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Lieber Wolf,
seit Wochen denke ich nun über den verflixten Text nach, den ich zum 25. Jahrestag Deiner Vertreibung aus dem »DDR-Paradies« schreiben soll. An die Zeit Deiner Ausbürgerung kann sich fast jeder erinnern, der damals erwachsen war und in der DDR lebte. Keiner hat sich aus der Diskussion raushalten können, die vielleicht, vom Staatsapparat ungewollt, die einzige öffentliche war, die es in der DDR gegeben hat. Die Zeit drängt, aber ich habe noch immer keinen Text geschrieben. Vielleicht liegt es an der sengenden Hitze hier, die den Kopf gedankenleer brennt oder daran, daß ich Jahrestage negativer Ereignisse hasse, weil an solchen Tagen immer nur deutlich wird, wie wenig die Menschheit lernfähig ist, aber vielleicht glaube ich auch, daß Dir mit der Ausbürgerung das Beste geschehen ist, was einem geschehen konnte, wenn man bei der Stasi auf der Abschußliste stand.
Heute Abend saß ich lange auf unserer Terrasse. Die Zikaden wollten keine Ruhe geben. Die Nacht war schwarz, nur wenige Sterne blitzten in der Finsternis. Dafür lockte um sehr mehr der Mond, der als kleine Apfelsinenscheibe tief über der Insel Brac am Himmel hing. Erst war er silbern und hoch, aber bevor er sich hinter den Hügeln Bracs hinwegschlich, nahm er diese rote Farbe an, die alles vergessen macht und nur noch die Sehnsucht zuläßt. Mit der Sehnsucht kam mir aber auch der Gedanke, daß ich keinen Jahrestagstext schreiben, sondern Dir eine Liebeserklärung machen sollte.
Das wird mir Deine Liebste nicht übelnehmen und Dich nicht eitel machen, weil Du sicher weißt, daß es solche und solche Liebeserklärungen gibt.
Wir kennen uns nun schon etliche Jahre, aber ich kenne Dich länger als Du mich. Das ist auch ganz natürlich, weil Du bereits ein bekannter Liedermacher warst dessen Texte handgeschrieben durch die Berliner Künstlerszene flatterten, als ich 1970 noch an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee Malerei studierte. Nur manchmal hörte ich bei Freunden eine Schallplatte mit Deinen Liedern. Damals wohnte ich in der Luisenstraße, unweit der Chausseestraße, und habe manchmal den kleinen Biermann mit dem großen Tennisschläger auf dem Tennisplatz der Charite gesehen. Es sah ja ganz menschlich aus, wie Du so hin und her flitztest, aber angesprochen hätte ich Dich nie. Damals war ich noch unendlich schüchtern und wußte auch noch nicht, wie sehr man manchmal ein Wort der Ermutigung braucht.
Unsere einseitige Beziehung läpperte sich noch einige Jahre hin. Nach wie vor hörte ich bei Freunden manchmal Deine Lieder, denn selbst besaß ich keine Schallplatte. Wenn Freunde aus dem Westen mich fragten, was sollen wir Dir denn mitbringen, dann wünschte ich mir Kataloge von nie gesehenen Kunstausstellungen. Wir lagen ja auf allen Gebieten auf dem Trockenen und waren von allen Traditionen und dem lebendigen Zeitgeist abgeschnitten.
Dann kam im November 1976 Dein Konzert im Westen! Alle, die ich kannte, haben die Übertragung im Fernsehen gesehen. »Toll! Mann, war der frech. Der Biermann hat es denen aber gegeben!« Jedes Wort stimmte, aber das kann nicht gut gehen. Deine Begeisterung und die des Publikums! Es war so, als wäre man dabeigewesen. Aber weil wir wußten, die Wahrheit lassen die sich nicht sagen, wußten wir, daß sie sich das auch nicht ungestraft gefallen lassen würden.
Ausbürgerung, Diskussionen, Unterschriftensammlungen, Gespräche, Angst, Exmatrikulationen, Festnahmen. Ich war zum Glück isoliert in meinem freiberuflichen Leben nach dem Studium, hatte kaum Kontakte zu anderen Kollegen im Verband Bildender Künstler. Nur deshalb bin ich wahrscheinlich dem Konflikt entkommen.
