Berliner Zeitung 05./06.09.2009

Ich spiele doch nicht den Mauerfall nach!

Bärbel Bohley steht für die friedliche Revolution in der DDR - den 9. November verbringt sie diesmal aber lieber in Taiwan als am Brandenburger Tor. Ein Gespräch

Renate Oschlies
 

Auf dem Tisch in ihrer Wohnung in Prenzlauer Berg stehen frische Blumen. Die Sonne scheint ins Zimmer, aber die Fenster sind geschlossen. Bärbel Bohley vermeidet den Blick nach draußen. Gegenüber wird seit Monaten ein Supermarkt saniert, die Nachbarhäuser sind eingerüstet, genau vor dem Wohnzimmerfenster wurde eine mobile Toilette für die Bauarbeiter aufgestellt. Rund um die Uhr Staub und Lärm, das macht den Abschied wohl noch ein wenig leichter. Nach 40 Jahren will Bärbel Bohley ihre Parterre-Wohnung im Prenzlauer Berg aufgeben und an den Stadtrand ziehen.

Frau Bohley, Sie sind seit gut einem Jahr zurück in Deutschland, um Ihre Krebserkrankung behandeln zu lassen. Nun wollen Sie weg von Prenzlauer Berg, fühlen Sie sich hier nicht mehr zu Hause?

Das ist ja hier nicht mehr mein Kiez. Das ist ja für mich eine ganz neue Gegend inzwischen. Die Mieter haben hier nach den Sanierungen fast komplett gewechselt. Hier ist jetzt Party-Szene-Kinder-Areal. Und in den Bio- und Wohnambiente-Läden trifft sich die neue Schickeria. Da staunt man schon, wenn einem die Neubesiedler die Geschichte des Prenzlauer Bergs erklären und dabei selten wissen, noch nicht einmal ahnen, dass das vor noch nicht einmal einer Generation ein Bezirk war, in dem vor allem Arbeiterfamilien und Rentner gelebt haben.

Sie haben in den vergangenen Jahren Hilfsprojekte in Bosnien geleitet, Ihre Krankheit zwingt Sie nun, sich zu schonen. Fällt Ihnen das schwer?

Über meine Krankheit will ich eigentlich nicht sprechen, das ist meine Privatsache. Aber eine solche Krankheit ist natürlich etwas, das einen auf sich selbst zurückwirft, das ist ganz klar. Insofern ist das schon eine Zeit, in der man etwas besinnlicher, reflektierter, ruhiger ist - etwas mehr am Rand, aber nicht im Abseits.

Wir feiern in diesem Jahr den 20. Jahrestag des Mauerfalls. Haben Sie schon eine Einladung zur zentralen Veranstaltung im November?

Ja, von Herrn Wowereit. Mit Regieanweisung. Ich soll da einen Mauerbrocken umkippen. Ist wohl symbolisch gemeint.

Werden Sie das tun?

Ich spiele doch nicht für Herrn Wowereit Mauerfall!

Was haben Sie am 9. November vor?

Da bin ich in Taiwan. Eine Bürgerrechtsgruppe hat mich eingeladen - wir tauschen unsere Erfahrungen aus, das erscheint mir sinnvoller als die Show hier. Die haben übrigens da auch ein Segment der Berliner Mauer, das in einem Museum eingeweiht wird.

Sie können verstehen, dass manche, schon bevor es soweit ist, genug haben vom Mauerfall-Jubiläum?

Sicher. Klar ist doch, dass danach erstmal wieder für zwanzig Jahre Ruhe ist, weil das dann keiner mehr hören kann. Dabei ist es wichtig, über das Thema Mauerfall und die Folgen weiter nachzudenken. Und nächstes Jahr kommt dann gleich das nächste Jubiläum, die Wiedervereinigung. Das erinnert mich an die Kampagnen in der DDR - gelebt wurde von Jahrestag zu Jahrestag, und die Inhalte wurden kleingeschrieben.

Wo stehen die Deutschen 20 Jahre nach dem Fall der Mauer?

Links und rechts der nicht mehr vorhandenen Mauer.

Heißt das, sie sind ein noch nicht vereintes Volk?

