akademiemitglied Prof. Georgij Arbatow
standen inhaltlich auf unserer Seite, wenn sie davor warnten, zu glauben, dass
die Anhäufung von Waffen mehr Sicherheit brächte. Wenn die Stasiakten heute auch
zeigen, dass die westliche Friedensbewegung vom Osten zum Teil finanziert und
manipuliert wurde, so war die Angst von Millionen Menschen ehrlich und
begründet, hatte doch die Kubakrise gezeigt, wie schnell es zu einer atomaren
Auseinandersetzung kommen könnte. Dass nicht nur wir so dachten, sondern sehr
viele, stärkte das Vertrauen der Frauen in die eigene kritische Urteilskraft. In
der DDR entstanden weitere Initiativen von Frauenfriedensgruppen. Aber die
Frauen in Berlin waren leichter zu erreichen als die Frauen in Halle, Leipzig
Die Staatsgrenze lief mitten durch Berlin. Viele Menschen aus der
internationalen Friedenbewegung besuchten uns. Journalisten kamen und
Sympathisanten klopften an die Tür. Die meisten Treffen fanden in unseren Küchen
oder in meinem Atelier statt.
Nachdem Petra Kelly und Gert Bastian mit anderen Grünen auf dem Alexanderplatz
in Ostberlin für Frieden und Abrüstung demonstriert hatten, suchten wir den
Kontakt zu den Grünen, die gerade in den Bundestag eingezogen waren. Besonders
Petra Kelly war bis zu ihrem Tod eine gute Freundin und Verbündete. Es war
unwichtig aus welcher Gruppe jemand verhaftet wurde, sie protestierte immer als
eine der ersten. Ihren diplomatischen Status als Bundestagsabgeordnete nutzte
sie, um Bücher, Druckfarben und technische Geräte in die DDR zu bringen. Wir
wollten eine starke blockübergreifende Friedens- und Ökologiebewegung und
gemeinsam gegen Menschenrechtsverletzungen in der ganzen Welt vorgehen. Wir
wollten Menschen unterstützen, die Repressionen ausgesetzt waren auf beiden
Seiten des Eisernen Vorhangs. Innerhalb der westdeutschen Friedensbewegung und
der Grünen hatte Petra Kelly deshalb gegen Ideologen und Ignoranten zu kämpfen,
die die Menschenrechtsverletzungen in Osteuropa nicht wahrhaben wollten.
In Stasi-Haft: Die Angst und der Kampf um Würde
Am 12. Dezember 1983 wurde gegen Irena Kukutz und Jutta Seidel ein
Ermittlungsverfahren ohne Haft und gegen Ulrike Poppe und mich eines mit Haft
eingeleitet. Ulrike und ich kamen in das Untersuchungsgefängnis
Berlin-Hohenschönhausen. Nach starkem internationalen und auch nationalen
Protest wurden wir am 24. Januar 1984, zwei Tage vor Ulrikes 31.Geburtstag, aus
der Haft entlassen. Zu der Verhaftung war es nach einem Treffen mit Barbara
Einhorn gekommen, die der englischen Friedenbewegung angehörte und ein Buch über
die Situation der Frauen in der DDR und die unabhängigen Frauengruppen schreiben
wollte. Beim Grenzübertritt wurden Aufzeichnungen gefunden, die sie während des
Gespräches gemacht hatte. Sie wurde einige Tage inhaftiert und durfte bis 1989
nicht mehr in die DDR einreisen. In diesen sechs Wochen über Weihnachten und
Neujahr in Stasiuntersuchungshaft machte ich meine nachdrücklichsten
Erfahrungen. Mein Sohn war dreizehn Jahre alt. Ich rechnete mit unserer
Verurteilung, konnte mir gleichzeitig schwer vorstellen, Jahre hinter Gittern zu
verbringen. Ob ich das wohl durchgehalten hätte? Die sechs Wochen Einzelhaft
waren ein Kampf um die eigene Würde. Nicht zeigen wie schwer das Herz ist, aber
sich selbst beweisen, dass man noch einen Willen hatte. Schweigen lernen;
kämpfen, um Dinge, die unwichtig sind, aber die Möglichkeit boten sich
abzureagieren, z.B. eine Schere, um sich die Haare zu schneiden, keine Zigarette
annehmen, um wenigstens innere Freiheit zu dokumentieren. Das Wichtigste war,
dass da draußen Menschen waren, denen ich ganz und gar vertraute. Sie würden
alles tun, um uns frei zu bekommen und alles, um Anselm, meinem Sohn, das Leben
zu erleichtern.
Mir war klar, dass die DDR auf die Friedensbewegung im Westen keine Rücksicht
mehr zu nehmen brauchte, wenn die Nachrüstung beschlossen werden würde. Dann
konnte die DDR endlich wieder ihr wahres Gesicht zeigen und gegen die eigene
unabhängige Friedensbewegung vorgehen. Der Osten brauchte Ruhe, um als
Gegenmaßnahme zur Nachrüstung die SS-20-Raketen aufstellen zu können. Ich war
somit nicht überraschend verhaftet worden, sondern habe die drohende Verhaftung
geahnt und mich vorbereitet. Belastendes Material weggebracht, Briefe
geschrieben und versucht meine Angst in den Griff zu bekommen. Die Bücher, die
ich über Verfolgung, Haft und Isolation gelesen hatte, waren eine gute Schule.
Das Ziel der Herrschenden war immer das gleiche, ob in den Konzentrationslagern
des Dritten Reiches, im sibirischen GULAG, im Fußballstadion von Santiago de
Chile oder im Stasiknast Bautzen. Sie wollten ihre Gegner, die vermeintlichen
oder tatsächlichen, zerbrechen. Ihr Geist, ihre Menschenwürde, notfalls ihr
Leben, waren das Material, das erbarmungslos vernichtet werden musste. Man
konnte nicht viel dagegen setzen, nur sich selbst. Das Verhalten und die
Erfahrungen anderer Häftlinge waren deshalb besonders wichtig. Ich hatte zum
Beispiel die 1981 im Westen erschienene Biographie „Durch die Erde ein Riß“ des
Schriftstellers Erich Loest gelsen, der von 1958 bis 1964 in politischer Haft in
Bautzen saß. Er schrieb, dass er jeden Tag 10.000 Schritte in seiner Zelle gegen
die Verzweiflung anlief. Die lief ich auch - und führte stille Gespräche mit ihm
oder sang ein Biermannlied.