Aber während dieser Wochen war ich mir unheimlich sicher, daß Du Dich mit Wall raff, der ja gerade von so einer Aktion aus Griechenland zurückgekommen war, an die Weltzeituhr auf dem Alexanderplatz anketten würdest, um noch einmal das Ungeheuerliche der Reaktion des Politbüros auf ein Konzert für die ganze Welt ins Scheinwerferlicht zu rücken. Ich habe lange und heftig gewartet. Dann ging das Leben seinen DDR-Trott weiter, bis ich Robert und Katja 1978 kennenlernte und mehr über Dich erfuhr. So saß ich dann mit Katja auf dem Steg am Möllensee, und wir trauerten um Dich, Jürgen, Lilo - um alle, die in den Westen getrieben worden waren.
Ich werde sicher nicht der erste Mensch sein, der Dir erzählt hat, daß er die »Ermutigung« im Knast gesungen hat. Ja, man war ermutigt, wenn man mit diesem Lied gegen die beängstigende Stille in Hohenschönhausen ansang. Ich fühlte mich aufgehoben in der Gemeinschaft der Häftlinge, obwohl ich nie einen anderen gesehen habe. Und es war ein Erziehungslied, das mein Verhalten gegenüber dem Vernehmer und dem Wachpersonal beeinflußte. Ich wollte nicht »spitz« sein, nicht »abbrechen«. Dort habe ich gelernt schlau zu sein. Ich kämpfte nicht um meine Freiheit, weil ich wußte, ich werde sie nicht bekommen, wenn »die« es nicht wollen. Ich kämpfte nicht für die Wahrheit, weil sie dort gar nicht leben konnte. Alles, was ich wollte, war ein wenig Gelassenheit, um dem ruhig zu begegnen, was ich auf mich zukommen sah: Prozeß, Urteil, Strafvollzug im gefürchteten Frauengefängnis Hoheneck, vielleicht Freikauf und Entlassung in den Westen. Und zu Gelassenheit verhilft einem ein laut gesungenes Lied am meisten. Ich habe dann Glück gehabt und bin ohne Prozeß in die DDR entlassen worden.
Lieber Wolf, sicher ließe sich viel darüber schreiben, welche Auswirkungen Deine Ausbürgerung auf eine ganze Generation und das kulturelle Leben in der DDR hatte. Einiges ist schon geschrieben worden und viele werden es noch beschreiben. Besser und genauer als ich das machen könnte. Da bin ich mir sicher.
Du wirst Dich inzwischen schon fragen, wo bleibt denn nun die Liebeserklärung. Also, die werde ich Dir jetzt machen, und sie hat mit 1989 zu tun.
Ich liebe Dich, weil Du zwar eine spitze Zunge hast, aber ein weiches Herz. Ich liebe Dich, weil Du nicht einmal Deine Feinde hassen kannst. Ich liebe Dich, weil Du den größten Arschlöchern und Verbrechern noch ein friedliches Ende wünschst. Ich liebe Dich, weil Dir Rache fremd ist.
In der Liebe muß man zwar nichts erklären, aber ich möchte es dennoch tun, gerade weil viele Leute das Gegenteil von Dir behaupten.
Du kannst Dich vielleicht erinnern, daß wir zwei im Herbst 89 etliche Tage vor der Demo auf dem Alexanderplatz miteinander öffentlich im Deutschlandfunk telefoniert haben. Wir haben ein wenig die Situation analysiert und unsere Hoffnungen formuliert. Und Du warst wie 1976, wieder so schön frech und spitz. Ich habe Dich dann im Namen des NEUEN FORUM zu der Demonstration am 4. November nach Berlin eingeladen und gehofft, nicht Gysi und Markus Wolf würden singen, sondern Du. Aber unser Ansinnen wurde abschlägig entschieden. Du solltest nicht kommen. Am 27.10. '89 erschien im »Neuen Deutschland« ein Artikel zu dieser Einladung, zu dem ich einen Leserbrief schrieb, der aber nie im »Neuen Deutschland« abgedruckt wurde. Hiermit reiche ich ihn verspätet nach.
»Eine Auskunft über Biermann
Ich wurde gefragt: Welches Recht hat Frau Bohley, so etwas in die DDR einzuladen ? (ND 27.10.1989, S. 2) Ich habe Wolf Biermann eingeladen, weil er das Recht hat, daß das Unrecht von 1976 wieder gutgemacht wird. Der damalige Beschluß des Politbüros wird heute, wie ich hörte, als Fehler angesehen. Und Fehler müssen zugegeben werden, wenn die >Wende< glaubwürdig sein soll. Biermann ist ein Dichter und kein Politiker, und seine Sprache ist entstanden aus seinen Erfahrungen. Ich verstehe wahrscheinlich seine Sprache deshalb so gut, weil ich auch schlechte Erfahrungen in unserem Land gemacht habe.
Wenn Biermann Änderungen bei uns miterleben könnte, würde sich vielleicht auch seine Sprache ändern. Er hat 1980 ein Gedicht geschrieben, aus dem ich eine Strophe zitiere:

