Interview
Leipziger Volkszeitung - 04.
Dezember 2005
Interview: Thomas Mayer
"Leipziger mutiger als Berliner"
Omis/Leipzig. Bärbel Bohley, Protagonistin
der friedlichen Revolution vor 16 Jahren, lebt heute meist in Omis,
Kroatien, und ab und an in Berlin. Zum morgigen Jahrestag der Besetzung
der Leipziger Stasizentrale durch die Bürgerrechtler stellt sie als
Co-Autorin das Buch "Mut - Frauen in der DDR" vor.
Frage: Was geht Ihnen an so einem für
Leipzig historischen Tag durch den Kopf?
Bärbel Bohley: Man muss erinnern, was war.
Es ist Normalität eingezogen.
Normalität?
Sagen wir: Vergessen. Dieses kurze
Gedächtnis der Gesellschaft halte ich für fatal. Die Leipziger waren
übrigens viel mutiger als die Berliner. Darauf können die Leipziger
stolz sein.
Auch auf ihren Mut?
Ich denke schon. Obwohl es heute schwer ist
zu vermitteln, wie viel Mut schon dazu gehörte, auch mit kleinen Dingen
gegen die Allmacht des Staates anzukämpfen. Die damit erreichten
Freiräume machten ja überhaupt das Leben in der DDR erst erträglich.
Ohne sie war man quasi tot, geistig oder auch wahrhaftig.
Kleine Dinge, woran denken Sie?
Jeder wusste zum Beispiel, welche Folgen es
haben konnte, einen politischen Witz zu erzählen, und trotzdem sind sie
ständig erzählt worden.
Stichwort mutige Frauen in der DDR ...
... Ob wir besonders mutig waren, weiß ich
nicht. Wir waren aber auf keinen Fall besonders feige. Schon 1982
gründeten Frauen die erste unabhängige Frauengruppe. Mit dem Buch wollen
wir zeigen, dass Frauen wie Katja Havemann viel auf die Beine stellten.
So wurde das Neue Forum 1989 in ihrem Haus in Grünheide gegründet.
Was war die schönste Zeit in Ihrem Leben?
Dieser kurze, intensive Herbst. So eine
Aufbruchstimmung erlebt man nur einmal. Es war Kraft dabei, machte
Freude, zu sich selbst zu stehen, den Mund aufzumachen und dafür zu
sorgen, dass sich ein Staat verflüchtigte.
Doch das Volk ist vergesslich ...
...Leider. Man könnte in der Tat viel
stolzer auf sein Leben schauen, wenn man nicht immer nur das sieht, was
man verloren, sondern das, was man gewonnen hat. Damit meine ich nicht
die materiellen Dinge, sondern die Erfahrung, gemeinsam stark zu sein.
In den 90-er Jahren wurden Sie nicht
müde, gegen Ex-Stasispitzel in der Politik zu argumentieren. Heute
interessiert das kaum noch. Warum?
Wenn man das einfach so hinnimmt, ist das
für die ganze Gesellschaft ein schlechtes Omen. Da geht noch immer ein
Riss durch sie, aber nicht so sehr zwischen Ost und West, sondern
zwischen denen, die profitiert haben von der DDR, und denen, die nicht
profitiert haben. Und der ganze Westen schaut mit relativem
Unverständnis zu und hat gar nichts kapiert.
Sie sind frustriert?
Nein, außerdem war ich mal politisch so
wach, dass ich sehr früh mitbekam, wo die Nazis geblieben waren. Die
hatten sich ja auch nicht in Luft aufgelöst.
Sie leben meist in Kroatien. Wie sieht heute
Ihre politische Einmischung aus?
Ich bin Weltbürgerin geworden.
Interview: Thomas Mayer
4.12.205, 19 Uhr, Museum in der "Runden Ecke, Leipzig, Dittrichring 24,
Lesung & Diskussion u.a. mit Bärbel Bohley.