Die 1978 im Westen erschienenen „Vernehmungsprotokolle“ des Schriftstellers
Jürgen Fuchs, der wegen seines Protests gegen die Ausbürgerung von Biermann
1976/77 neun Monate im Stasi-Knast Hohenschönhausen in U-Haft saß, hatten mich
auf die Kälte, Härte, Einsamkeit und Verzweiflung während einer
Untersuchungshaft durch das MfS vorbereitet. Er beschrieb auch die perfiden
Methoden des MfS, den Inhaftierten durch einen eingeschleusten Denunzianten zum
Sprechen zu bringen. Ich hatte deshalb große Angst meine Einzelzelle verlassen
zu müssen. In der Silvesternacht 1983 waren plötzlich auf unserem sonst
totenstillen Gang die Schreie eines Mädchens zu hören. Nach etwa zwei Stunden
erschien in meiner Zelle ein Wachhabender, der mich zu dem Direktor des
Gefängnisses brachte. Dieser bat mich, mich um das Mädchen zu kümmern, da sie
einen Nervenzusammenbruch hätte und ein Arzt nicht zu erreichen sei. Mein Herz
schlug bis in den Hals. Was sollte ich tun? Gab es dieses Mädchen in einer
Nachbarzelle oder war es der Versuch mich mit einer Zuträgerin zusammenzulegen?
Schließlich weigerte ich mich mit der Begründung, dass nicht ich das Mädchen
verhaftet und in diese Situation gebracht hätte, um sie zu beruhigen, brauche
man sie nur frei zu lassen. Manchmal höre ich noch heute die Schreie und bin
nicht sicher, ob meine Entscheidung richtig war. Wenngleich fast alle
Entscheidungen, die ich aus dem „Bauch“ getroffen habe, nie große Fehler waren.
Ein anderes Erlebnis in Hohenschönhausen hat mich ebenfalls stark beeindruckt.
Nachdem mein Vernehmer mit seinen Ermittlungen nicht weiter kam, verstärkte er
seine Drohungen. Wenn ich nicht endlich sprechen würde und kooperativ wäre, sähe
es schlecht für mich aus, immerhin hätte ich bei Landesverrat, Spionage usw.
eine Haftstrafe von bis zu 12 Jahren zu erwarten. Wieder half mir ein
Geistesblitz. „Gut, 12 Jahre, aber ich komme hier wieder raus, Sie nie“,
antwortete ich spontan. Seine Reaktion war verblüffend und bestätigte mir, dass
ich ins Schwarze getroffen hatte. Den Gedanken hatte er auch schon gehabt.
Wutentbrannt ließ er mich sofort in meine Zelle zurückbringen. 1990 bei der
Einsicht in meine Stasiakten dachte ich wieder an ihn. Die Mitarbeiter des
gewaltigen Stasiapparates haben nicht nur uns zerstören wollen, sie sind auch
selbst als Menschen zerstört worden. Auch sie wollten erlöst sein, denn nur so
es lässt es sich erklären, dass sie 1989 so schnell aufgegeben haben. Vielleicht
bin ich auch deshalb kaum Frauen bei der Staatssicherheit begegnet. Sie haben
ein besseres Gespür für das, was sie zerstört.
In Stockholm fand Mitte Januar 1984 die „Konferenz für vertrauensbildende
Maßnahmen und Abrüstung in Europa“ statt. Während dieses Treffens kam es zu
einem Offenen Brief des Verbandes aller Friedenorganisationen Europas (IPPC) an
Erich Honecker, in dem unsere Freilassung und die der anderen in der DDR
inhaftierten Friedensfreunde gefordert wurden. Neben der bis dahin
stattgefundenen breiten Solidarität war dieser Brief sicher ausschlaggebend für
unsere Entlassung aus der Haft. Am 24. Januar wurden die Ermittlungsverfahren
gegen uns eingestellt. Mit dieser politischen Entscheidung wollte die
Staatsmacht das ramponierte Ansehen der DDR wiederherstellen. Während unserer
Haft gab es Differenzen in der Frauengruppe. Einige waren nicht damit
einverstanden, dass sie über das geplante Buch von Barbara Einhorn nicht
informiert waren und bemängelten unseren „Führungsstil“. Ich wollte keine
Untergrundkämpferin sein, aber es war mir klar, dass man in der DDR politisch
nur bedingt demokratisch handeln konnte. Vieles musste im Verborgenen geschehen,
damit es überhaupt geschah. Das bedeutete, nicht jede konnte alles wissen. Die
Gefahr der Geschwätzigkeit oder des Verrats gab es immer. Tatsächlich war die
Stasi über unsere Meinungsverschiedenheiten informiert und wollte sie vertiefen.
Eine wichtige Rolle spielte dabei die in unsere Gruppe eingeschleuste Monika
Haeger (IM Karin Lenz). Trotz einiger Zersetzungsmaßnahmen wie z.B. einer
anonymen Briefaktion ist dies nicht gelungen. Die Frauen beschlossen weiterhin
als Gruppe zu arbeiten. Einige Frauen zogen sich allerdings zurück, andere,
gerade sehr aktive Frauen reisten in den Westen aus, weil sie der psychischen
Belastung nicht mehr Stand hielten, an keine Veränderung mehr glaubten, sich
ausgebrannt fühlten. Allerdings gab es auch Frauen, die durch die Mitarbeit in
den Fraueninitiativen nur ihrem Ausreiseantrag Nachdruck zu verleihen wollten.
„Wir müssen schreien, sonst hört man uns nicht!“
Das Jahr 1984 hatte bedrückend begonnen, wurde aber nicht weniger quirlig und
anstrengend als das vergangene. Wir beteiligten uns an der Friedenswerkstatt und
an Friedensseminaren. Wir initiierten oder unterschrieben internationale
Aufrufe, hatten etliche Gespräche mit Kirchenvertretern, in denen wir um
Unterstützung für einzelne Projekte baten und es gab ein erstes DDR-weites
Treffen der Gruppen „Frauen für den Frieden“ in Halle, dem bis 1989 jedes Jahr
in anderen Städten weitere folgten. Letztlich gab es etwa einhundert Gruppen. Es
ist unmöglich alle Aktivitäten aufzuzählen. Besonders wichtig für mich war unser
erstes „Politische Nachtgebet“ am 22. Mai 1984 in der Berliner
Auferstehungskirche, das wir mit der Pastorin Christa Sengespeik vorbereiteten
und durchführten. Die Vorbereitung war genauso wichtig wie das Nachtgebet
selbst. Der Rauhreif, der sich in den letzten Monaten auf uns gelegt hatte,
verschwand. Wir fanden zu unserer alten Leichtigkeit und Kreativität zurück.
„Kommt, lasst uns klagen, es ist an der Zeit. Wir müssen schreien, sonst hört
man uns nicht“ war unser Motto für diesen Abend. In der Kirche waren viele
Menschen. Wir hatten Angst vor dem Zittern unserer Knie und einige zogen lange
Röcke an, um dies zu verbergen. Aber wir hatten keine Angst unsere Gedanken und
Gefühle auszusprechen. Wir äußerten unsere Meinung in einem öffentlichen Raum
und ermunterten andere zum Mitreden. In einem Interview mit Irena Kukutz
erinnert sich eine der Teilnehmerinnen, Elke Westendorff, so daran:
„Die Pastorin hielt eine bewegende Predigt. Sie sprach über die trojanische
Seherin Kassandra. Was sie sagte, war eine Art Aufruf, endlich zu handelnden
Subjekten zu werden, die eigenen Position zu finden und sie selbst-bewusst zu
vertreten: Frauen, die sich trauen, etwas zu bewegen.
