Interviews
ZDF - 03.
Februar 2005
Politik & Zeitgeschehen
Ein erstes Klopfen an die Tür der
Schläfer
Plädoyer für mehr Bereitschaft zu
Veränderung
Deutschland braucht nach der politischen
Revolution von 1989 jetzt eine mentale Revolution, fordert Bärbel
Bohley. "Die Welt ist nicht mehr wie vor dem Kalten Krieg." Aber die
neue Situation habe ihren Preis: Mehr Freiheit, mehr
Selbstverantwortung, mehr Grenzenlosigkeit, mehr Risiken. Nach Ansicht
der Bürgerrechtlerin sind die Hartz-Reformen ein Schritt in die richtige
Richtung.
Bärbel Bohley:
Wer Visionen hat, soll ja laut Altbundeskanzler Schmidt zum Arzt gehen.
Wenn ich mich meinen Phantasien überlasse, sieht die Zukunft oft so
schwarz aus, dass mir wahrscheinlich ein Arzt kaum helfen könnte.
ZDF:
Warum diese Schwarzseherei? Eigentlich hat sich eine Vision schon
1989/1990 erfüllt, wurde doch mehr möglich, als wir uns in Ost und West
vorstellen konnten. Deutschland ist ein demokratisches Land in einem
friedlich verbundenen Europa geworden. Die noch bestehenden Probleme am
Rande des Kontinents, in Nordirland oder in Süd- und Osteuropa, machen
fast vergessen, welche Gefahren die Teilung Europas in sich barg und wie
schlecht die Aussichten auf einen Wandel zum Guten waren.
Bärbel Bohley:
Die Chancen des Neuen
Aber, so legen es meine Erfahrungen und die Beobachtung der Gegenwart
nahe, die Deutschen haben weithin die Chancen des Neuen noch nicht
begriffen. Die Wiedervereinigung war eine Chance, Veränderungen in
beiden Teilen Deutschlands in Gang zu setzen. Der hoffnungsvolle
Aufbruch und der Wille zur Veränderung der Gesellschaft im Osten nach
jahrelang auferlegter Stagnation und erzwungener Passivität sind
versandet.
Serie Vision Deutschland
Deutschland ist ein Land im Umbruch. Dass es ohne Reformen nicht geht,
ist zwischenzeitlich fast jedem klar. Doch nichts hat so viele Menschen
auf die Straße getrieben wie die Arbeitsmarktreform Hartz IV. Wie wird
sich die Nation durch die Hartz-IV-Reform verändern? Wird sie
Deutschland spalten, oder ist Hartz IV der einzig richtige Weg in die
Zukunft? Lesen Sie hier, was prominente Experten, Politiker,
Kirchenvertreter, Wirtschaftsfachleute und Künstler zum Thema "Hartz IV"
meinen.
Nun erscheinen 40 triste Jahre "Sozialstaat
DDR" im nostalgischen Glanz. Vergessen sind die eintönige
Grundverpflegung, die Pflicht zur ungeliebten und zugeteilten Arbeit,
die Minimalrenten und niedrigen Löhne, die durch Umleitung verordneten
Studienplätze, die mühselig ergatterten Zelturlaube am verschmutzten
Ostseestrand, die Intensivhaltung in Einheitswohnblöcken und die
niedrigen Preise in den Verkehrsmitteln mit begrenzter Reichweite.
Kein Umdenken eingesetzt
Aber auch im Westen hat kein Umdenken eingesetzt. Dort war man offenbar
vor 1989 für die sozialen Entwicklungen blind. Unter Sozialstaat wurde
die Subventionierung von Arbeitsunwilligen oder von Aussteigern
verstanden und als soziale Leistung das Anwachsen einer Armee von
Sozialhilfeempfänger gepriesen. Die Versorgungsmentalität in Ost und
West ist die gleiche, nur die Erwartungen an den Staat sind im Westen
auf einem höheren Niveau.
