ddp Deutscher Depeschendienst- 05. September 2009
DDR-Bürger beenden ihr Schweigen -
Gründung des Neuen Forums am 10. September 1989 bringt die Wende in
Gang
-- Von Joachim Widmann --
Berlin (ddp). Am 10. September 1989 wurde
das Ende der DDR besiegelt. Bis dahin war unterdrückt worden oder
hatte gehen müssen, wer nicht schweigend beim Sozialismus mitmachen
wollte. Bis zu diesem Tag hatten die schweigenden Mitmacher ihren
Unmut über die eingeschränkten Freiheiten, die geistige Enge und die
gravierenden wirtschaftlichen und ökologischen Probleme im Lande
höchstens im Kreise Vertrauter ausgetauscht. Offiziell konnte daher
Harmonie behauptet werden, wofür die Macht die Menschen mit
kleinbürgerlichem Wohlstand und sozialer Sicherheit belohnte.
Am 10. September 1989 wurde diese stille
Übereinkunft, die jahrzehntelang stabilisierend gewirkt hatte, der
Sozialistischen Einheitspartei SED und den mit ihr im
sozialistischen Block verbündeten Parteien anscheinend bürgerlicher
Prägung wie CDU und LDPD (Liberaldemokraten) von 30 Bürgern
schriftlich gekündigt: "Wir bilden eine politische Plattform für die
ganze DDR, die es Menschen aus allen Berufen, Lebenskreisen,
Parteien und Gruppen möglich macht, sich an der Diskussion und
Bearbeitung lebenswichtiger Gesellschaftsprobleme in diesem Land zu
beteiligen. Für eine solche übergreifende Initiative wählen wir den
Namen NEUES FORUM."
Die 30 DDR-Bürger aus allen Regionen und
Gesellschaftsschichten hatten sich am 9. September auf dem
Grundstück der Witwe des Bürgerrechtlers Robert Havemann in
Grünheide bei Berlin versammelt. Katja Havemann, selbst in der
Friedens- und Menschenrechtsbewegung aktiv, war neben der
oppositionellen Malerin Bärbel Bohley und dem ehemaligen
SED-Funktionär Rolf Henrich, dessen Buch "Der vormundschaftliche
Staat" nur im Westen hatte erscheinen können, Initiatorin des Neuen
Forums. "Es gab so viele Probleme; in vielen sozialistischen Staaten
bewegte sich etwas - es war klar, dass etwas geschehen musste",
erinnert sich die 61-Jährige.
Die Fluchtbewegungen dieses Sommers etwa
über die neuerdings offene Grenze Ungarns zu Österreich hatten die
DDR stark geschwächt. Havemanns Tochter Franziska hatte gerade eine
Ausbildung zur Pharmazeutin begonnen - "Tatsächlich musste sie im
Altersheim aushelfen, weil die Pfleger alle in den Westen gegangen
waren", erinnert sich Katja Havemann. "Solche Geschichten hörte man
aus allen Richtungen." In den DDR-Medien und für die Politik waren
diese Lücken in der ohnehin schwachen Infrastruktur kein Thema. Die
Massenflucht begleiteten sie mit Häme und Diffamierungen, während
die Gebliebenen um gegangene Freunde und Verwandte trauerten und am
eigenen Bleiben zweifelten.
Für Bärbel Bohley stand es um die seit
Beginn der 80er Jahre langsam gewachsene oppositionelle
Bürgerbewegung kaum besser. "Die einzelnen Gruppen hatten sich unter
dem Dach der evangelischen Kirche versammelt. Das wirkte zunehmend
erdrückend", erinnert sie sich. Die "Kirche im Sozialismus" gewährte
einerseits Frei- und Schutzräume. Andererseits sorgte sie in engem
Kontakt mit dem Regime auch subtil mit dafür, dass die Bürgergruppen
eingehegt blieben, wenig Bekanntheit erlangten, so weit sie in
West-Medien nicht erwähnt wurden, und sich kaum vernetzten.
Bärbel Bohley hatte im August 1988 aus
einem erzwungenen West-Exil zurückkehren können - "als Einzige
derer, die zuvor hinausgedrängt worden waren". Ob die SED hoffte,
ihrer auf diese Weise besser Herr werden zu können? Bohley weiß es
nicht. Sie hatte sich in Westeuropa und der Bundesrepublik mit
zahlreichen Politikern getroffen und für ihre Sache geworben, wozu
auch ihre Forderung gehörte, in die DDR zurückzukehren: "Ich sagte,
zur Not klettere ich am Brandenburger Tor über die Mauer." Nun war
sie also ohne eine solche spektakuläre Aktion wieder da und
entschlossen, sich an ihre Auflagen nicht zu halten, nicht wieder
politisch aktiv zu werden. Doch strebte sie eine neue Qualität an:
"Die Idee, außerhalb der Kirchenräume und der Gruppen wirklich jeden
anzusprechen, der will, hatte ich schon."
Die meisten der 30 Erstunterzeichner des
Forum-Gründungsaufrufs "Aufbruch '89" hatten einander zuvor nicht
gekannt. Den Initiatoren war klar, dass ihre monatelangen
Bemühungen, möglichst viele Personen zu versammeln - darunter
Menschen, die bisher nicht in der Opposition aktiv gewesen waren -,
dem "Schild und Schwert" der SED, der allgegenwärtigen
Staatssicherheit, nicht verborgen bleiben konnten.