Die meisten der Anwesenden standen biblischen Inhalten nicht gerade nahe.
Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass das Gesagte aufgesogen wurde. Der zentrale
Text des Gottesdienstes, die Geschichte von der „Speisung der 5000“ traf den
Nerv unserer Stimmung in diesen Tagen. Mit fünf Broten und zwei Fischen ein
Wunder zu vollbringen, schien nicht mehr unmöglich. Denn unser Mut und unsere
Hoffnung - unsere Lebens-Mittel - wurden größer, je größer die Zahl derer wurde,
mit denen wir sie teilten. Wir waren da, und wir waren viele. Die Form des
Gottesdienstes bot uns Schutz und gab uns Raum: Fürbittengebete, Kerzenanzünden,
einander bei der Handnehmen, einander ins Gesichtsehen. Wir hatten Formen
gefunden, unserer Angst zu begegnen und unserer Hoffnung wenigstens in den
Ritualen einer liturgischen Feier Ausdruck zu geben. Wir hatten uns zum Singen
und Beten versammelt, um nicht mehr zu schweigen. Frauen wagten sich nach vorn,
stellten sich vor, berichteten über ihre Erfahrungen. Ich sang in diesem
Gottesdienst und spielte dazu Gitarre. Unter anderem sang ich einen Text, den
Karl Marx 1836, als er achtzehn Jahre alt war schrieb. Ich vertonte ihn eigens
für diesen Abend: „Darum laßt uns alles wagen, nimmer rasten, nimmer ruh’n, Nur
nicht dumpf so gar nichts sagen und so gar nichts woll’n und tun, Nur nicht
brütend hingegangen, ängstlich in dem nied’ren Joch. Denn das Sehnen und
Verlangen und die Tat, sie bleibt uns doch.“
*
In der MfS-Information vom 30.05.84 liest sich das so:
“An der Veranstaltung nahmen ca. 350 Personen, in der Mehrzahl Frauen im Alter
von 20 bis unter 40 Jahren teil….
In einer Reihe von religiös verbrämten Beiträgen wurden insbesondere die
Frieden-, Verteidigung- und Sicherheitspolitik sowie die Jugend- und
Umweltschutz der DDR verleumdet und das Gesundheitswesen verzerrt dargestellt.
Der Einsatz raffinierter gestalterischer Mittel zielte darauf ab, unter den
Teilnehmern eine starke emotionale Wirkung auszulösen. Durch ein derartiges
Vorgehen wurde eine solche Atmosphäre erzeugt, dass alle Anwesenden selbst
offene Angriffe gegen den Staat widerspruchslos hinnahmen bzw. Beifall
spendeten….
Die in der Mehrzahl vorbereiteten Beiträge richteten sich sämtlich gegen
Grundlagen der sozialistischen Gesellschaftsordnung, waren in der Regel
gekennzeichnet durch pessimistische Grundaussagen und trugen unterschwellig den
Charakter von „Forderungen“.“
*
Ab 1984 wurde die Thematik der unabhängigen DDR-Friedensbewegung breiter. Auch
die der Frauengruppe. Sie mischte sich ein, wann und wo sich ein Anlass bot.
Außerdem nahm sie an den bereits traditionellen Veranstaltungen der Kirche zur
Friedensproblematik teil. Sie wollte Kontakte nach Osteuropa aufbauen und wurde
mit Reiseverboten bestraft. 1986 initiierte die Frauengruppe eine
Unterschriftenaktion gegen den Plan der DDR-Regierung, über den Jüdischen
Friedhof in Berlin-Weißensee eine Autostrasse zu bauen. Ruth Kibelka erinnert
sich (Interview mit Irena Kukutz):
„Eine wichtige Aktion war auch die Sache mit dem Jüdischen Friedhof, 1986. Wir
hatten erfahren hatten, dass eine Schnellstraße direkt über den Friedhof, als
„Protokoll-Strecke“ für Erich Honecker gebaut werden sollte und Christa
Sengespeick konnte das auch bestätigen, weil gegenüber von diesem Friedhof, der
Friedhof ihrer Gemeinde lag. Dort hatte man schon mit den Umbettungen
angefangen, was sehr ungewöhnlich war, weil es sich um Bombentote handelte, die
eigentlich als Opfer des zweiten Weltkrieges, nicht umgebettet werden konnten.
Und wir haben uns dann kundig gemacht und wussten, dass der Jüdische Friedhof,
der vor hundert Jahren [eingeweiht 1880] angelegt worden war...dass man schon
Anfang der 20er Jahre beschlossen hatte eine große Ausfallmagistrale zu bauen
und zwar durch den Jüdischen Friedhof und damals hatte die Jüdische Gemeinde
diese Straßentrasse bereits verkauft. Das heißt, also rechtlich gab es überhaupt
keine Handhabe. Das einzige womit man agieren konnte war moralisch,
denkmalpflegerisch usw... und man merkte sehr schnell, dass man da wieder an ein
heißes Eisen geriet. Das war im Frühjahr und dann stand also die
Friedenswerkstatt 1986 wieder vor der Tür und überall wo man hinging, da biss
man auf Granit, weil zum Beispiel die Jüdische Gemeinde in Ostberlin, die ja nur
noch 184 Mitglieder hatte und einen Alterdurchschnitt von 74 bis 78 Jahren,
mochte da nichts unternehmen [hatte dem Bau zugestimmt] und dann merkte man aber
schnell, dass andere Personen davon gar nichts wussten. Man musste einfach
Öffentlichkeitsarbeit betreiben, mehr ließ sich da nicht machen. Und wir haben
gesagt, wir benutzen die Friedenwerkstatt und unseren Stand dazu, um über das
Projekt zu informieren. Ich hab dieses Vorhaben bei der Vorbereitung dieser
Friedenswerkstatt, an der mehrere Mitglieder der Kirchenleitung teilnahmen
vorgestellt, wo ich dann so Bemerkungen zu hören bekommen habe, ob ich jüdische
Vorfahren hätte und was uns das überhaupt anginge. Und das fand ich also
wirklich unter aller Kritik... also da fehlten mir echt die Worte, fehlen sie
mir heute noch. Und dann haben wir uns überlegt, dass wir dazu nur eine
Meinungsumfrage machen können, weil Unterschriften sammeln war streng verboten
Und ich weiß noch, dass der Generalsuperintendent Günter Krusche deswegen einen
Wutanfall kriegte, der wollte uns das untersagen. Und dann habe ich gesagt, das
ist keine Unterschriftensammlung, das ist eine Meinungsumfrage, das sei ja wohl
nicht verboten und dann wollte er den Rechtsanwalt Schnur [IM „Torsten“] holen,
der da auch auf dem Kirchengelände Bausoldaten-Beratung machte, also vor dem
Hintergrund der heutigen Geschichte super pikant, ja da kam also der
Rechtsanwalt Schnur, ließ sich das zeigen, ich glaub wir hatten auch noch so ein
Zettelchen, wo dieser Text drauf stand. Er sagt: „Ganz klar, Herr Krusche, das
ist eine Meinungsumfrage und ich kann das nur begrüßen.“ Und das war uns
natürlich ein inneres Hallensportfest. Wir haben dann auf der Friedenswerkstatt
auch sehr viel Zuspruch bekommen und das Lustigste, fällt mir ein, dass dann
jemand schrieb: „Man baut ja auch keine Autobahn durch die Opferstätte der
Sozialisten in Friedrichsfelde.“ Es waren auch so witzige Bemerkungen dabei. Ja,
was mich in dem Vorfeld dann auch noch mal sehr tief getroffen hat, das war die
Meinung des Stadtjugendpfarrers Hülsemann der sagte: „Ach, ihr denkt wohl, ihr
könnt da etwas bewirken, da könnt ihr gar nichts machen.“ Wir haben dann auch
noch sehr viele andere Personen angerufen, von Stefan Heym bis Galinski, die
davon alle gar nichts wussten. Natürlich war das auch sehr wichtig, weil
West-Berlin ja keinen Jüdischen Friedhof hatte und die Mitglieder der Jüdischen
Gemeinde West-Berlin wurden ja auf diesem Friedhof auch beigesetzt [bis 1955].