Wenn die Zeit mal nicht mehr
Bloß auf rotem Papier steht
Wenn es eines wirklich schönen
Tages drüben besser geht
- du, dann wirds mir hier im Westen
Sehr gemischt und elend gehen
Wie so viele, die von drüben
Kamen, werd ich alt aussehn
- alt und froh. Ich werde stammeln:
Das, wofür ich dort gestritten
jetzt wirds Wahrheit? Ja, ich habe
All das nicht umsonst gelitten
Meine Leute sind das, die da
Jetzt in Leipzig und in Dresden
Ungeniert die Wahrheit sagen
Und das sind auch meine alten
Treuen Feinde, die jetzt zittern
-denen geht es an den Kragen!


Wären nicht die >alten treuen Feinde< verpflichtet, Biermann einzuladen, um ihn zu überzeugen, daß sie seine >neuen Freunde< sind?«

Trotzdem haben sie Dich nicht in den Osten gelassen, der alles andere als revolutionsgeschütteit war, sondern eher nach etwas zuviel Weihrauch stank. Du warst doch nach Berlin gekommen und standest vergebens am Bahnhof Friedrichstraße. Während der Demonstration sprach ich mit Christa und Gerhard Wolf, denn Christa Wolf gehörte zu den Rednerinnen auf dem Alexanderplatz. Ich bat sie zu erwähnen, daß Du dort auf der anderen Seite wartetest... Sie lehnte das ab und antwortete, daß Du selbst für die Ablehnung des Einreiseantrages verantwortlich bist, denn Du hättest Dich in dem Gespräch im Deutschlandfunk zu provokant geäußert.
Das war die Stunde, in der ich wieder mit beiden Beinen auf der Erde landete - es sollte keine große Wende geben, sondern nur eine etwas professioneller geschminkte DDR, in der für einen Wolf Biermann, Jürgen Fuchs und viele andere auch kein Platz vorgesehen war. Markus Wolf, Modrow, Gysi und Genossen wollten an diesem 4. November keinen unbestechlichen Zeugen dabei haben, denn sie wollten an diesem Tag mit schönen Worten dem Volk Sand ins Auge streuen, um später ungehindert den Laden übernehmen zu können. Das ist ihnen auf dem kurzen Weg- einmal um den Fernsehturm herum - mißlungen, denn Markus Wolf erntete für seine Worte ein Pfeifkonzert, das ihm die Hände zittern ließ. Aber jetzt befinden sie sich auf dem langen Marsch durch die »kapitalistischen« Instanzen, und wenn ich an die Entwicklung in den letzten zehn Jahren und besonders an die jüngsten Ereignisse in Berlin denke, haben sie die besten Aussichten ihren bereits eroberten Platz an den Fleischtöpfen der Macht auszubauen. Unterstützt werden sie dabei gegenwärtig von ebenfalls machtgeilen SPD-Politikern, die diese unverbesserlichen Gangster, Demagogen und Schönfärber im neuen Gewand brauchen, um die Koordinaten des politischen Systems in Deutschland neu zu bestimmen.
An jenem vierten November haben wir ein paar tausend Kopien des Gedichtes verteilt, das Du Ende Oktober für uns, Deine Freunde im Osten, geschrieben hattest. In diesem Gedicht lautet eine Strophe:

Habt keine Angst, ihr Herren da oben
Auch ihr dürft wieder Menschen sein
Wir drehen den Spieß nicht um und schlagen
Euch nicht die falschen Fressen ein
Laßt uns gemeinsam Wege suchen

Es geht nur so und anders nicht
Wir wollen Gerechtigkeit und keine Rache
Wir zerren Euch vor kein Weltgericht

Wir atmen wieder auf, wir weinen und lachen
Die faule Traurigkeit raus aus der Brust Mensch!
Wir sind starker als Ratten und Drachen
- und hatten's vergessen und immer gewusst


