Interviews

Mitteldeutsche Zeitung - 06.11.2009


Sturzgeburt zur Einheit


Bärbel Bohley sprach mit der MZ über ihre Gefühle zwanzig Jahre nach dem Mauerfall



Bärbel Bohley 2006 in der «Runde Ecke» in Leipzig, wo zu DDR-Zeiten die Stasi residierte. (FOTO: ARCHIV)


Halle/MZ.: Bärbel Bohley gehörte zu den bekanntesten Bürgerrechtlern der DDR. Nach einigen Jahren in Kroatien lebt sie nun wieder in Berlin. Dort sprach Harald Biskup mit ihr. Frau Bohley, mit welchen Gefühlen blicken Sie aus 20 Jahren Abstand auf den 9. November?

Bohley: Ein wunderbarer Tag, natürlich, weil ein System nach 40 Jahren zu Fall gebracht wurde. Es passierte zwar, was wir uns alle ersehnt hatten, aber es kam aber auf gewisse Weise auch unpassend. Wir hatten uns noch nicht richtig strukturiert und organisiert. Deswegen waren wir auch anfällig für alles, was von jenseits der Mauer zu uns und über uns kam.

Wie haben Sie die "Nacht der Nächte" erlebt?

Bohley: Mir war sofort an dem Abend klar, dass damit die DDR aufgehört hatte zu existieren. Deshalb habe ich mir einen Cognac genommen und bin, was mir damals viele übel genommen haben, ins Bett gegangen. Ich kannte den Westen, weil ich 1988 je drei Monate in der Bundesrepublik und in England gewesen war. Deshalb hat die Neugierde mich in dem Moment nicht über die Mauer getrieben. Ich war erleichtert, aber ich hatte nicht das Bedürfnis mitzulaufen.

Sie wollten nicht in den kollektiven Jubel einstimmen.

Bohley: Ich bin überhaupt nicht so eine kollektive Jublerin. Das ist mir natürlich auch durch die ganzen Jubelfeiern in der DDR versaut worden, und ich bin sowieso nicht so ein Feier- und Massenmensch. Zwei Tage später bin ich am Potsdamer Platz über die Mauerteile gekrochen und habe die Menschen beobachtet. Sie hatten alle Plastiktüten in der Hand, und das war für mich das Zeichen: Jetzt hat das Materielle bei uns Einzug gehalten. Das Begrüßungsgeld habe ich nie abgeholt, weil ich das irgendwie entwürdigend fand.

Woran liegt es, dass die Einigkeit der Bürgerrechtler nicht lange angehalten hat - weil das gemeinsame Feindbild fehlte?

Bohley: Wir hatten keine Strukturen. Fast niemand hatte Telefon, wir waren nicht vernetzt und hatten wenig Unterstützung. Und die Bonner Politiker verhandelten viel lieber mit jemandem wie de Maiziere als mit der Bürgerbewegung. Das war ihnen alles viel zu diffus. Ein Bratsche spielender Vertreter der alten Block-CDU war doch der ideale Verhandlungspartner.

Ist der Anteil der Bürgerrechtler am Mauerfall im Bewusstsein der Deutschen genügend verankert?

Bohley: Nein, und das finde ich wirklich sehr enttäuschend. Für uns war das kein Spaziergang, auch wenn sich der Unterdrückungsapparat abgeschliffen hatte. Den Mauerfall kann sich kein Politiker auf seine Fahnen schreiben.

Was ist vor allem schief gelaufen beim Vereinigungsprozess?

Bohley: Es war eine Sturzgeburt, man hätte den Prozess verlangsamen müssen, wenn man die Menschen aus dem Osten wirklich hätte mitnehmen wollen. Die Privatisierung durch die Treuhand ist ja gelaufen wie auf einem Basar. Warum konnten die Leute in der früheren DDR z.B. nicht ihre Wohnungen und Häuser kaufen? Wo steht denn, dass die Wiedervereinigung nur stattfinden konnte, wenn die Bevölkerung möglichst schnell enteignet und entmündigt wird? Ich frage mich heute manchmal, was passiert wäre, wenn die Wiedervereinigung in die Zeit einer Wirtschaftskrise wie jetzt gefallen wäre. Vielleicht hätte das einem gestalteten Prozess gut getan. So haben wir die Freiheit, das Land gemeinsam unter die Lupe zu nehmen und zu gestalten, nicht genutzt.

Gibt es etwas, an das sie trotz allem mit einer gewissen Wehmut denken in der verflossenen DDR?

Bohley: Wir haben dem System einfach das Leben entgegengesetzt und das hat Spaß gemacht, zum Beispiel wenn ich mit Freunden chinesisch gekocht habe und es gab keine Soja-Soße. Dann wurde die eben zusammengemixt aus Zuckerrübensirup und Maggi. Bei alldem, was schlimm gewesen ist in der DDR, erinnere ich mich doch, dass es diese großen sozialen Unterschiede nicht gegeben hat. Selbst wenn man die Leute an der Spitze seines Betriebes vielleicht verachtete, man hatte keine Angst vor ihnen und ist vor dem Werksdirektor nicht in die Knie gegangen. Angst hatte man vor der Stasi. Die Gleichheit hat schon irgendwie eine Rolle gespielt. Deshalb ist vielleicht 1989 auch alles so friedfertig gewesen. Niemand wollte jemand anderem etwas wegnehmen. Es gab ja auch nichts zum Wegnehmen.

Hätte es sich gelohnt, außer dem grünen Pfeil und dem Sandmännchen mehr rüberzuretten ins vereinte Deutschland?

Bohley: Es geht gar nicht ums Rüberretten. Ich weiß nicht wie man das nennen soll: Ich meine dieses solidarische Lebensgefühl, das es ja nicht nur in verklärten Darstellungen gibt, sondern tatsächlich existierte, übrigens nicht nur wegen der Mangelwirtschaft. Auch mein Leben wäre ohne solidarische Unterstützung so nicht möglich gewesen.

Gehört zur positiven Bilanz der Umgang mit der Stasi-Vergangenheit?

Bohley: Ja, das haben wir Bürgerrechtler erkämpft, und künftige Diktatoren müssen nun zittern, dass auch ihre Verbrechen aktenkundig und verfolgt werden. Das ist ein Sieg der Bürgerbewegung. Wenn wir diese Akten nicht behalten und geöffnet hätten, könnte man heute in Ost und West behaupten, es war doch alles halb so schlimm.

Wie lange hat es gedauert, bis sie im Westen angekommen sind?

Bohley: Ich weiß gar nicht, ob ich das wollte. Ich habe darüber nie nachgedacht. Ich habe nie versucht, in einem System anzukommen. Ich wollte in keinem System ankommen, sondern da, wo man Mensch sein kann.

Was empfinden Sie bei dem Gedenk-Marathon aus Anlass des 9. November?

Bohley: Den finde ich ganz schrecklich. Das ist ja alles nur ein Event. Ich habe eine Einladung von Herrn Wowereit bekommen, aber da gehe ich nicht hin, solange er mit der Linkspartei regiert. Deren Vorgänger haben damals die Mauer hingestellt, und jetzt soll ich mit ihnen feiern, dass sie nicht mehr da ist?

Quelle: Mitteldeutsche Zeitung v. 06.11.2009