Insofern ging das auch alle etwas an. Ja, wir haben dann also diese Eingabe
geschrieben, diese Zettel dazu gepackt und abgeschickt [persönlich abgegeben
beim Oberbürgermeister Krack]. Und dann war, glaube ich erst einmal Schweigen im
Wald, wir haben ja auch nie eine Antwort bekommen….
Seltsamerweise gab es wegen des Jüdischen Friedhofs auch keine Gespräche im
Betrieb, keine Maßregelung und dann haben wir eigentlich erst im September aus
der Zeitung erfahren, dass Erich Honecker mit Vertretern der Jüdischen Gemeinde
eine Begegnung hatte und dass den Vertretern der Jüdischen Gemeinde dieser
Streifen Land zurückerstattet wurde, womit die Sache ein für alle Mal aus der
Welt geschaffen war. Und ich bin dann zu Wolfgang Hülsemann gegangen und hab ihm
das unter die Nase gehalten und da sagt er: „Ach, das war doch sowieso klar, da
bildet euch bloß nicht ein, dass ihr da was gemacht habt.“ Das war mir noch mal
eine, ja eine sehr wichtige Geschichte. Auf der einen Seite haben die Leute
gesagt, ach so, seit wann interessiert ihr euch für Juden, demnächst seit ihr
wohl für Schwule da oder so, also wir hatten genau den Finger in so ein
Wespennest gestochen. Wir haben sehr deutlich, auch an dem Tag, als wir an dem
Stand waren gemerkt, wie wenig diese ganze NS-Zeit aufgearbeitet ist und auf der
anderen Seite, war das natürlich eine moralische Verpflichtung, dass man nicht
zugucken darf, ganz egal was passiert, dritterseits auch so eine Befriedigung,
man kann etwas machen...“
Es entstanden auch neue Initiativen und Gruppen, die andere Themen in den
Vordergrund stellten. Ende 1985 sollte in Berlin-Treptow ein
Menschenrechtsseminar unabhängiger Gruppen stattfinden, das auf staatlichen
Druck durch die Kirchenleitung verhindert wurde. Daraufhin gründete sich im
Januar 1986 die „Initiative Frieden und Menschenrechte“. Ich selbst habe die
Frauengruppe nicht verlassen und weiterhin an Aktionen und Veranstaltungen
teilgenommen, mein Schwerpunkt lag jedoch seit der Gründung der „Initiative
Frieden und Menschenrechte“ dort. Durch die Repressalien, Festnahmen,
Hausdurchsuchungen und Verhaftungen in den letzten Jahren wurde der unlösbare
Zusammenhang zwischen Frieden und Menschenrechten immer deutlicher. Wer Frieden
nach außen will, muss ihn erst einmal gegen die eigene Bevölkerung üben. Ein
Staat, der jede frei geäußerte politische Meinung brutal unterdrückt und jede
politisch selbstständige Initiative der Bürger im Keim erstickt, verachtet und
misshandelt die Menschenrechte. Dass die DDR keine Absicht hatte, die
Menschenrechte einzuhalten, belegen die politischen Paragraphen des
Strafgesetzbuches der DDR.
Die „Initiative Frieden und Menschenrechte“ bekannte sich zur offenen Opposition
unter dem ausdrücklichen Verzicht einer institutionellen Anbindung an die
Kirche. Die Gründungsmitglieder hatten die Erfahrung gemacht, dass das
„schützende Dach der Kirche“ auch erdrückend schwer sein konnte. Die Arbeit der
„Initiative“ orientierte sich an der Idee der Zivilgesellschaft und den
mittelosteuropäischen Demokratiebewegungen. Die Mitglieder der Initiative
scheuten nicht davor zurück, ihre Ideen auch über westliche Medien zu verbreiten
und die illegal im Untergrund produzierte Zeitung „Grenzfall“ herauszugeben, nur
so war eine SED-kritische Gegenöffentlichkeit herzustellen. Die engen
Spielräume, der DDR-Gesetze wurden genutzt. In Eingaben und Initiativen für
Volksbefragungen wurde eine Gegenmeinung zur staatlichen Politik aufgebaut. In
einer Meinungsumfrage unter Ausreiseantragstellern im Umfeld der Gruppe wurde
die „Ausreise“ zum ersten Mal in der DDR öffentlich analysiert. Aber ohne die
positiven und negativen Erfahrungen, die ich in der Frauengruppe gemacht hatte,
wäre meine Geschichte ab 1986 bestimmt eine andere. Diese Erfahrungen waren
wertvoll und inspirierend von der Gründung der „Initiative Frieden und
Menschenrechte“ bis hin zur Gründung des „NEUEN FORUM“ im Herbst 89. Die Frauen
haben nicht nur gelernt zu sprechen, sondern auch geschickt die staatlichen
Machtstrukturen zu unterlaufen.