Diese Vereinigung wird uns noch sehr lange beschäftigen. Die Westdeutschen haben viel früher als wir die Freiheit kennengelernt, konnten sich engagieren, eine Ausbildung nach Wunsch, Reisen machen, sich einen Lebensstandard schaffen. Darauf sind manche im Osten neidisch. Wir haben dafür dieses wunderbare Erlebnis 1989. Viele Leute im Osten spüren, dass sie die Freiheit, die jene im Westen länger hatten, nicht nachholen können - selbst wenn sie heute mit grauen Haaren auf Mallorca rumhängen. Das haben die Westdeutschen in ihrer Jugend gemacht. Und die Menschen im Westen können nicht mitreden, wie es ist, eine Diktatur selbst abzuschütteln. Das trennt die Deutschen, noch lange.

Wie haben sich die Ostdeutschen seit der Wende geschlagen?

Ich glaube, ganz gut. Es ist ihnen aber auch leicht gemacht worden im Gegensatz etwa zu den Polen oder Bulgaren. Die Kassen waren gut gefüllt. Trotzdem ist ihnen nach der Wiedervereinigung sehr viel Anpassung abverlangt worden. Das fing bei belanglosen Kleinigkeiten an - ich erinnere mich, wie irritiert ich war, als ich den Hörer meines Telefons abhob und ein völlig anderes Rufzeichen ertönte - bis hin zu den großen Veränderungen. Fast alle Ostdeutschen mussten ihr Leben völlig neu sortieren und ausrichten. Wem dies nicht gelang, der blieb auf der Strecke, der ist an den Rand gedrängt worden.

Ist diese Anpassungsleistung etwas, worauf Ostdeutsche stolz sein können?

Zumindest sind sie jetzt trainiert. Das kommt ihnen in der heutigen Krise zugute. Den Leuten im Osten gelingt es besser, sich den veränderten Verhältnissen anzupassen als denen, die vor allem im Westen sozialisiert wurden. Dort galt über Jahrzehnte das Motto: Höher, größer, weiter, schöner, besser. Sich einzuschränken, ist ihnen lange nicht abverlangt worden. Bei uns galt dieses Motto auch, aber wir wussten, es war ein Motto. In Wirklichkeit ging alles bergab, und man hat trotzdem die Hoffnung nicht aufgegeben, die Sonne am Horizont aufgehen zu sehen.

Und jetzt stecken wir alle zusammen in einer großen Finanz- und Wirtschaftskrise.

Ich fühle mich da ein bisschen wie so eine Hexe, deren düstere Prophezeiungen jetzt irgendwie eingetroffen sind. Schon vor 1989 war ich der Meinung, dass es so nicht weitergehen kann, dass man die Natur, die Gesellschaft ausbeutet, ausbeutet, ausbeutet. So ist ja mit unglaublicher Vehemenz all die Jahre weitergewirtschaftet worden. Natürlich mit Effekt, aber ebenso verschwenderisch. Mir war immer klar: Das wird sich rächen. Es war offensichtlich, dass es für Umwelt und Gesellschaft besser wäre, viele Dinge zu unerlassen. Wachstumsgesellschaft, das ist für mich, so wie wir heute leben, obszön.

Was stört Sie an Wachstum?

Die Gigantonomie, die Rücksichtslosigkeit, die Kurzsichtigkeit, mit denen es betrieben wird. Kein Innehalten, Besinnen auf vielleicht ganz andere Werte. Politik und Wirtschaft scheinen nichts zu lernen aus der Krise. Jetzt werden funktionstüchtige Autos abgewrackt, und diese Schnäppchen-Gesellschaft macht mit. Ich hasse so was richtig.

Warum hat eigentlich kaum jemand diese krisenhafte Entwicklung vorhergesehen?

Ich frage mich auch, wie weit man selbst daran beteiligt ist, dass die Auswüchse dieses Systems so lange übersehen und kleingeredet wurden. Am Kapitalismus haben wir ja gleich nach der Wiedervereinigung erst mal kaum etwas kritisiert, weil man immer auch Angst hatte, von den falschen Leuten - wie denen von der PDS - vereinnahmt zu werden. Wenn die von sozialer Gerechtigkeit sprachen, vom Schutz der Umwelt oder gar Frieden-schaffen-ohne-Waffen, ist einem doch schlecht geworden. Gerade haben sie ein Land zugrunde gerichtet, und schon stehen die Demagogen wieder auf der Matte. Von der anderen Seite wurde auch jede Kritik abgewürgt, indem man die Kritiker als PDS-Sympathisanten abstempelte. Deshalb hat man geschwiegen.