Schon zu Lebzeiten Robert Havemanns hatte
die Stasi das Nachbargrundstück in der Grünheider Burgwallstraße
besetzt, um den "Staatsfeind" lückenlos beobachten zu können. Am 9.
und 10. September 1989 dokumentierten Stasileute von dort aus jede
Bewegung auf dem großen Havemannschen Seegrundstück. "Das war uns
bewusst, aber wir kümmerten uns nicht darum", erinnert sich Katja
Havemann. Die Gründung war nämlich weder geheim noch ungesetzlich.
Im Aufruf hieß es: "Wir berufen uns auf das in Art. 29 der
Verfassung der DDR geregelte Grundrecht, durch gemeinsames Handeln
in einer Vereinigung unser politisches Interesse zu verwirklichen.
Wir werden die Gründung der Vereinigung bei den zuständigen Organen
der DDR entsprechend der VO vom 6. 11. 1975 über die 'Gründung und
Tätigkeit von Vereinigungen' (GB1I, Nr. 44, S. 723) anmelden."
Die SED und ihre Stasi teilten überdies mit
der neuen Bürgerbewegung eine Einschätzung: "Wir sahen nicht
entfernt voraus, welche Dynamik das Neue Forum entwickeln würde",
sagt Katja Havemann.
Der Gründungsaufruf enthielt keine
politische Zielvorgabe. Bohley: "Darüber gab es kaum Diskussionen in
Grünheide. Nur dass auch das Wort Sozialismus nicht vorkam, wurde
debattiert. Am Ende blieb es dabei - wir wollten weder
opportunistisch sein, noch irgendwen ausschließen."
Es war, als hätte die DDR genau darauf
gewartet. Zehntausende unterschrieben den Aufruf binnen weniger
Wochen. Rund 200 000 Unterstützer zählte Bärbel Bohley, in deren
Berliner Wohnung viele Fäden zusammenliefen. Der gesellschaftliche
Diskurs kam in Gang, allenthalben trafen sich DDR-Bürger im Rahmen
des Neuen Forums zum Austausch von Meinungen und Informationen,
protestierten und demonstrierten, bestimmten ihre politische Agenda
selbst. Aus zuvor vereinzelten Protestaktionen formierte sich eine
Bewegung. Die Staatsmacht war praktisch neutralisiert, und das
Prinzip Dialog bestimmte die Wende in der DDR. "Ich glaube, dass sie
vor allem wegen des Neuen Forums gewaltlos blieb", sagt Bärbel
Bohley.
Vor der ersten demokratischen und zugleich
letzten Parlamentswahl der DDR im Frühjahr 1990 war das Neue Forum
die größte politische Gruppierung nach der SED, die sich inzwischen
PDS nannte. Alle übrigen Parteien hatten Paten im Westen gefunden
und wandelten sich atemberaubend schnell über alle ideologischen
Grenzen des eben aufgelösten "sozialistischen Blocks" hinweg zu
deren Ablegern. Das Neue Forum ging mit anderen Bürgerbewegungen -
Bohley: "Die waren winzig" - das Bündnis90 ein. Bei der Wahl spielte
dies mit knapp drei Prozent der Stimmen kaum eine Rolle. "Das
Bündnis war vielleicht unser größter Fehler", resümiert Bohley - das
weithin bekannte Neue Forum tauchte auf dem Wahlzettel nicht auf.
Zu den bleibenden Erfolgen des Neuen Forums
zählt Bärbel Bohley seinen starken Einfluss darauf, dass die
Staatssicherheit nicht einfach still abgewickelt wurde, woran
seinerzeit auch die Bundesregierung Interesse zeigte, sondern ihre
Hinterlassenschaft für Bürger, Medien und Forschung bis heute
zugänglich blieb. "Dass wir keine Partei waren und keine sein
wollten und niemandem Vorschriften machten, war die Voraussetzung
dafür, dass das Neue Forum für so viele Menschen interessant war",
ist sich Katja Havemann sicher, auch wenn das Forum an der daraus
folgenden Machtlosigkeit langsam zerbrach. Wichtige Akteure
wanderten in Parteien ab, die Bürgerbewegung verschwand mangels
Strukturen und Vision.
Bohley und Havemann halten sich heute
weitgehend aus der Politik heraus. Angesichts verbreiteter
Politik-Unlust, Globalisierung, weltweiter Finanzkrise und
ökologischer Probleme, die zu lösen sind, halten sie den
Gründungsaufruf auch nach zwanzig Jahren - noch oder wieder -
allerdings für hochaktuell: "In unserem Lande ist die Kommunikation
zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestört. Belege dafür
sind die weitverbreitete Verdrossenheit bis hin zum Rückzug in die
private Nische. Wir bilden deshalb gemeinsam eine politische
Plattform, die es Menschen aus allen Berufen, Lebenskreisen,
Parteien und Gruppen möglich macht, sich an der Diskussion und
Bearbeitung lebenswichtiger Gesellschaftsprobleme in diesem Land zu
beteiligen. Allen Bestrebungen, denen das NEUE FORUM Ausdruck und
Stimme verleihen will, liegt der Wunsch nach Gerechtigkeit, Frieden
und Demokratie sowie Schutz und Bewahrung der Natur zugrunde. Es ist
dieser Impuls, den wir bei der kommenden Umgestaltung der
Gesellschaft in allen Bereichen lebensvoll erfüllt wissen wollen."
Quellen: Bärbel Bohley und Katja
Havemann im ddp-Interview;
Gründungsaufruf des Neuen Forums auf der Website des Hauses der
Geschichte:
http://www.hdg.de/lemo/html/dokumente/DieDeutscheEinheit
_aufrufNeuesF orum/index.html)
Neuerscheinung zum Thema: Irena Kukutz,
"Chronik der Bürgerbewegung NEUES FORUM", BasisDruck, Berlin, 373
Seiten, 19,18 €)
ddp/wid/hoe