Es waren vor allem Frauen, die hinter mir standen
Meine zweite Verhaftung 1988, das halbe Jahr unfreiwilligen Aufenthalts in
England und die der DDR-Staatsmacht abgetrotzte Rückkehr in die DDR im August 88
sind ohne die Unterstützung von Frauen in Ost und West undenkbar. Sie haben mir
geholfen, standzuhalten. In dieser Zeit spielte das Thema Ausreise eine immer
größere Rolle. Nicht wenige Freunde aus der unabhängigen Friedensbewegung
glaubten, dass ich weder in die DDR zurückkommen wollte noch würde. Die Zahl der
Antragsteller auf Ausreise aus der DDR hatte sich sprunghaft erhöht. Die
Antragsteller hatten begonnen sich zu organisieren, aber immer noch gab es in
den Gruppen viele, die glaubten, dass der Weg in den Westen über die Mitarbeit
in einer der vielen Frieden-, Menschenrechts- oder Ökologiegruppen kürzer wäre.
Es war also nur verständlich, wenn mein Wunsch nach Rückkehr für viele
unglaubwürdig war. Warum haben mir mehr Frauen als Männer geglaubt? Vielleicht,
weil nur sie wussten, was wir in den letzten Jahren investiert und riskiert
hatten. Jede wusste wie viel Zeit und Energie, die den Kindern, dem Beruf, der
Familie, den Frauen selbst fehlte, die Mitarbeit in der unabhängigen
Friedensbewegung gekostet hatte. Ich konnte nicht einfach weggehen, ohne dass
ich auch etwas erreicht hatte. Der Preis war zu hoch gewesen, als dass ich
einfach die Zelte hinter mir abrechen konnte. Mit zu vielen Menschen hatten wir
lebenswichtige Zukunftsfragen diskutiert, sie aufgefordert, sich uns
anzuschließen.
Wir hatten viele andere zum Risiko ermuntert. Ich konnte deshalb nicht, ohne
mich als Verräterin zu fühlen, aus der Ostgegenwart aussteigen, um in der
Westgegenwart zu landen. Viele Frauen, nicht nur die aus unserer Frauengruppe,
sondern auch viele aus dem Westen, haben das verstanden. Frauen aus dem Osten
haben sich während meiner Abwesenheit um meine Wohnung gekümmert, Briefe
geschrieben, telefonierten und taten alles, um unsere Wiedereinreise zu
erreichen. Viele Frauen aus dem Westen, vor allem Petra Kelly und Birgit Voigt
von den Grünen, haben uns politisch, ideell und materiell unterstützt. Bei
Birgit habe ich zwei Monate gewohnt, sie fuhr fast jede Woche mit mir nach Bonn,
um mich bei vielen Gesprächen zu begleiten. Petra hat wichtige Gesprächskontakte
zu Politikern wie Oskar Lafontaine, Willy Brandt oder zu den verschiedenen
Fraktionen im Bundestag, zu Journalisten, Künstlern und vielen anderen Menschen
hergestellt, denn wir brauchten Solidarität, um unserem Anliegen, der
Wiedereinreise in die DDR, Nachdruck zu verleihen. Sie hat alles
Menschenmögliche getan, um die Öffentlichkeit für unser Problem zu
sensibilisieren, was ihr in der eigenen Fraktion an schwersten fiel, denn für
viele Grüne war die DDR das gelobte Land, in dem es keine
Menschenrechtsverletzungen und keine Gefängnisse gab. Wer da rausflog war selbst
daran schuld. Gleichzeitig organisierte sie einen Sprachkurs in England für
mich, besorgte Farben und Papier und zeigte mir die Museen in Paris. Natürlich
haben auch Männer sich für uns stark gemacht. Aber für sie war es eine
„politische Aufgabe“, die zu lösen war, für die Frauen vor allem eine
menschliche. Vielleicht war deshalb ihre Hilfe teilnehmender und mitfühlender.
Am 3. August 1988 kehrte ich in die DDR zurück.
Die letzte Frauenweihnachtsfeier fand 1988 statt. Bis dahin gab es zwar immer
wieder gemeinsame Aktionen und Veranstaltungen, die Treffen waren aber schon
längst nicht mehr so häufig und intensiv wie in den Jahren bis 1986.
Die Berliner Frauen waren einerseits erschöpft durch die Intensität ihres
Engagements innerhalb der unabhängigen Friedensbewegung. Das
„Fünf-Minuten-vor-Zwölf-Gefühl“ erzeugte einen enormen Problemdruck.
Andererseits waren sie deprimiert, weil weiterhin wichtige Frauen, wie die
Pastorin Christa Sengespeik, in den Westen ausgereist waren, Jede Frau
hinterließ eine Lücke. Andere Frauen hatten sich zurückgezogen, wieder andere
sich frauenspezifischen Themen zugewandt oder einer der neu entstandenen Gruppen
angeschlossen. Ich habe das nie bedauert, sondern immer als ein positives
Ergebnis unserer Arbeit gesehen. Dass Interessen auch wieder auseinander gehen
ist normal. Wir waren erwachsen geworden und jede von uns hatte ihren eigenen
Weg gefunden. Aber keine war dieselbe wie am Anfang dieses Weges. Aus dem
Protest einiger Frauen gegen das neue Wehrdienstgesetz hatte sich in kurzer Zeit
ein überregionales Netzwerk von unabhängigen Frauenfriedensgruppen entwickelt.
Aus dem ZOV (Zentral Operativer Vorgang) „Wespen“, in dem die Frauen von der
Staatssicherheit seit Juni 1985 bearbeitet wurden, geht hervor, dass es 1985
DDR-weit 14 Gruppen mit etwa 150 Mitgliedern in den Städten Berlin, Leipzig,
Halle, Magdeburg, Erfurt, Weimar, Jena, Dresden, Karl-Marx-Stadt, Gera,
Greifswald, Weißenfels, Schwerin und Eisenach gegeben hat.
Besonders mutig fühlte sich keine von uns
Manchmal frage ich mich, wie ist dieser oder jener Mensch das geworden, was er
ist. Die Lebensgeschichte erklärt einiges, aber oft nicht alles. Die Biographien
vieler Menschen ähneln sich und trotzdem sind die Menschen sehr verschieden.
Jede Frau, die in einer der unabhängigen Gruppen „Frauen für den Frieden“
mitmachte, hatte ihre eigene Geschichte und ihre eigenen Motive. Alle zusammen
wollten, dass ihre Ängste, ihre Meinungen zu Fragen von Gewalt, Krieg und
Frieden nicht kriminalisiert, sondern ernst genommen und gehört werden. Das war
unser gemeinsames Anliegen. Besonders mutig fühlte sich keine von uns, eher
wollten wir schlau sein wie die Schlangen. Was uns auch manchmal gelungen ist.
Mut war nie ein Thema unter uns. Wir akzeptierten, dass jede Frau selbst
entschied, welches Risiko sie einging oder nicht, an welcher Aktion sie sich
beteiligte oder was sie unterschrieb. Es gab natürlich auch heftige Diskussionen
und Auseinandersetzungen unter uns. Eine Frage, die immer wieder zu
Meinungsverschiedenheiten führte, war, wie gehen wir mit der Öffentlichkeit um.