Wen halten Sie für fähig, Wege aus der Krise zu finden?

Ich sehe weit und breit keinen, der einen Ausweg aus der Misere hat. Die beste Nase für den richtigen Weg haben noch unabhängige Gruppen und einzelne Menschen, die nicht in Parteien eingebunden sind. Bei ihrer Arbeit, ihrem Einsatz spürt man, dass sie sich mehr Sorgen um die Menschen und um unsere Zukunfts- und die Gegenwartsprobleme machen als um Machterhalt.

Dem Staat, den Parteien in Deutschland trauen Sie das nicht zu?

Das sieht man doch. Das Parteiensystem ist versteinert nach innen und außen. Die Parteien fesseln die Politiker mit eiserner Disziplin, denen wiederum geht es oft nur darum, an der Macht zu bleiben. Die überkommenen Rituale von Anpassung und Disziplin in so einer Gruppe versperren jeden neuen Weg, und jeder neue Gedanke wird erst einmal als Bedrohung empfunden.

Ihr Vertrauen in die Parteien scheint allgemein nicht besonders groß zu sein.

Obszön und bigott, diese Mischung stößt ab. Man findet sie bei allen Parteien. Fast jeden Tag kann man beobachten, wie die Parteien mit ihren eigenen Leuten umgehen. Zum Beispiel die CDU mit Dieter Althaus in Thüringen. So, wie mich meine Krankheit übermannt hat, hat ihn sein Schicksal überrannt. Da muss man erst einmal irgendwie alleine durch. Und wer jemanden kennt, der ein Gehirntrauma hat, der weiß, dass man danach nicht einfach ein paar Monate später wieder als Ministerpräsident agieren kann. Noch dazu, wenn man Schuld trägt am Tod eines anderen Menschen. Dass sie Althaus ins Rennen geschickt haben, weil sie selbst nicht stark genug sind, diesen Posten auszufüllen - dahinter steckt mehr Egoismus seiner Parteileute als Solidarität.

Wenn Sie sagen, die Hoffnung liege jetzt auf dem Engagement, den Ideen unabhängiger Gruppen - wünschen Sie sich einen zivilen Aufbruch, ähnlich wie 1989?

Wir sehen doch, dass auf der ganzen Welt nach neuen Formen des Zusammenlebens gesucht wird und nach Wegen, sich politisch einzubringen und zu gestalten. Das ist nicht nur in Deutschland zu beobachten. Manager, die alles verzockt haben und deren Firmen jetzt vom Staat gefördert werden, verlangen Boni. Der normale Bürger fragt sich: Was ist das? Ganz ungerecht. Man versteht, dass die Ungarn da vor ihr Parlament marschieren und die Isländer angesichts ihres bankrott gemachten Landes sagen: Unsere Regierung muss weg. In Griechenland und Frankreich gibt es immer wieder Unruhen. Dahinter steckt doch der Wunsch nach Gerechtigkeit, die Sehnsucht nach einer gerechteren Welt.

Angesichts der global vernetzten Wirtschaft klingt das nach David gegen Goliath.

Klingt doch gut, muss man nur vom Ende her denken. Die sich für gerechtere Strukturen einsetzen, haben ja inzwischen auch begonnen, sich zu vernetzen. Zum Beispiel im Streit um Wasser, um das die nächsten Kriege geführt werden könnten. Da gibt es etwa Beziehungen zwischen Nordafrika und Südamerika. Menschen kämpfen für den freien Zugang zu Wasser. Sie wollen, dass Wasser nicht als Lebensmittel vermarktet und gehandelt wird. Diese Vernetzungen gehen teilweise an Europa vorbei. Und wenn auch viele meinen, die weltweiten Zukunftsfragen müssen von Europa aus gelöst werden, bin ich davon überzeugt, die wirkliche Initiative wird von den armen Ländern kommen. Sie werden uns in den Hintern treten.

Regierungschefs wie Hugo Chavez in Venezuela oder Evo Morales in Bolivien glauben, mit ihrer Politik eine Bewegung für Gerechtigkeit anzustoßen ...