Wenn ich heute, nach zwölf Jahren, diese Gedichte noch einmal lese, dann weiß ich, daß ich Dich zu Recht liebe. Sie haben Dich bespitzelt, Deine Lieder verboten, Dich ausgebürgert, Dir Deine Lebensadern abgeschnitten und den Humus für Deine Arbeit entzogen, Dich von den Freunden getrennt, sie mit Berufsverboten oder Haft verfolgt, Dich in die Verzweiflung getrieben, Dir noch im Westen die Stasi auf den Hals gehetzt, um die im Osten begonnene Zersetzungsstrategie zu Ende zu führen. Sie haben alles getan, um Dich zum Verstummen zu bringen. Aber nicht nur das. Ein ganzes Volk haben sie in die totale Unmündigkeit geführt, aus der es sich bis jetzt nicht vollständig befreien konnte. Doch das ganze Ausmaß der Verbrechen des vierzig Jahre dauernden DDR-Experimentes lag im Herbst 1989 noch im Dunkeln. Wir ahnten viel, aber wir wollten einen Schlußstrich unter die Vergangenheit ziehen. Damals hast Du in Leipzig die Ballade von den verdorbenen Greisen gesungen, in der es heißt:

Wir wollen Dich nicht ins Verderben stürzen
Du bist schon verdorben genug
Nicht Rache, nein Rente
Im Wandlitzer Ghetto
Und Friede Deinem letzten Atemzug
Wolf, in diesen Worten liegt auch der Wunsch nach Versöhnung, aber der kam zu früh. Deine und unsere Wünsche waren fromme Wünsche, denn, wenn die Lagerleitung und das Aufsichtpersonal über 17 Millionen Schafe nicht gestorben sind, so ist es heute noch genau so seelenlos und verbrecherisch wie eh und je. Das Angebot auf Versöhnung hat die Wölfe nicht zu Schafen werden lassen. Viele von ihnen leben heute in prächtigen Häusern und haben die Hütten im Wandlitzer Ghetto schon längst abgeschrieben. Ihre Rente beträgt heute wesentlich mehr als die ihrer Opfer und die bekommen sie nun auch noch in »Devisen«, für deren widerrechtlicher Besitz zu DDR-Zeiten der Knast winkte. Sie haben sich ein paar Jahre abgeduckt und dem inneren Schweinehund die Schnauze zugehalten. Jetzt aber sind sie wieder da und bellen um so lauter. Sie drängen wieder in alle Lebensbereiche, Wirtschaft, Kultur, Politik, in alle Institutionen, sogar in die Regierung. Im Berliner Wahlprogramm der PDS kannst Du lesen, was geplant ist: »aus der rosaroten Gegenwart in die rote Zukunft.« Die Restauration ist in vollem Gang.
Lieber Wolf, ich hasse die negativen Gedenktage, weil sie in der Regel mit einem deprimierenden Rückblick enden. In den letzten 25 Jahren ist viel geschehen. Die Deutsche Demokratische Republik ist zur Hölle geschickt worden. Aber auch viele Hoffnungen haben sich zerschlagen. Wir haben einen Schritt ins Freie getan, aber die Gerechtigkeit läßt noch auf sich warten. Auch Deine Vertreibung aus der verstacheldrahteten DDR hat für Dich ein gutes Ende gefunden und Du bist, wie Du selbst sagst, nach vielen inneren Widerständen und persönlichen Katastrophen in einer freien Gesellschaft angekommen, um ein Weltenkind zu werden. Aber die Ratten sind inzwischen auch da, sie pfeifen wieder. Die Vergangenheit wirft einen langen Schatten auf die Gegenwart. Wie weit wird er in die Zukunft reichen? Obwohl Du das selbst alles sehr gut weißt, singst Du weiter Deine Lieder. Dafür liebe ich Dich am meisten.


Bärbel Bohley, geboren 1945 in Berlin. 1963 Abitur, in verschiedenen Berufen gearbeitet, 1969-1974 Studium der Malerei, geheiratet, geschieden, ein Sohn. Mitbegründerin von »Frauen für den Frieden«, »Initiative Frieden und Menschenrechte«, dem »Neuen Forum«. Nach dem Mauerfall außerparlamentarisch politisch tätig. 1996-1999 beim Hohen Repräsentanten der UNO in Bosnien tätig. Bärbel Bohley lebt und arbeitet teils in Kroatien, teils in Deutschland.
 

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