Nutzen wir auch die westlichen Medien? Denn fast jeder in der DDR sah die
Tagesschau, aber nur wenige lasen die Kirchenblättchen. Meistens verhielten wir
uns auch in dieser Frage individuell. Wer glaubte, dass Kontakte zu
Westjournalisten gefährlich waren, vermied sie, wer glaubte, dass sie
unvermeidbar waren, um die Öffentlichkeit zu erreichen, suchte sie.
Mut wächst meist ohne dass man es bemerkt. Wenn er in einer existentiellen
Situation plötzlich da ist und einem die Freiheit zu selbst bestimmtem Handeln
gibt, ist man sehr überrascht. Die Gedanken, die in den schlaflosen Nächten
kommen und sich nicht vertreiben lassen, sind ein starker Impuls für späteres
Handeln. Man möchte etwas tun. Aber was? Wenn man in einer solchen Situation
Menschen kennen lernt, die ähnlich denken und fühlen, dann ist man aufgehoben
und stark in der Gemeinschaft. Die Frauen, die sich in den unabhängigen
Friedensgruppen engagierten, waren überwiegend zwischen 25 und 40 Jahre alt. Die
meisten hatten Familie. Obwohl viele allein erziehende Mütter dabei waren, hielt
sie das nicht ab, sich dem Risiko einer Verhaftung auszusetzen. Sie wagten
alles, weil sie überzeugt waren, dass nur ein „Frieden ohne Waffen“ Frieden
schaffen würde. Diese Einsicht und ihr Gewissen ließ sie verantwortlich handeln.
Sie fanden den Mut zur Wahrhaftigkeit, offenbarten ihr Gesicht, zeigten wer sie
waren, woher sie kamen und was sie wollten. Nichts entlarvte die offiziellen
Friedensbeteuerungen der DDR mehr als Propaganda und bloßes Gerede wie die
staatlichen Reaktionen auf die unabhängige Friedensbewegung. Besonderen Respekt
verdienen die Frauen, die sich einfach solidarisch verhielten, wenn eine Frau
wegen ihrer politischen Haltung und Mitgliedschaft in einer der Friedensgruppen
besonders malträtiert wurde. Diese Frauen haben keiner der Gruppen angehört,
aber ihre Sympathie für die „Frauen für den Frieden“ nicht verschwiegen und
öffentlich bekundet.
Annemirl Bauer: Erinnerung an eine Unbeugsame
Annemirl Bauer, Malerin und wie ich, Mitglied im Verband Bildender Künstler, war
eine solche Frau. Viele Künstler gerieten ins Visier der Stasi, weil sie als
Dissidenten im Land oder im Westen bekannt waren. Die Zahl derjenigen, die im
Stillen wirkten und in der sozialistischen Kunst- und Kulturöffentlichkeit
weitgehend unbekannt waren, aber trotzdem nicht schwiegen, wenn sie Unrecht und
Willkür sahen, ist weitgehend unbekannt. Eine von ihnen war Annemirl Bauer. Sie
machte kein Geheimnis daraus, dass sie zweimal als IM angeworben werden sollte,
was sie jedes Mal konsequent abgelehnt hat. Immer wieder kritisierte sie bei
Treffen des Verbands Bildender Künstler die ungerechte Vergabe von Aufträgen,
die willkürliche Praxis für die Erteilung von Reisegenehmigungen für bildende
Künstler in das nichtsozialistische Ausland und die angepasste Juryarbeit von
Kollegen bei Ausstellungen. Die Eingabe der Frauen gegen das neue
Wehrdienstgesetz hatten auch einige meiner Kolleginnen unterzeichnet. Auch mit
diesen wurden Gespräche im Verband geführt, um sie zur Rücknahme ihrer
Unterschrift zu bewegen. Ich selbst war 1982 dort Mitglied der Berliner
Sektionsleitung Malerei. Da ich als eine „Drahtzieherin“ der Eingabe galt,
sollte ich aus dem Verband ausgeschlossen werden, was einem Berufsverbot
gleichgekommen wäre. Nur meine Verbindungen in den Westen bewahrten mich davor,
ich wurde lediglich aus der Sektionsleitung „abgewählt“. Während mehrerer
Verbandssitzungen setzte sich besonders Annemirl Bauer für mich ein. 1984
forderte sie sogar wieder meine Aufstellung als Kandidatin für die
Sektionsleitung. Während mich meine Kontakte zu Petra Kelly und den Grünen vor
einem Verbandsausschluss bewahrten, geriet Annemirl Bauer immer mehr in das
Visier der Stasi. In mehreren Eingaben forderte sie Reisefreiheit für alle
DDR-Bürger und erhob immer wieder in dieser Frage ihre Stimme. An ihr sollte ein
Exempel statuiert werden, da der Verband einen „politischen Erfolg“ brauchte,
denn ähnlich dachten viele Verbandsmitglieder. Dies war besonders infam, weil
sie weder die Rückendeckung von Freunden im Westen noch den Halt in einer
Gruppe, wie der „Frauen für den Frieden“ hatte. In ihrer Kunst bot sie
stilistisch und inhaltlich kaum Angriffsmöglichkeiten. Durch ihre angeborene
Schwerhörigkeit war sie zusätzlich beeinträchtigt und konnte sich schlecht
verteidigen, da sie nicht alles verstand. Trotzdem wurde sie zeitweise aus dem
Verband ausgeschlossen, ihr wurden beruflich und privat alle nur möglichen
Steine in den Weg gelegt, ihre Arbeitsräume wurden gekündigt, sie erhielt
fingierte Steuerrückzahlungsforderungen. 1986 wurde sie zwar nach heftigem Kampf
wieder in den Verband aufgenommen, aber die „Zersetzungsmaßnahmen“ wurden nicht
eingestellt. Eine Räumungsklage und Einbrüche in Wohnung und Arbeitsräume ließen
sie nicht zur Ruhe kommen und zermürbten ihre Kreativität. Annemirl Bauer war
eine Einzelkämpferin. Sie steht für viele, die den Mut fanden, staatliche
Entscheidungen in Frage zu stellen und Reisefreiheit als Menschenrecht
einklagten. Den Fall der Mauer hat sie nicht mehr erlebt. Im Sommer 1989 starb
sie an Krebs.
*
„Möglicherweise, ist das Besondere des Mutes der Frauen, dass sie ohne auf das
Ergebnis zu schauen, handelten, als es für sie notwendig – also Not-wendend –
war. Sie waren schließlich nicht ein Teil einer politischen Männerkultur, in der
vorwiegend aus der Gewissheit der Überlegenheit kalkulierend gehandelt wird und
im Fall der Unterlegenheit ein ganzes Arsenal von Ausreden parat steht“.