Da wohnen zwei Seelen in meiner Brust. Ich glaube nicht, dass sie die gegenwärtigen Probleme oder die der Zukunft lösen; aber die, die vorher auf ihren Stühlen gesessen haben, haben sie auch nicht gelöst. Die Privatisierung von Bodenschätzen und die Ausbeutung durch die reichen Industrieländer haben ja gerade in Lateinamerika Tradition. Die neuen Regierungen sind demokratisch legitimiert. Und wenn die Ärmsten der Armen sagen, wir leben jetzt besser, dann ist dies eine Aussage, über die man nachdenken muss, finde ich. Dann kann man sie nicht einfach als Spinner abtun. Obwohl ihre Demagogie einem natürlich sehr vertraut vorkommt und wenig Vertrauen weckt. Wenn sie erst einmal an der Macht sind, kämpfen sie vor allem darum, dranzubleiben.

Sie haben in der DDR Bespitzelung erlebt und auf dem Balkan gesehen, dass sich ethnische Gruppen gegenseitig umbrachten, die zuvor friedlich zusammenlebten. Was haben Sie in all den Jahren über die Menschen gelernt?

Wer mit offenen Augen durchs Leben geht, weiß, dass die Menschen zu allem fähig sind - wenn sie nicht ihre Grenzen haben, keine positive Orientierung an ihrer Tradition oder ihrer Religion, wenn es keine stabile Zivilgesellschaft gibt.

Wie stabilisiert man die Zivilgesellschaft?

Indem man den einzelnen stärkt. Wenn du ihm Mut machst, sich einzumischen - davon bin ich hundertprozentig überzeugt - wird er sich einmischen. Aber die Zivilgesellschaft ist so anfällig wie der einzelne Mensch. Sie ist dauernd in Gefahr, im Morast der Unterdrückung und der Anpassung zu versinken. Besonders gefährdet ist sie da, wo Machtstrukturen im Geheimen aufgebaut werden, die nicht mehr transparent sind, nicht durchschaubar. Wo Menschen bespitzelt werden. Damit fängt in der modernen Gesellschaft die Entsolidarisierung und Unterdrückung des Einzelnen an.

Sehen Sie denn die Demokratie hierzulande in Gefahr?

Man muss sich nur die zahlreichen Einschränkungen der Bürgerrechte ansehen zur angeblichen Terrorprävention - von Lauschangriff bis Telefonüberwachung. In der DDR wurden Menschen überwacht, um angeblich das System vor Feinden des Sozialismus zu schützen. Heute will der Staat das Land vor Terroristen, die Wirtschaft ihr System angeblich vor Korruption schützen. Lidl, die Bahn, die Telekom, die Post bespitzeln ihre Leute. Wer weiß, wer noch alles seine Mitarbeiter überwacht - eine gefährliche Entwicklung.

Sie sprechen von Bürgerrechten, von gerechten Strukturen. Mit diesen Themen mobilisierten die Bürgerbewegungen 1989 die Ostdeutschen. Heute punktet die Linkspartei damit. Hat sie den Bürgerrechtlern das Erbe abgejagt?

Das ist für mich Gerede von gestern. Ich laste diesen Leuten das, was jetzt ist, zwanzig Jahre nach dem Ende der DDR nicht mehr an. Zwanzig Jahre sind eine lange Zeit für eine Demokratie, und wenn diese Demokratie es zugelassen hat, dass sich die SED durch ständige Metamorphose so etablieren konnte, ist das vielleicht schmerzhaft für viele; aber heute muss die Gesellschaft das akzeptieren. Wofür sind diese SED-PDS-Linken heute noch verantwortlich, wofür nicht alle anderen mitverantwortlich wären? Sie sind Mitspieler im politischen System und spielen genauso schlecht wie alle anderen.

Das klingt versöhnlich.

Es waren ja nicht alle kleine Teufel in dieser SED. Wir wussten doch auch damals schon, dass es Menschen mit ganz unterschiedlichen Vorstellungen in dieser Partei gab, und manche sehr unglücklich dort waren. Aber es gibt in der Linkspartei heute auch Leute, die es in der Nachwendezeit wunderbar geschafft haben, Boden unter die Füße zu kriegen, Einfluss zu gewinnen und sich wieder zu bereichern.