Diese Art von Versorgungsmentalität habe ich
nicht auf den Straßen in New York oder in Sarajewo erlebt. Dafür eine
andere Art von Solidarität. Vielleicht ist diese das Ergebnis des
plötzlichen Sturzes aus einem tiefen Schlaf in einen heißen Krieg wie in
Sarajewo oder die Reaktion auf die bittere Erfahrung, dass der Mensch
sich zuerst einmal selbst helfen muss wie in New York.
Situation hat ihren Preis
Beides möge uns erspart bleiben, aber aus unserem Schlaf müssen wir
aufwachen. Die Welt ist nicht mehr wie vor dem Kalten Krieg. Gott sei
Dank! Aber die neue Situation hat ihren Preis. Mehr Freiheit, mehr
Selbstverantwortung, mehr Grenzenlosigkeit, mehr Risiken.
In Deutschland fehlen nach der politischen
von 1989 eine mentale Revolution, das bürgerschaftliche Engagement und
das zivilgesellschaftliche Selbstbewusstsein. Die Vorteile und
Möglichkeiten der Freiheit werden verschlafen. Darum geht meine Hoffnung
für die nächsten Jahre dahin, dass sich in Deutschland Einsicht in die
Realität einstellt.
Soziale Verantwortung
Die Welt ist nicht mehr wie vor dem Kalten Krieg. Gott sei Dank! Aber
die neue Situation hat ihren Preis. Mehr Freiheit, mehr
Selbstverantwortung, mehr Grenzenlosigkeit, mehr Risiken.
Die Hartz-Reformen sind sicherlich ein
Schritt in die richtige Richtung. Ein erstes Klopfen an die Tür der
Schläfer. Das freilich bedeutet nicht, dass wir unsere soziale
Verantwortung preisgeben.
Ich habe die Befürchtung, dass bei unserer
deutschen Gründlichkeit die ersten, die in der bitteren Realität landen,
gerade jene sind, die wirklich Hilfe brauchen. Und dass diese Menschen
zu einem Spielball der Politik werden, um die Veränderungen
hinauszuschieben, die im Zeitalter der Globalisierung notwendig sind.
Blindlings gestrichen
Es kann nicht darum gehen, dass die Blinden ihre Blindenhunde
finanzieren müssen, dass die chronisch Kranken für ihre Medikamente
selbst aufkommen müssen, dass in den Altersheimen das Pflegepersonal
blindlings gestrichen wird.
Unser solidarischer Blick auf die Welt, auf
unsere Mitmenschen, auf unsere Nachbarn muss mit dem kritischen Blick
auf uns selbst und mit unserer Bereitschaft zu Veränderungen verbunden
bleiben. Mich erinnert die Situation an 1989. Wir müssen uns selbst
befreien, um befreit zu werden aus unserem tiefen Schlaf, von unseren
falschen Hoffnungen, unseren überzogenen Erwartungen. Wir müssen erfüllt
sein von Ungeduld und dem Verlangen nach einem Leben in der Realität,
einer Neugier auf sie, dem Glauben und dem Wunsch, dass wir ihre
Herausforderungen bewältigen.
"Einen schönen ebenen Weg"
Wir müssen uns selbst befreien, um befreit zu werden aus unserem tiefen
Schlaf, von unseren falschen Hoffnungen, unseren überzogenen
Erwartungen. Wir müssen erfüllt sein von Ungeduld und dem Verlangen nach
einem Leben in der Realität, einer Neugier auf sie, dem Glauben und dem
Wunsch, dass wir ihre Herausforderungen bewältigen.
Diesen Weg zu finden ist unsere größte
Herausforderung, denn zu Hause fühlen sich viele Menschen nicht. Die
Politik wird dieses "zu Hause" nicht für uns schaffen, denn sie ist
selbst entwurzelt und muss ihre Aufgaben neu definieren. Nein, wir
müssen diesen Weg allein finden, das wird mit und ohne Hartz-Reformen
nicht leicht sein, weil er mit der Veränderung unseres eigenen
Verhaltens zu tun hat.