(Vortrag des Berliner Theologen Ehrhart Neubert)
*
Erst, wenn das Geschehen der Geschichte angehört, werden die Knie weich. Sören
Kierkegaard schrieb über Helden:
„Wenn auch der Erfolg die ganze Welt erfreuen kann, dem Helden kann er nicht
helfen; denn den Erfolg bekam er erst zu wissen, als alles vorbei war; und nicht
dadurch wurde er ein Held, sondern dadurch, dass er anfing.“ (Kierkegaard,
Sören: Religion der Tat, Leipzig 1911, S.200).
Woher kam der Mut von den Frauen in der Opposition?
Ich habe immer Frauenmut bewundert. Meine kleine Schwägerin Heidi, die sich ihr
ganzes Leben durch die DDR-Realität gebissen hat, was hat sie stark gemacht?
Oder Katja Havemann, die Robert zehn Jahre begleitete durch Bespitzelung und
Repression, während der Verhaftung von Jürgen Fuchs, der damals in seinem Haus
in Grünheide bei Berlinwohnte, während der Ausweisung Wolf Biermanns, der
Roberts bester Freund war, während des Hausarrestes und der Zeit danach? Oder
Irena Kukutz, die in der Frauengruppe mitarbeitete und trotzdem den Kontakt zu
ihrem Vater, der Mitarbeiter der Staatssicherheit war, nicht verlieren wollte?
Woher hatte sie die Kraft für diesen Spagat? Fast bei jeder Frau stellt sich die
Frage: Woher kam die Kraft, woher kam der Mut?
Repressionen gegen Frauen gab es mehr als genug. Die Liste reicht von
Bespitzelungen unter Freundinnen, sogar Eheleuten über Zersetzungsmaßnahmen bis
hin zu Ausweisungen, Reise-, Berufsverbote, vorübergehenden Festnahmen und
Verhaftungen. Die Folgen unseres Engagements waren absehbar, aber wir haben sie
oft weggelacht. Vielleicht war es auch das Lachen, das Kraft gab. Selbst bei
Festnahmen verhielten sich Frauen anders als Männer. Sie waren weniger
aggressiv, wollten nicht mutig wie die Männer sein, sie verhielten sich
pragmatischer, nervten die Vernehmer, indem sie immer wieder darauf pochten,
jetzt nach Hause zu müssen, um die Kinder vom Kindergarten abzuholen. Frauen
sahen in ihren Bedrängern nicht nur die überlegenen Konkurrenten, sondern auch
aufgeblasene und schwache Männer. Angelika Schön protokollierte aus einem Verhör
an einem Sonntag 1988: „Er hatte Schnupfen und gehörte eigentlich ins Bett, das
sagte ich ihm auch. Im Verhör sang sie an heiklen Stellen plötzlich
Kirchenlieder, um sich ein wenig Luft zum Nachdenken zu verschaffen. Sie sang
das Kirchenlied „Großer Gott wir loben dich“, und begründete das mit „Jetzt ist
eigentlich Gottesdienst.“ Ich selbst bestand bei meiner Verhaftung 1988 darauf,
dass ich unbedingt meine Strümpfe und meine Unterhose waschen müsse, weil es
weit nach Mitternacht wäre und wohl klar sei, dass ich hier so schnell nicht
herauskommen würde, ich aber jeden Tag neue Strümpfe anzöge. Zu meiner
Überraschung durfte ich das auch. Die Art und Weise, wie Frauen verletzt worden
sind, gerade weil sie Mutterwitz und eine größere Leichtigkeit im Umgang mit den
Vernehmern hatten, weil sie pragmatischer, entkrampfter waren als Männer, ist
noch zu untersuchen. Es hätte natürlich alles viel schlimmer kommen können,
andere haben für ein paar Witze Jahre hinter Gittern verbringen müssen. Für
einen Fluchtversuch wurde eine Freundin vier Jahre in Burg Hoheneck inhaftiert.
Berlin-Hohenschönhausen, Magdalenenstraße, Hoheneck, Bautzen, Brandenburg,
Torgau, der „Rote Ochse“ in Halle, die „Runde Ecke“ in Leipzig…, die Möglichkeit
in einem dieser Gefängnisse für Jahre zu verschwinden war überaus groß. Aber
diese bittere Erfahrung ist uns erspart geblieben.
Wir wollten eine Gegenmacht von unten sein
Die Verletzungen, die wir trotzdem erlitten haben, werden wahrscheinlich erst
sichtbar, wenn man unsere Lebenswege nach 1989 genauer betrachtet. Die Frauen
sind heute in den unterschiedlichsten Positionen gelandet. Einige sind in ihren
Beruf zurückgegangen, haben Ämter in den neuen Institutionen übernommen, andere
sind auf verschiedenen politischen Ebenen aktiv. Einige haben Vereine gegründet,
Projekte aufgebaut, um die Geschichte der Bürgerbewegung, wichtiger
Oppositioneller oder die Geschichte ihrer Stadt zu dokumentieren. Andere sind
nach Osteuropa oder in andere Gefilde gegangen, um soziale Projekte aufzubauen.
Interessant sind die Frauen, die eigentlich eine Affinität zur SED hatten und
jetzt bei kirchlichen Institutionen arbeiten. Oder andere, die bei der Kirche
arbeiteten und sich nach 1989 anderweitig orientierten. Frauen, die den Grünen
oder der SPD nahe standen, sind in andere Parteien gewechselt oder heute
parteilos. Diese Neuorientierungen sind vermutlich nicht nur ein Ergebnis der
neu gewonnenen Freiheit, sondern auch enttäuschter Hoffnungen nach 1989. Die
Maßstäbe der ehemaligen DDR-Oppositionellen sind bei vielen, vor allen bei
denen, die heute mit Politik ihr Brot verdienen, andere geworden, darin gleichen
wir den Grünen. Was vor 1989 als Stärke ausgelegt wurde, soll heute Schwäche
sein. So endet meine Biografie in einem Lexikon über „Opposition und Widerstand
in der SED-Diktatur“ mit der lakonischen Bemerkung, dass ich mich 1991 aus der
aktiven Politik zurückgezogen hätte. Geschrieben wurde sie von einem früheren
Mitglied der „Initiative Frieden und Menschenrechte“, das die Jahre seit dem
Mauerfall in dem Bundestagsbüro eines grünen Abgeordneten verbracht hat.
Zwischen den Zeilen des biografischen Textes ist im Grunde der Vorwurf zu lesen,
dass ich mich nicht im Bündnis 90/Die Grünen engagiert habe, denn ansonsten habe
ich auf dieselbe Weise Politik betrieben wie in den Jahren zuvor. Natürlich sind
einige meiner Aktivitäten nach 1989 heftig kritisiert worden, zum Beispiel der
Besuch des Bundeskanzlers Helmut Kohl in meiner Berliner Wohnung oder meine
Unterstützung der FDP im Berliner Wahlkampf. Aber unpolitisch war beides nicht
und hat auch etwas bewirkt: Noch heute gibt es das bei diesem Treffen initiierte
überparteiliche Bürgerbüro, in dem seit 1996 viele Opfer des SED-Regimes beraten
und juristisch betreut wurden und werden.