Linkspartei ist also nicht Linkspartei? Es gibt den unscheinbaren Genossen auf der einen und den Schurken auf der anderen Seite?

Diese Linkspartei ist keine homogene Partei. Leute wie Gysi und Modrow stehen für Demagogie und Unterdrückung in der DDR. Aber es gibt auch viele andere - wie den kleinen Parteigenossen aus einer Chemiefabrik in Bitterfeld, der nach 1989 glaubte, sich jetzt einbringen zu können, damit vielleicht endlich mal was für die Ökologie getan wird in seinem Umfeld. Das sind ja nicht alle Modrows in dieser Partei. Die alten unverbesserlichen Funktionäre sind nach zwanzig Jahren ein Auslaufmodell.

Woher nimmt die Linkspartei ihren wachsenden Zuspruch?

Aus der Unglaubwürdigkeit der anderen Parteien. Die ist so enorm groß, davon profitiert die PDS. Wo findest du denn noch eine Partei, die es wagt, von Gerechtigkeit zu sprechen? Die findest du nicht. Die SPD verbreitet nur Sprechblasen, wie wir wissen. Ich würde diese mehrfach gewendeten Linken nicht wählen, aber sie sind da und werden ihre Wähler finden. Und dafür, dass sie ihre Wähler finden, sind alle anderen mitverantwortlich, die diese Themen nicht aufgegriffen haben.

Warum sind Sie Mitte der Neunzigerjahre auf den Balkan gegangen?

1996 war mir klar, dass ich hier nicht mehr viel, eigentlich gar nichts bewirken konnte. Es sei denn, ich wäre in eine Partei gegangen, hätte mich diesem Druck gebeugt. Als Einzelkämpferin oder Bürgerrechtlerin hatte ich null Chancen, hier etwas auszurichten. Ich hätte mich nur noch als Aufkleber verkaufen können für irgendwelche Festivitäten. Da habe ich einfach von meiner Freiheit Gebrauch gemacht, zu leben, wo ich wollte, wo es sinnvoll für mich war. Für diese Freiheit hatten wir uns ja schließlich 1989 eingesetzt. Ich hatte ja nicht die Absicht, Bundeskanzlerin zu werden. Ich habe einfach einen anderen Raum - den Balkan - betreten.

Wieso gerade den Balkan?

Rupert Neudeck von der Hilfsorganisation Cap Anamur sprach mich an. Cap Anamur hatte dort Hilfsprojekte, für die sie Mitarbeiter suchten. Ich habe in der Zeit auf dem Balkan sehr, sehr viel gelernt. Ich habe mich selbst infragestellen müssen - zum Beispiel meinen Pazifismus. Ich habe nicht nur andere Kulturen und Traditionen kennengelernt, sondern auch erlebt, wie kleinkariert, hilflos und korrumpierbar internationale Aufbauhilfen oft sind.

Was war die schönste Zeit in Ihrem Leben?

Man hat ja verschiedene schöne Zeiten im Leben. Aber am schönsten war der Herbst '89. Dass dies alles überhaupt möglich war! Ich war ja schon immer hundertprozentig davon überzeugt, dass die Menschen größer sind als das, was man von ihnen sieht. Dass man ihnen viel mehr zutrauen kann. Die Menschen trugen so im Stillen viele Vorstellungen davon in sich, wie die Welt sein müsste. Die hatten so viele Ideale, Träume und Lust, sich einzubringen. Und sie hatten so lange einfach keine Möglichkeit gesehen, das zu leben. Sehr viele wussten, was falsch läuft, und jeder hatte Ideen, was zu tun ist. Die Arbeiter wussten, wo in ihrem Betrieb die Macken sind, und was man ändern müsste. Das alles brach im Herbst '89 so aus den Leuten heraus.

In diesem Jahr erscheinen dutzende Bücher über diese Zeit.