Früher waren wir der Meinung, dass es möglich sein muss, Politik auch außerhalb
der Parlamente aktiv mitzugestalten. Das wollten wir ja auch in der DDR. Ich
kann mich nicht erinnern, dass einer von uns vor 1989 den Wunsch hatte, in der
Volkskammer zu sitzen. Wir wollten Politik beeinflussen, wollten, dass die
Betroffenen, die auch immer Sachverständige sind, gehört werden, wollten eine
Gegenmacht von unten aufbauen. Kurz, wir wollten eine gewaltfreie, demokratische
Gesellschaft, in der Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit garantiert sind.
Die Welt ist nach 1989 kleiner geworden. Wir haben mehr Informationen und
wissen, wo und was überall in der Welt Frauen an Friedensarbeit leisten: Sie
beschaffen Medikamente und Nahrung. Sie bauen zerstörte Häuser wieder auf und
suchen nach Vermissten. Sie pflegen und unterrichten verwaiste Kinder oder
halten öffentliche Mahnwachen gegen den Krieg. Mutig und unermüdlich kämpfen
Frauen überall auf der Welt für den Frieden: im Irak, in Aserbeidschan, im
Kosovo, im Sudan, in Russland, in Tschetschenien oder in Afghanistan. Auch
außerhalb von Konfliktgebieten engagieren sich Frauen für eine friedliche
Zukunft. Sie bekämpfen die Genitalverstümmelung von Mädchen und Frauen in Afrika
oder die politischen Willkürsysteme in Südamerika. Sie setzen sich für
Gleichberechtigung und bessere Bildungschancen von Frauen ein. Sie bekämpfen
Zwangsprostitution und Kindesmissbrauch. Die Zahl dieser "Friedensfrauen" ist
groß - aber wer kennt sie? Sie arbeiten im Hintergrund, die Öffentlichkeit lernt
sie kaum kennen und würdigt fast nie die Verdienste ihrer Arbeit.
Ich selbst bin 1996 nach Bosnien gegangen, um bei der Rückkehr von
Kriegsflüchtlingen zu helfen. Heute lebe ich in Kroatien. Gemeinsam mit
Freundinnen habe ich 1999 den kleinen Verein Seestern e.V. gegründet, der
seitdem jährlich vielen Kindern aus dem ehemaligen Jugoslawien einen für ihre
meist mittellosen Familien kostenlosen Sommerferienaufenthalt am Meer
ermöglicht. Die schrecklichen Erfahrungen in Bosnien waren sehr wichtig für
mich. Die zögerliche Politik der europäischen Länder, des Gewaltverzichtes und
des bloßen Zuschauens hat Tausenden das Leben gekostet, weil diese sich nicht
verteidigen konnten. Deshalb glaube ich nicht mehr an eine pazifistische
Politik, wie sie die Grünen propagierten. Zwar kann ich persönlich an
pazifistischen Idealen festhalten, aber notfalls müssen die Menschenrechte auch
mit Waffen verteidigt und zur Geltung gebracht werden. Es ist zynisch, wenn
Menschen in äußerster Not „Sonnenblumen“ vorgehalten werden. Die Diskussion über
die Frage, wie in einer globalisierten Welt der globalisierten Gewalt gewehrt
werden kann, ist eine Herausforderung für alle, die sich einmal in der
Friedensbewegung engagiert haben. Die Grünen haben darauf auch keine Antworten,
sie sind inzwischen eine ganz normale Partei, die sich um der Macht willen am
Pragmatischen und Machbaren orientiert und eine politische Friedensethik mit
einer realistischen Politik nicht miteinander verknüpft. Waffenhandel ist kein
Sakrileg mehr, wenn die Staatskasse gefüllt wird. Keine öffentliche Kritik am
Koalitionspartner, der den kubanischen Diktator Fidel Castro umarmt oder in
Putin einen „lupenreinen Demokraten“ sieht. Petra Kelly würde heute auf noch
mehr Widerstand in der eigenen Partei stoßen, denn sicher würde sie
Bündnis90/Die Grünen noch heftiger als zu ihren Lebzeiten kritisieren. Die
demokratischen Bürgerbewegungen Osteuropas haben zwar die kommunistischen
Diktaturen überwunden, aber zu wenig die politische Kultur Westeuropas bewegt
und verändert. Die Dynamik der Transformationsprozesse hat zuviel Energie
verbraucht, zuviel eigene Ideen vergessen lassen, zuviel Tatkraft gebunden. Eine
an den Menschenrechten orientierte „liebevollere, ehrlichere, freundlichere
Politik“, die ganz auf die Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen
ausgerichtet ist, existiert immer noch nicht.
Doch trotz aller Rückschläge bin ich nicht pessimistisch. Seit 1989 hat sich in
Europa und in vielen außereuropäischen Ländern gezeigt, dass sich auf Dauer die
Zivilgesellschaften nicht durch eine manipulierte Machtpolitik beherrschen
lassen. Die Geschehnisse in Georgien, der Ukraine, im Libanon, in Kirigisien, in
Kuba und China, dass diese Bewegung weitergeht. Vielleicht haben die Frauen in
diesen Prozessen eine besondere Bedeutung. Sie haben nichts zu verlieren, können
aber vieles gewinnen.

Bärbel Bohley und ihr jüngerer
Bruder Ulrich
Als Kinder in den Ruinen von
Berlin-Mitte
Foto: Privat Bärbel Bohley

Bärbel Bohley 12 Jahre alt
1957
Foto: Privat Bärbel Bohley

Bärbel
Bohley als Studentin an der Kunsthochschule Weißensee 1969
Foto: Privat Bärbel Bohley

Bärbel Bohley
nach ihrer Verhaftung 1983 in der
Stasi-U-Haft-Anstalt Berlin-Hohenschönhausen
Foto: BSTU

Bärbel Bohley
als Aktivistin der „Frauen für den Frieden“
Bei einer
Protestaktion für Abrüstung 1983
Foto:
Matthias-Domaschk-Archiv der DDR-Opposition

Foto:
Matthias-Domaschk-Archiv der DDR-Opposition

Foto:
Matthias-Domaschk-Archiv der DDR-Opposition

Foto:
Matthias-Domaschk-Archiv der DDR-Opposition

Bärbel Bohley
und die Grünenpolitikerin Petra Kelly 1991,
im
Hintergrund Gert Bastian.
Foto: Kurtsdotter,
Rückertstraße 4, München, Telefon 089/ 534303 (Copyright-Angaben von 1991)