Ja, andere schreiben jetzt dicke Bücher über die Revolution. Aber es war nicht die Revolution von ein paar Bürgerrechtlern. Das war ja das Schöne daran, dass wir mit einem Mal nicht mehr alleine waren, dass plötzlich so viele mitmachten. Ich kann eigentlich nur von meiner Revolte sprechen, die durch den Herbst '89 tatsächlich zu so etwas wie unserer Revolution wurde. Damals habe ich das einfach überwältigende Glück kennengelernt, Menschen zu finden, die mit mir für eine Weile am selben Strang gezogen haben. Menschen, die ähnlich dachten, handelten und ähnliche Ziele hatten. Erst waren wir wenige, dann aber schlossen sich so viele an, dass daraus wirklich so etwas wie unsere Revolution wurde.

Wie prägend war für Sie die DDR-Zeit?

Mir ist aufgefallen, dass für die, die im Osten aufgewachsen sind, diese Zeit ungeheuer prägend war - selbst wenn sie dann in den Westen gegangen sind. Diese Zeit hat so viel mit uns gemacht - im Guten wie im Schlechten, auch wenn uns das manchmal gar nicht bewusst ist.

Was meinen Sie?

Wir sind so aufgewachsen, dass da immer irgendjemand war, der in unser Leben eingegriffen hat, uns unsere Möglichkeiten versaut hat. Machten wir in der Schule eine Fete mit Beatles-Musik, hieß es gleich, das ist staatsfeindlich. Dein Haarschnitt, deine Brille, alles wurde kontrolliert und bewertet. Irgendwie war man immer jemand, der aneckte. Dabei träumten wir nur davon, diese Gesellschaft so zu verändern, dass wir darin unseren Platz finden konnten. Ich beschäftigte mich mit vielen Dingen - und die hatten alle mit Freiheit zu tun und mit Bildung. Beides war beschnitten, du konntest nicht die Bücher kaufen, die du wolltest. Und über Freiheit hat kaum jemand laut nachgedacht, weil allein der Gebrauch des Wortes Freiheit einen schon in eine staatsfeindliche Ecke trieb. Aber alle wollten frei sein.

Das sind die Menschen ja jetzt. Schätzen sie ihre Freiheit denn?

Ja, jetzt sind alle irgendwie frei. Aber zu wenige nutzen die Freiheit. Zu viele lassen sich mit ganz anderen Sachen beschäftigen, mit so blöden - wie Schnäppchenmachen. Oder sich Lippen und Busen aufpolstern und den Hintern absaugen zu lassen, um irgendeinem Schönheitsideal zu entsprechen. Was hat das mit menschlicher Schönheit zu tun? Oder sie bedienen ihr Sicherheitsbedürfnis. Noch eine Versicherung hierfür und eine dafür. Und dann stellt sich während so einer Finanzkrise heraus: alles Humbug. Kannste alles vergessen. Es gibt keine Sicherheit im Leben. Also können wir doch eigentlich auch mutiger sein und frecher!

Mutiger und frecher - um was zu tun?

Mutiger und frecher in unseren Vorstellungen, politischen Forderungen und Verweigerungen. Die Menschen haben in den letzten Jahren so viel geschluckt. Es ging vielen sicher nicht anders als mir. Man war oft sprachlos. Schröder erklärte uns zum Beispiel Putin als lupenreinen Demokraten. Der Deutsche Bundestag stand auf und klatschte Beifall. Inzwischen ist vielen wohl klar geworden, welcher Ente sie da aufgesessen sind. Oder dieser Wahlkampf jetzt - jeder schiebt jedem die Schuld für gemachte Fehler zu, nur er selbst will keine Verantwortung übernehmen. Keine Gruppe in Deutschland, nicht mal die der Finanzer, hat sich in den letzten Jahren in Deutschland so diskreditiert wie die politische Klasse. Die haben doch den gesetzlichen Rahmen für die Finanzgeschäftler geschaffen. Und jetzt führen die Politiker wieder einen Wahlkampf, als hätten sie mit all dem nichts zu tun.

Was also wünschen Sie sich?

Ich wünsche mir, dass die Menschen sich wieder auf andere Maßstäbe besinnen, dass sie sehen, dass dieser Planet Zukunft zu bieten hat und nicht nur abgewrackte Systeme. Ich hoffe, dass die Menschen dafür jetzt wieder mehr Sinn bekommen.

Sie sind ja Optimistin, obwohl Ihnen lange das Image der Ost-Jammer-Suse anhaftete.

Ja, irgendwie bin ich das wohl. Stimmt eigentlich: Ich bin Optimistin.